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"Moderner" Schlingerkurs mit Kollateralschäden

Die Parteiführung hat immer recht und steht auch in 40 Jahren noch - allerdings ohne Basis da

von Gregor Kritidis (sopos)

Wenn sich die Regierung Schröder-Fischer nicht gegen die eigene Basis durchsetzen kann, wird das der politischen Rechten erst recht nicht gelingen.

"Ist die SPD regierungsfähig?" - diese Frage trieb vor dem Hintergrund der parteiinternen Auseinandersetzungen bei den Grünen und der SPD über Ostern unisono die Medien um. Mögliche Antworten wie: "Mit der Agenda 2010 sicherlich nicht" oder: "Daran sollte verstärkt gearbeitet werden!" kam dabei selbstverständlich kaum jemandem in den Sinn. Es blieb der ausländischen Presse vorbehalten, die Regierungserklärung der Regierung Schröder vom 15. März 2003 als das zu klassifizieren, was es ist: Eine soziale Kriegserklärung.

Die hiesigen Medien stricken im Gegensatz dazu weiter an der Legende der "notwendigen Reformen" zur "Rettung des Sozialstaates" in Zeiten der "Globalisierung", die seit der gebetsmühlenhaften Propaganda von der "Standortsicherung" zu Beginn der 90er Jahre orwellsche Dimensionen angenommen hat: Je weniger Glauben eine Propaganda findet, desto öfter muß sie wiederholt werden. Regierungsfähig bedeutet in diesem Zusammenhang, in der Lage zu sein, die sozialen und demokratischen Rechte der breiten Mehrheit der Bevölkerung zu demontieren.

Die letzten Wochen zeigen allerdings, daß die Protagonisten des "neoliberalen" Neusprechs - der weder "neu" noch "liberal" ist und daher "altautoritär" genannt werden sollte - immer häufiger das ernten, was ihnen angemessen ist: Beschimpfungen, Spott und Gelächter. Denn bei der "Rebellion" in der SPD handelt es sich ja nicht um die Entscheidungsschlacht "Modernisierer" gegen "Traditionalisten", wie etwa der "Spiegel" wiederholt, aber deswegen nicht richtiger in seiner Osterausgabe behauptet.[1] Vielmehr befinden sich beide Parteiflügel insofern auf der Höhe der Zeit, als sie mehr oder weniger konsequent die Interessen von "Kapital" und "Arbeit" vertreten. Denn sowohl den Herren Schröder, Clement, Scholz und dem so wunderbar diabolisch wirkenden Müntefering als auch den "Rebellen" Schreiner, Skarpelis-Sperk, Schlosser & Co. ist im Gegensatz zu Herrn Gabriel aus Niedersachsen klar, daß sich das Sozialprodukt nicht zweimal verteilen läßt: Einmal mit Steuergeschenken an die Vermögenden und Großunternehmen, und dann noch einmal mit Steuererleichterungen an die Arbeitnehmer, wie Herr Gabriel fordert.[2]

Die Geringschätzung und Herablassung, die den Parteirebellen im überwiegenden Teil der Medien entgegenschlägt - die publizistischen Unterstützer Engholm und Lafontaine wurden als "Gruftis" bezeichnet - gehören zur Auseinandersetzung, bei der sich die Medien(unternehmen) in ihrer großen Mehrzahl ohnehin im "neoliberalen" Lager befinden. Man sollte die Opponenten des Regierungskurses jedoch nicht leichtfertig unterschätzen; programmatisch haben sie mit ihren keynsianischen Anleihen allemal mehr zu bieten als die gegenwärtige Regierung, und personell glänzt der Schröder-Flügel allenfalls in den Medien bei der Jagd auf Sozialhilfeempfänger. Noch weniger sollte der Rest der Gesellschaft aus dem Blick geraten: Die Kämpfe innerhalb der Regierungsparteien reflektieren die Auseinandersetzungen an der Wählerbasis von Rot-Grün. Die innerparteiliche Opposition reagiert auf den Liebesentzug, welche die unteren und mittleren Funktionäre von SPD und Grünen in ihrem Umfeld zu spüren bekommen; sie sind der Schaumkamm auf einer Welle der Unzufriedenheit, die seit dem Antritt der Rot-Grünen Koalition alles andere als kleiner geworden ist. Angesichts einer Zukunft, die jetzt schon keiner mehr mag, verblassen die ohnehin nur pastellfarbenen Mythen des altautoritären "Neoliberalismus"."Neoliberalismus". In einer Situation, in der der Stellenanzeigenteil in den Zeitungen teilweise um 40% geschrumpft ist, muß man schon sehr dumm oder ein sehr begeisterter Anhänger der "freien Marktwirtschaft" sein, um darauf zu hoffen, daß etwa eine drastische Kürzung des Arbeitslosengeldes, eine Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen oder eine Lockerung des Kündigungsschutzes irgendeinen Arbeitsplatz schafft. Und wer es ohnehin nie für volkswirtschaftlich besonders "effizient" gehalten hat, wenn statt einem Postboten zwei Leute in demselben Viertel die Post austragen (und sich zwei Unternehmen respektive Aktionärsanhang dabei bereichern), ist schon nicht mehr zu überzeugen, daß es um die "Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" und nicht um die Gängelung und Disziplinierung der Lohnarbeitenden ginge.

Der "Spiegel" mag darüber schwadronieren, die Mehrzahl seiner Leser bilde sich den "Sozialabbau" nur ein; der Klassenkampf der herrschenden Eliten ist real, so real wie dessen mediale Verdrehung zu "notwendigen" (für wen?) "Reformen" (eine neue Gestalt bekommt hier "nur" die Klassenherrschaft). Diesen medialen Umdeutungen zum Trotz wird es der Regierungskoalition nicht gelingen, gleichzeitig ihre als "Reformpolitik" gefeierte Demontage des Rest-Sozialstaates fortzusetzen, ohne zumindest die aktivsten Mitglieder und Anhänger ihrer Parteien zu vergraulen. Entweder man betreibt Klassenkampf von oben, dann wird man von den Bekämpften schlechterdings keine Begeisterung erwarten können.[3] Daran wird auch ein Kanzlermachtwort nichts ändern. Oder man bekämpft - wie konsequent auch immer - die Positionen der Kapitalisten, dann darf man aber auch nicht darauf hoffen, von der FAZ oder sonstwem als "regierungsfähig" gelobt zu werden. Im übrigen sollte klar sein, daß eine "Regierungsunfähigkeit" von Rot-Grün keinesfalls die Regierungskompetenz der CDU/CSU/FDP steigert. Im Gegenteil, wenn sich die Regierung Schröder-Fischer nicht gegen die eigene Basis durchsetzen kann, wird das der politischen Rechten erst recht nicht gelingen, es sei denn mit offen autoritären bis polizeistaatlichen Mitteln.

Freilich zeichnen sich jetzt schon mögliche Kompromißlinien ab, mit der die gegenwärtigen Widersprüche neu zugekleistert werden könnten. Langfristig jedoch ist das Ende der Sozialdemokratie in ihrer traditionellen Form als Ausdruck des nachfaschistischen Klassenkompromisses unvermeidlich. Entweder setzt sich die innerparteiliche Opposition in dieser Auseinandersetzung durch und konsolidiert die SPD als sozialen und demokratischen Gegenspieler zur CDU/CSU/FDP - das würde in der Zuspitzung bedeuten, auch die Führungsspitze der SPD auszuwechseln. Oder sie gibt mit ein paar Zugeständnissen klein bei und riskiert die weitere personelle und intellektuelle Auszehrung der Partei. Eine dritte, unwahrscheinliche Möglichkeit: Der Konflikt führt zur Spaltung der Partei, in deren Folge sich der abgespaltenen Basisflügel z.B. unter der Führung Lafontaines mit der PDS, dieser Sozialdemokratie des Ostens, zu einer neuen Linkspartei vereinigt.[4] Das ist zwar unwahrscheinlich, das Geschrei der bürgerlichen Medien wäre aber sicherlich fast so beeindruckend wie bei einem richtigen Lokführerstreik.

Festzuhalten bleibt: Der rebellische Geist der späten 60er Jahre lebt in der SPD und den Grünen weiter fort, allen Beschädigungen der politischen Kultur zum Trotz. Zu einer wirksamen Verteidigung der sozialen und vor allem geistigen Reproduktionsbedingungen des Gemeinwesens, von einer gesellschaftlichen Erneuerung, die ihren Namen auch verdient, ist es jedoch noch ein weiter Weg.



Anmerkungen:

[1] Der Spiegel bestätigt immer wieder aufs Neue Enzensbergers These aus den 50er Jahren, er sei kein Nachrichtenmagazin. Die Verdrehungen der genannten Ausgabe sind nicht nur zahlreich, sondern auch so abwegig, daß nicht einmal das Gegenteil richtig ist. Man sollte einen Said-el-Sahhaf-Preis für gelungene Informationspolitik ausloben. Hauptpreis: Ein Jahresabo des Spiegel, wahlweise auch Bahamas oder die taz.

[2] Wenn sich die sozialen und politischen Auseinandersetzungen zuspitzen, werden offenbar die Opportunisten besonders entscheidungsschwach. Es dürften aber keinerlei Zweifel darüber bestehen, daß Sigmar Gabriels Fähnchen im Regierungswind flattert.

[3] Das stimmt natürlich nicht zu allen Zeiten; faschistischen Parteien ist es durchaus gelungen, mit ihrer "Revolution von rechts" breiten Massenanhang zu gewinnen. Dennoch hat die vormals organisierte Arbeiterschaft in Deutschland auch im Faschismus die einzige Stärke ausgespielt, die die Beherrschten seit den Bauernkriegen in Deutschland entwickelt haben: Passive Resistenz.

[4] Diese Variante hat sich in Griechenland realisiert: Der Linke Flügel der PASOK unter Führung des ehemaligen Ministers Dimitris Tsovolas (der Schlachtruf der 80er: Tsovola, dos ta ola - gib alles) hat sich Mitte der 90er Jahre abgespalten und eine neue Partei, die DIKKI (Dimokratiko Kinoniko Kinima, Demokratische Soziale Bewegung) gebildet. Die Impulse dieser neuen Partei für das politische Leben waren allerding gering; eine soziale und politische Opposition an der Basis kann eben durch eine Partei nicht ersetzt werden.

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sopos 5/2003