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Massen, Mörder, Märtyrer

Zur Sozialpsychologie von Selbstmordattentaten

von Lorenz Graitl

Der israelische Psychologe Ariel Merari definiert einen Selbstmordanschlag als »absichtsvolle Selbsttötung mit dem Zweck andere zu töten, im Dienste eines politischen oder ideologischen Ziels.«[1] Verschiedenste Kriegsparteien haben schon zu diesem Mittel gegriffen, seien es japanische »Kamikaze«-Flieger[2] im Zweiten Weltkrieg, der Vietkong[3] im Vietnamkrieg, die Hisbollah[4] im Libanon, die Tamil Tigers[5] auf Sri Lanka, die palästinensische Hamas oder der irakische »Widerstand«. Von 1981 bis heute wurden mehr als 1.200 solcher Anschläge in 29 Ländern verübt. Allerdings ist nicht immer leicht auszumachen, ob der eigene Tod dabei auch wirklich beabsichtigt wurde.

Daß jemand sich selbst durch eine Explosion tötet und viele Menschen mit in den Tod reißt, ist eigentlich unbegreifbar. Als Ursache gelten häufig Depression und Verzweiflung. Aufgrund von Armut und Unterdrückung, so eine häufig zu lesende These, hätten junge Männer und Frauen in der Westbank oder in Irak keine Lebensperspektive mehr, und ihnen bliebe nur die Flucht in den Tod. Andere Erklärungsversuche sehen in den Attentätern schlichtweg Geistesgestörte, die blindwütig und ziellos handeln. Das »suicide bombing« wird als verrückt, irrational und amoralisch – also außerhalb von gesellschaftlichen Normen und Werten stehend – gesehen. Für die Psychoanalytikerin Joan Lachkar leiden die Selbstmordbomber an einer dem Borderline-Syndrom ähnlichen Psychose, die durch »islamische Kindererziehung« ausgelöst werde. Sie lebten in einer Art »autistischen Welt« und könnten sich nur durch extreme Gewalt auf ihre Umgebung beziehen.[6]

Mord am Selbst

All diesen Versuchen, das Phänomen zu verstehen, ist gemeinsam, daß die Anschläge als Suizid gesehen werden. Nur: Sind Selbstmordanschläge überhaupt Selbstmorde? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst notwendig, Hintergründe und Motivation der Selbstmorde zu klären. Laut Émile Durkheim gibt es »nicht einen Selbstmord, sondern Selbstmorde [...]. (D)ie Ursachen, die ihn bestimmen, sind nicht in allen Fällen gleich: sie sind gelegentlich sogar diametral gegenübergesetzt.«[7]

Durkheim unterscheidet verschiedene soziale Typen des Selbstmords, wobei der egoistische und der altruistische Suizid die wichtigsten Formen sind. Mit dem egoistischen Suizid wird das bezeichnet, was alltagssprachlich als Selbstmord gilt: Flucht aus einer untragbaren Situation, Depression und Verzweiflung. Sich selbst zu töten, wird in »westlichen« Gesellschaften üblicherweise moralisch abgelehnt, da es als Mißachtung des Werts des Lebens und des Individuums gilt. Im Mittelalter wurden Selbstmörder exkommuniziert, sie durften nicht in heiliger Erde begraben werden, und ihre Leichen wurden zur öffentlichen Abschreckung ausgestellt. Auch nach der Säkularisierung blieb das Suizidverbot in fast allen Staaten bestehen, was sich erst im 20. Jahrhundert änderte. Dennoch bricht der Akt des Selbstmords, »der einst ein Verbrechen war, weil er das Recht über Leben und Tod, das allein dem Souverän (dem irdischen oder dem jenseitigen) zustand, an sich riß«[8], ein gesellschaftliches Tabu.

Im Gegensatz dazu stellt der altruistische Suizid die gesellschaftlich anerkannte Selbsttötung dar. Bei diesem Typus wird der Tod von der Gesellschaft gewünscht oder explizit gefordert. Durkheim unterscheidet drei Formen dieses Typs: obligatorischer (man muß sich töten), fakultativer (man kann/ sollte sich töten) und überspitzter (man darf sich töten). Beispiele sind Seppuku, der rituelle Selbstmord eines Adeligen in Japan, Sati, die »treue Ehefrau« in Indien, die sich nach dem Tode ihres Mannes selbst verbrennt oder dazu gezwungen wird, sowie der Brahmane, der sich für seinen Gott zu Tode hungert. Warum sind diese Formen der Selbsttötung nun anerkannt? Liegt es daran, daß in nicht-westlichen Gesellschaften einem Menschenleben ein geringerer Wert zugemessen wird? Liegt dem egoistischen und dem altruistischen Suizid die gleiche Motivation zugrunde, wie Durkheim glaubte?

Auch wenn die Vorstellung weit verbreitet ist, trifft es nicht zu, daß in »nicht-westlichen« Ländern das Leben weniger wert sei. Im Islam gilt das Leben – ähnlich wie im Christentum – als ein Geschenk Gottes. Deshalb hat ein Mensch auch nicht das Recht, sich selbst zu töten. Selbstmord gilt als Sünde, die mit Höllenqualen bestraft wird. Der Suizid gilt so sehr als Schande, daß in einigen islamischen Ländern die Selbstmordstatistiken auf eine niedrigere Zahl gefälscht wurden. Wie kann es dann sein, daß islamisch-fundamentalistische Gruppen Anschläge verüben, in denen der eigene Tod nicht nur eine Möglichkeit, sondern das eigentliche Ziel des Unternehmens ist?

Stolz auf Unterwerfung

Selbstmordanschläge sind für islamistische Gruppen deshalb erlaubt, weil sie nicht als Selbstmord gesehen werden, sondern als Märtyrertod. Eine »Märtyreroperation« wird scharf von einem Suizid aus Verzweiflung abgegrenzt: »Das ist kein Selbstmord. Selbstmord ist egoistisch, zeigt geistige Schwäche. Das ist istishad (Märtyrertum oder Selbstopfer für Allah)«, so ein Gefangener einer islamistischen Gruppe, der in einem israelischen Gefängnis interviewt wurde.[9] Aus diesem Grund reagieren Anhänger dieser Gruppen auch erbost auf die Bezeichnung »suicide bombing« oder »Selbstmordanschlag«. Im Gegensatz zu Selbstmördern begehen die »Märtyrer« keine Sünde, sie werden quasi zu Heiligen. Sich aus Verzweiflung oder egoistischen Gründen zu töten, ist streng verboten, auch bei einem Selbstmordanschlag.

Wie eine solch rigide Abgrenzung von Märtyreroperationen von verschiedenen Selbsttötungen funktioniert, hat Maurice Halbwachs – ein Schüler von Émile Durkheim – schon in seinem 1930 erschienen Werk »Les causes du suicide« gezeigt.[10] Er kritisierte Durkheims Einteilung in egoistischen und altruistischen Suizid, die als solche letztlich die gleichen Ursachen hätten, und unterschied deshalb in »Opfer« und »Selbstmord«, die in ihren Beweggründen und ihrer Wahrnehmung grundverschieden seien.

Ein Märtyrertod wird von der Gesellschaft ganz anders wahrgenommen als ein Suizid. Ein Selbstmörder rebelliert gegen die herrschende Moral. Er oder sie richtet sich gegen die Welt der Lebenden und zeigt sich gegenüber ihren Interessen gleichgültig – oder will sogar Rache an ihnen üben. Seine/ ihre Familie reagiert im Normalfall schockiert, man spricht nicht gerne über den Selbstmord in den eigenen Reihen und möchte die Verantwortung dafür nicht übernehmen.

Völlig gegenteilig ist der Umgang mit »Märtyrern«. Erfährt eine Familie in Sri Lanka oder in den palästinensischen Gebieten, daß sich ihre Tochter oder ihr Sohn bei einem Selbstmordanschlag in die Luft gesprengt hat, so wird von ihr erwartet, nicht Trauer, sondern Freude und Stolz zu zeigen. Ein Märtyrer wird nicht versteckt, sondern öffentlich bewundert und gelobt. Wäre die Aufgabe des eigenen Lebens gleichgültig, müßte man ihr keine besondere Aufmerksamkeit schenken. Ein Opfer ist aber nur dann ein Opfer, wenn der Verzicht auf das Geopferte möglichst groß ist. Die »Hingabe« des eigenen Lebens gilt als das höchste Opfer. Mag das Selbstopfer auch irrational erscheinen – es wird nur erbracht, wenn es als sinnvoll gilt. Es muß jemanden geben, der den/ die Märtyrer überlebt und der von seinem »Geschenk« profitiert. Dies ist meist die nationale und/ oder religiöse Gemeinschaft. Sie zollt dem Opfer des »Einzelnen, der sich der Gruppe total unterwirft« (Halbwachs) durch posthume Verehrung Respekt.[11]

Beförderung ins Jenseits

Zwar benützen sowohl Hamas als auch die Tamil Tigers in ihren internationalen Veröffentlichungen den Ausdruck »martyr« (das englische Wort für Märtyrer), dennoch ist damit etwas anderes als die christliche Märtyrervorstellung gemeint. Das Wort Märtyrer leitet sich aus dem griechischen »martys« ab und bedeutet ursprünglich (Blut-)Zeuge. Im Frühchristentum wurde man zum Blutzeugen, wenn man demutsvoll und hingebungsvoll für seinen Glauben starb. Dabei leistete der/ die Gemarterte seinen heidnischen Peinigern nicht den geringsten Widerstand. Deshalb wird in diesem Zusammenhang auch von defensivem Märtyrertum[12] gesprochen.

Gegenstück hierzu ist das offensive Märtyrertum, welches den aktiven, gewalttätigen Kampf gegen die Ungläubigen oder die Feinde[13] beinhaltet. Ein solcher militanter Märtyrer ist zum Beispiel der islamische Shahid (arabisch für »Märtyrer«, »Zeuge«). Dieser Begriff wird nicht nur von islamistischen Gruppen wie Hisbollah, Hamas und dem islamischen Dschihad verwendet, sondern auch von säkularen Gruppen wie Fatah und PFLP. Heutzutage gelten Selbstmordattentäter, alle im Kampf Gefallenen, von der israelischen Armee getötete Kinder und Zivilisten und manchmal auch Personen, die eines natürlichen Todes gestorben[14] sind, als Shuhada[15]. Flankiert wird dies durch die Vorstellung, daß ein Shahid nicht durch das Fegefeuer »Barzah« gehen muß und sofort ins Paradies eingeht, wobei ein Mann 72 »Huris«[16] (Jungfrauen) erhält und eine Frau einen Mann.

In der Ideologie der Hamas sind Nationalismus und Religion vermischt. Ihr »Widerstand« und ihre Selbstopfer gelten der Befreiung des »heiligen Bodens Palästinas«, die gleichzeitig der weltweiten Gemeinschaft der Gläubigen im Islam zugute kommen soll. Der – freiwillige – Abzug Israels aus dem Gazastreifen im September 2005 wird als Erfolg der eigenen Opferbereitschaft gesehen.

Im Gegensatz zum islamischen Shahid gehen die Black Tigers[17] der LTTE in Sri Lanka ohne die Aussicht auf eine Belohnung im Jenseits in den Tod. Sie sind selbstlose, säkulare Märtyrer, die als Samen für das künftige Tamil Eelam betrachtet werden.[18] Zwar ist die LTTE eine säkulare Organisation, sie hat aber dennoch religiöse Bezüge und beruft sich auf die vorkoloniale tamilische Kriegergesellschaft, auf antikoloniale indische Bewegungen und sogar auf christliche Elemente. Märtyrer werden als Tiyaki – ein Wort, das seine Wurzel im Sanskrit hat und »derjenige, der sein Leben hingibt« bedeutet – oder als Mavirar (»großer Held«) bezeichnet.

Als tiyakam (Hingabe für Tamil Eelam) gilt nicht nur der Selbstmordanschlag, sondern auch der Tod im Kampf oder im Hungerstreik und die Selbsttötung mit Zyankali. Jeder Kämpfer der LTTE ist verpflichtet, stets eine Zyankalikapsel mit sich zu tragen und sich damit im Ernstfall zu töten, um einer Gefangennahme und somit der Ermordung, der Folter oder dem Verhör zu entgehen. Die Motivation für das Selbstmordattentat und für die Selbstvergiftung sollten aber nicht gleichgesetzt werden. Ein Black Tiger geht willentlich in den sicheren Tod, während »kämpfen, um zu leben« das Ziel der übrigen LTTE-Aktivisten ist.[19]

Heilige und Popstars

Trotz der unterschiedlichen Opferideologien haben die Märtyrerkulte, die sich im Libanon, den palästinensischen Autonomiegebieten und auf Sri Lanka um Selbstmordattentäter ranken, sehr viele Gemeinsamkeiten. Die Attentäter erscheinen als eine Mischung aus Helden und Popstars, ihrer wird gedacht und erinnert durch Sammelbildchen, Videoclips, spezielle Friedhöfe, Gedichte, Wandbilder, Statuen oder Gedenktage. Eine besondere Rolle spielen hierbei die »Mütter der Märtyrer«. Ihnen dankt man dafür, ihr Kind geopfert zu haben; zudem gelten sie als Bewahrer von Tradition und Identität. Da diese Mütter sich einer großen Popularität erfreuen, ist es nicht erstaunlich, daß eine von ihnen, Umm Nidal, die Mutter eines Attentäters, die zwei weitere Söhne »für Palästina gab«, kürzlich für die Hamas in das neue palästinensische Parlament gewählt wurde.

Christoph Reuter vertritt in seinem Buch »Selbstmordattentäter«[20] die These, daß die massenhafte Begeisterung für »suicide bombers« in den palästinensischen Autonomiegebieten eine übersteigerte Form des Werthereffekts sei. Darunter versteht man die schwärmerische Begeisterung für den »Freitod« durch den Einfluß der Medien, die manchmal zur Nachahmung von Selbstmorden oder sogar »Suizidepidemien« führen kann. Reuter bringt jedoch mit seiner Interpretation »Selbstmord« und »Opfer« durcheinander – was in der Literatur zu Selbstmordanschlägen allerdings häufig geschieht. Die beiden Konzepte werden vermischt oder komplett verwechselt. Erkenntnisse aus der Suizidologie, die sich auf den egoistischen Selbstmord beziehen, können nicht einfach auf Selbstmordattentate übertragen werden. Der Rockmusiker Kurt Cobain (der sich am 5. April 1994 eine Überdosis Heroin spritzte und dann mit einer Schrotflinte erschoß) und Hanadi Jaradat (eine Attentäterin des Islamischen Dschihad, die sich am 4. Oktober 2003 im Restaurant Maxim in Haifa hochsprengte) werden zwar beide von Jugendlichen als Helden verehrt, aber aus völlig unterschiedlichen Gründen. Gemeinsam ist beiden einzig, daß die Person durch ihre Selbsttötung in einen Heldenstatus erhoben wird, wobei die Gruppe der passiven Bewunderer stets größer ist als die Gruppe derer, die der Tat wirklich nacheifern wollen.

Einem frustrierten Teenager mag der Freitod Cobains als Heldentat erscheinen. Aber das deshalb, weil sie als Revolte gegen die »eigene« Gesellschaft gesehen wird. Man möchte es denjenigen heimzahlen, von denen man sich ausgestoßen fühlt, ist aber aus Ohmacht nicht dazu in der Lage und identifiziert sich daher mit dem Heldenselbstmörder, der den Mut hatte, dies zu tun. Hanadi Jaradat dagegen wird für ihre »Aufopferung« für ein Kollektiv verehrt. Sie wendet sich nicht gegen die »eigene« Gruppe, sondern harmoniert vollkommen mit ihr. Mit ihr identifiziert man sich, weil man gesellschaftliche Anerkennung sucht. Inhalt des Wunschdenkens bei der Märtyrerverehrung ist nicht der Haß auf die Gemeinschaft und die Familie, sondern die Liebe zu ihr.

Zielgerichtet wahllos

Was das »suicide bombing« von anderen »Menschenopfern« unterscheidet, ist, daß dabei nicht nur die vollstreckende Person, sondern im gleichen Augenblick auch andere Menschen zu Tode kommen. Hier zeigen sich Parallelen zum so genannten erweiterten Suizid und zum Amoklauf. Während ein Amoklauf aus individuellen Gründen begangen wird und die Wahl der Opfer dabei meist ziemlich gleichgültig ist, sind Selbstmordanschläge Waffen in einem Krieg. Dieser ist stets kollektiv organisiert, und die Ausübung von Gewalt ist nie beliebig.

Wenn ein Selbstmordanschlag in einem israelischen Café oder einer Diskothek verübt wird, dann sieht es zwar so aus, als ob die Opfer wahllos bestimmt würden. Aber dem ist nicht so. Die Opfer werden gerade wegen ihrer Unschuld ausgewählt. Es ist zwar beliebig, welche israelischen Zivilisten sterben, aber es ist nicht beliebig, daß möglichst viele von ihnen dabei sterben. Auch wird dies von den Attentätern und ihren Sympathisanten nicht als unmoralisch betrachtet; es wird nicht als Mord, der durch den Koran verboten ist, gesehen, sondern als rechtmäßiger Widerstandskampf gegen Unterdrückung. Anschläge gegen israelische Zivilisten werden mit verallgemeinernden Aussagen über »die Juden« begründet, die antisemitischen Charakter haben: »Die Juden haben ihre Zähne gezeigt [...] sie werden erst dann davon ablassen, wenn wir uns bereit- und freiwillig unter ihnen hochsprengen« (aus einer Fernsehpredigt von 2001).[21]

Dagegen scheint bei den Tamil Tigers, die seit den 1970er Jahren einen Kampf für einen tamilischen Staat auf dem mehrheitlich singhalesischen Sri Lanka führen, ein vergleichbares Feindbild keine besondere Rolle zu spielen. Die Selbstmordanschläge dieser Gruppe, die weltweit die meisten verübt hat (mehr als 200 seit 1987), richten sich vor allem gegen militärische Einrichtungen und andere Institutionen des Staates, gegen symbolische Ziele und gegen hochrangige Politiker. Manchmal kommen dabei ebenso viele Zivilisten ums Leben wie bei palästinensischen Anschlägen; dennoch wird stets betont, daß sich der eigene Kampf nicht gegen das »singhalesische Volk« richte.

Gemeinsam ist allen Gruppen, die Selbstmordanschläge verüben, daß sie sich in einer militärisch unterlegenen Position befinden (bzw. befanden). Eingesetzt werden die Anschläge, weil sie äußerst »effektiv« sind. Sie fordern im Durchschnitt viermal so viele Menschenleben wie andere Attentate, und der Gegner steht ihnen wegen der Todesbereitschaft der Attentäter relativ machtlos gegenüber. »Suicide bombings« werden immer sehr gewählt und nur unter bestimmten politischen Bedingungen eingesetzt. Einige Gruppen haben sie (vorerst?) eingestellt, so die Tamil Tigers nach Friedensverhandlungen im Jahr 2001[22] und die Hisbollah nach dem Abzug der israelischen Armee aus dem Libanon 2000. Auf globaler Ebene aber haben Selbstmordanschläge in den letzten Jahren stark zugenommen; die meisten werden derzeit im Irak verübt, und ein Ende ist vorerst nicht zu erwarten.

Anmerkungen:

[1] Ariel Merari: Conference Presentation. Suicide Terrorism Conference,25-26. Oktober 2004, Washington Quelle Internet.

[2] Als das imperiale Japan gegen Ende des Krieges zunehmende militärische Verluste hinnehmen mußte, wurden ab 1944 Kamikazeflieger eingesetzt, die sich in mit Sprengstoff beladenen Maschinen auf amerikanische Kriegsschiffe stürzten. Nur wenige der etwa 2.000 Piloten erreichten ihr Ziel, die meisten wurden abgeschossen oder stürzten wegen Treibstoffmangel ins Meer.

[3] Im Rahmen der Kampfhandlungen wurden in Südvietnam häufig Himmelfahrtskommandos eingesetzt, besonders im Zeitraum 1967/1968. Dazu gehörte auch die Detonation von Sprengstoff, der am eigenen Körper getragen wurde. Ziel war die Ermordung lokaler Eliten und die Zerstörung von Infrastruktur und symbolischen Zielen der Amerikaner. Die Selbstmordkommandos des Vietkongs sind aber nur sehr schlecht erforscht, und es gibt kaum Veröffentlichungen dazu. Eine der wenigen ist Leonard Weinberg: Suicide Terrorism For Secular Causes, Quelle Internet, 2005.

[4] Die im Libanon ansässige schiitische Hisbollah war die erste islamistische Organisation, die Selbstmordanschläge einsetzte. Von 1981 bis 1999 verübte sie zahlreiche solcher Attentate auf amerikanische und französische Truppen, die während des Bürgerkriegs dort stationiert waren, und auf die israelische Armee währen ihres Libanonfeldzugs.

[5] Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) gingen 1976 aus den 1973 gegründeten Tamil New Tigers (TNT) hervor und verstehen sich als marxistisch-leninistische nationale Befreiungsbewegung. Die Mehrheit ihrer Anhänger sind Hindus, daneben gibt es auch Christen und einige wenige Muslime. Das Ziel ihres bewaffneten Kampfes ist die Loslösung vom seit der Unabhängigkeit 1949 singhalesisch dominierten Sri Lanka und die Etablierung von Tamil Eelam (»tamilisches Heimatland«) als eigenem Staat, bzw. autonomem Gebiet im Nordosten der Insel. Siehe auch: Dagmar Hellmann-Rajanagayam: The Tamil Tigers. Armed Struggle for Identity. Stuttgart 1994.

[6] Joan Lachkar: The Psychological Make-Up of a Suicide Bomber, In: Jerry Piven u.a. (Hg.): Terrorism, Jihad and Sacred Vengeance, Gießen 2004, S.116-136.

[7] Émile Durkheim: Der Selbstmord, Neuwied 1973 (frz. Original 1897)., S. 155.

[8] Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983., S. 134.

[9] Zitiert nach Jerold Post: Killing in the name of God: Osama bin Laden and radical Islam, 2001, Quelle Internet.

[10] Maurice Halbwachs: The Causes of Suicide, London 1978 (frz. Original 1930). S. 291-309.

[11] Halbwachs 1978, S. 293.

[12] Farhad Khosrokhavar: Suicide Bombers. Allah’s New Martyrs. London 2005, S. 5-9.

[13] Mit der Entstehung des Nationalismus wurde das Phänomen des Märtyrertums säkularisiert, wobei das Opfer nun nicht mehr Gott gilt, sondern der Nation. Auch Mischformen von beidem existieren.

[14] Wie z.B. der PLO-Politiker Faisal Husseini (Human Rights Watch: Erased in a moment. Suicide bombing attacks against israeli civilians, New York 2002, S. 83.) und Yassir Arafat.

[15] Plural von Shahid.

[16] Was dieses Wort bedeutet, ist umstritten. Von Hamas-Anhängern wird es aber im obigen Sinne ausgelegt.

[17] So werden die Angehörigen der Eliteeinheit, welche die Selbstmordanschläge der LTTE verübt, genannt. Ihr sollen einige hundert Frauen und Männer angehören.

[18] Peter Schalk: Resistance And Martyrdom In The Process Of State Formation Of Tamililam. In: Joyce Pettigrew: Martyrdom and National Resistance Movements. Amsterdam 1997., S. 68.

[19] Schalk 1997, S. 75-76.

[20] Christoph Reuter: Selbstmordattentäter. Warum Menschen zu lebenden Bomben werden, München 2003.

[21] Zitiert nach Human Rights Watch: Erased in a moment. Suicide bombing attacks against israeli civilians, New York 2002., S. 39

[22] Seitdem wurde »nur« ein Selbstmordattentat (im Jahr 2003) verübt.

Lorenz Graitl ist Ethnologe und schrieb seine Magisterarbeit an der Universität München zum Thema Selbstmordattentate und Märtyrerkult bei Tamil Tigers und Hamas.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 293.

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sopos 6/2006