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Kompromisse "konstruktiver Mehrdeutigkeit"

Die Krise in der Europäischen Union hat mit den Wahlen in Griechenland eine neue Zuspitzung erfahren

von Gregor Kritidis (sopos)

"Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen."
Heinrich Lersch, Soldatenabschied , 1914


"Deutschland muss sterben, damit wir leben können"
Slime, Deutschland muss sterben, 1981


"1000 Räder, wie sie rollen. Wir haben solange gewartet."
Rainald Grebe, Verkehr, 2007


"Jetzt auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen."
Volker Kauder, Fraktionschef der CDU im Bundestag, auf dem CDU-Parteitag in Leipzig 2011


Fragt man am Stammtisch des Lehrer Lämpel oder des Schneiders Böck nach, wie viel Mrd. € schon für die Griechenlandrettung verausgabt worden sind, wird man möglicherweise sehr unterschiedliche, aber in der Tendenz eindeutige Antworten bekommen: Zu viele. Die zutreffende Antwort lautet jedoch "Null", mehr noch: Selbst in den Jahren mit einem Primärdefizit im griechischen Haushalt flossen netto Milliardenbeträge für Zinsen aus Griechenland ab. Waren das vor der Krise noch rund 16 Mrd. € jährlich, so sank dieser Betrag aufgrund der deflationären Abwärtsspirale, die durch die von den Gläubigern aufgezwungene Schock-Therapie verursacht worden ist, auf rund 6 Mrd. € 2014.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob es sich um ein "Hilfsabkommen" oder ein "Kreditabkommen" handelt, nicht von untergeordneter Bedeutung, sondern betrifft im Sinne Orwells die Frage von Wahrheit und Lüge: Die sogenannte Rettung Griechenlands war und ist eine Bankenrettung und darüber hinaus ein Geschäft, aber, und das zeigen die Verhandlungen zwischen der neuen griechischen Regierung und den Staaten der Eurozone sowie dem IWF, viel mehr als das. Es geht um die Herrschaftsverhältnisse in Europa, die nackte Macht. "Die gemäßigten Parteien", schreibt die Süddeutsche Zeitung, "können den seit 2011 immer mehr Zuspruch erfahrenden radikalen Parteien keine Zugeständnisse machen, ohne die EU in ihrer jetzigen Form zu riskieren".[1] Und darum geht es im Kern: Je mehr sich das kapitalistische Europa in der Krise befindet, desto aggressiver wird jede alternative Bestrebung bekämpft und die Anpassung an das brüchig werdende Bestehende gefordert.

Berlin als Zuchtmeister der EU

Zucht und Ordnung in Deutschland

Deutsche Zucht und Ordnung

Nirgends wird dabei die Austeritätspolitik so rückhaltlos als das richtige Rezept verteidigt wie in Berlin, nirgendwo tritt die antidemokratische Staatsauffassung in der Tradition Carl Schmitts offener zu Tage als in den Worten und Taten Wolfgang Schäubles. Souverän ist dem staatsrechtlichen Vordenker des Dritten Reiches zu Folge derjenige, der über den Ausnahmezustand verfügt.[2] Mit der Rede von den Verträgen, die eingehalten werden müssen, war nichts anderes gemeint, als die verfassungs-, europa- und völkerrechtswidrige Diktatur der Troika in Griechenland fortzusetzen.

Der erfischend offene Zynismus Schäubles steht in kontrastreichem Widerspruch zu jener Herde von Mitläufern, die ihren Opportunismus kaum noch mit moralisierendem Gestus überspielen können. Der autoritäre Charakter des deutschen Bürgertums tritt in der Krise so offen hervor wie in Wilhelm Buschs Max und Moritz, wo die Gesellschaft der Spiesser und Phillister den Mord an den halbwüchsigen Abweichlern mit Beifall quittiert. Gesellschaftliche Widersprüche gibt es im Weltbild des Mainstreams der politischen und medialen Elite Deutschlands nicht. Dass es im Kapitalismus konkurrierende und antagonistische Interessen gibt, sollte eigentlich ein durchschnittlicher Gymnasiast im Gemeinschaftskundeunterricht der 11. Klasse begriffen haben. In Deutschland ist das freilich nicht einmal in den weitgehend entpolitisierten politischen Wissenschaften und schon gar nicht in der Volkswirtschaftslehre Standard, weshalb lieber über Ethik geredet wird und empirische Befunde wenig zählen.[3] In einer Öffentlichkeit, in der das bornierte Weltbild der "schwäbischen Hausfrau" als Ideal gilt, müssen daher die strukturellen Widersprüche entweder auf niedere Motive, wie im Fall des Vorsitzenden der GDL auf "Bahnsinn" (Bild) oder auf kindliche Unvernunft zurückgeführt werden. Entsprechend werden die Vertreter der neuen griechischen Regierung wie ungezogene Kinder behandelt, die als "frech" oder "halbstark" charakterisiert werden und folglich wie widerspenstige Schüler "Nachsitzen" müssen.

Schäuble stärkte der Regierung Samaras den Rücken

Die mangelnde Urteilsfähigkeit und Kritiklosigkeit gegenüber den Regierenden in Berlin wird dort grotesk, wo das Desaster schon offen zu Tage getreten ist. Noch Ende 2014 machte sich die Bundesregierung die Erfolgsmeldungen der Regierung Samaras ohne Abstriche zu eigen. Griechenland sei, erklärte Wolfgang Schäuble am 18. Dezember im Bundestag, ökonomisch auf einem guten Weg. Der Bundesfinanzminister lobte den Primärüberschuss im griechischen Haushalt, das leichte Wirtschaftswachstum sowie die sinkende Arbeitslosigkeit. Diese ökonomischen Durchhalteparolen blieben weithin unwidersprochen.

Kurz zuvor hatte die Regierung Samaras die Flucht nach vorn angetreten und mit der vorgezogenen Wahl eines neuen Staatspräsidenten quasi die Vertrauensfrage gestellt. Seine Regierung fiel prompt durch, sodass für Januar Neuwahlen zum Parlament ausgeschrieben werden mussten, aus denen - wie zu erwarten - die oppositionelle Koalition der Radikalen Linken SYRIZA als Sieger hervorging.

Bereits im Vorfeld ließen Regierungskreise in Berlin inoffiziell verlauten, die Bundesregierung denke über einen Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone nach, sollte SYRIZA die Wahlen gewinnen. Diese Meldung wurde umgehend von Wirtschaftsminister Gabriel dementiert und gleichzeitig bestätigt: Zwar wolle man Griechenland in der Eurozone halten, ein Ausscheiden des Landes sei aber seitens der EU wirtschaftlich zu verkraften. Aus diesem Grund sei man nicht erpressbar und erwarte von der griechischen Seite Vertragstreue.

Mit der Botschaft, man sei zwar gutwillig, sitze aber am längeren Hebel wird das Eingeständnis vermieden, dass die Austeritätspolitik auf europäischer Ebene gescheitert ist. Zudem möchte man die Verantwortung für das Desaster der Rettungspolitik der politischen Linken in Griechenland anlasten. Denn selbst wenn die griechische Regierung die seit 2010 abgeschlossenen Kreditverträge mit den Staaten der Eurozone und dem IWF einhalten wollte: Sie wäre dazu nicht in der Lage. Vollkommen irreführend ist dabei die Behauptung, Griechenland müsse vertragstreu sein: Mit den Kreditverträgen vom Mai 2010 sind europäisches Recht, die griechische Verfasssung und das Völkerrecht gebrochen worden. Die Forderung nach Vertragstreue ist also nichts anderes als die Forderung, den faktischen Staatsstreich der Troika nachträglich zu sanktionieren.

Nach dem Wahlsieg von SYRIZA und der Bildung der neuen Regierung erhob sich ein Sturm der Empörung im deutschen Blätterwald und in den Fernsehstudios, der in seinen grotesken Blüten die gewohnten journalistischen Niederungen bei Weitem überbot.[4] Die wenigen Ausnahmen hatten freilich die Lacher auf Ihrer Seite, und die Kabarettisten konnten zu neuer Höchstform auflaufen.[5]

Die wirtschaftliche Situation in Griechenland

Griechenland ist noch viel tiefer in der Krise als 2010, als das Land von der EU und dem IWF "gerettet" wurde: Betrugen die Staatsschulden 2009 rund 130 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP), waren es Ende 2014 trotz des Schuldenschnitts 2012, der vor allem zu Lasten der griechischen Banken und Sozialversicherungskassen ging, rund 175 Prozent. Diese Steigerung ist nicht nur durch Einburch der Wirtschaft um mehr als ein Viertel bedingt, auch in absoluten Zahlen bewegen sich die griechischen Staatsschulden mit rund 320 Mrd. € über dem Niveau von 2009. Das Wirtschaftswachstum im letzten Quartal 2014, das die Regierung Samaras für sich als Erfolg reklamiert, ist nur mathematischer Natur: Da die Preise schneller sinken als das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität, ergibt sich das Wachstum nur auf dem Papier. Tatsächlich ist die griechische Ökonomie in einer deflationären Abwärtsspirale.

Mit dem viel gerühmten Primärüberschuss im Haushalt – das ist das Haushaltssaldo vor Schuldendienst – verhält es sich ähnlich: Angesichts der sinkenden Wirtschaftskraft des Landes ist dieser nur auf Basis von stetigen Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen zustande gekommen. In der Konsequenz ist das Gesundheitssystem weitgehend zusammengebrochen, Schulen können trotz Schnee und Eis nicht mehr beheizt werden und vor den Suppenküchen werden die Schlangen immer länger. Ökonomisch ist damit kein grundlegendes Problem gelöst worden, im Gegenteil: Dem Primärüberschuss von rund 2,5 Mrd. € stehen Forderungen gegenüber dem Staat von mehr als 7 Mrd. € und Steuerausfälle von mehr als 75 Mrd. € gegenüber, und monatlich kommt rund eine weitere Milliarde dazu. Das liegt nicht daran, dass die Steuerzahler nicht zahlen wollen – wer mit seinen Steuern im Rückstand ist, kann mit einer Gefängnisstrafe belegt werden. Die meisten Privathaushalte und Unternehmen mit Steuerrückständen sind schlicht nicht in der Lage, die Außenstände gegenüber den Fiskus zu begleichen.

Das gelobte leichte Sinken der Arbeitslosenzahlen – offiziell sind 26 Prozent der Griechen ohne Job, mit der grauen Ölonomie dürften es wesentlich mehr sein – hat seine Gründe in dem banalem Umstand, dass immer mehr Menschen das Land verlassen. Allein zu Beginn der Krise remigrierten über 200.000 Menschen nach Albanien, mittlerweile verlassen die gut ausgebildeten Angehörigen der Mittelschicht in Scharen das Land und suchen nach einem Auskommen im Ausland.

Der Bankensektor sieht sich immer noch großen Problemen gegenüber. Die Forderungen der wiederholt mit Mitteln aus den Rettungspaketen restrukturierten Banken sind zu 70 % "notleidend" und müssen mittelfristig zu großen Teilen abgeschrieben werden. Insgesamt ist die innere Verschuldung ebenso groß wie die äußere: Von den über 300 Mrd. € Schulden von Bürgern und Unternehmen gegenüber dem Fiskus, den Sozialversicherungen und Banken sind etwa 200 Mrd. € fällig, d.h. sie werden nicht mehr bedient. Schon 2011 haben Menschen in großem Umfang Vermögen wie Autos, Grundbesitz oder Schmuck zu Schnäppchenpreisen veräußert, die ökonomischen Reserven vieler Familien sind längst aufgebraucht.

Bisher haben sich die Gläubiger Griechenlands – das sind mittlerweile vor allem der IWF, der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM und die EZB – damit beholfen, die Zinssätze zu senken und die Laufzeiten der Kredite zu verlängern. Doch selbst bei einem Zinssatz von 2,5 Prozent belaufen sich die Zinsen auf rund sechs Mrd. € jährlich, das sind gut 12 Prozent des Haushalts. Bei sinkender Wirtschaftsleistung ist die Schuldentragfähigkeit des Landes längst nicht mehr gegeben.

Die gegenwärtige ökonomische Lage ist jedoch alles andere als unbeabsichtigt, sondern eine zwingende Konsequenz der von Berlin und Brüssel favorisierten Austeritätspolitik: Die aus Vertretern der EZB, der EU-Kommission und des IWF bestehende Troika hat wiederholt die "innere Abwertung", das heißt das Sinken von Löhnen, Gehältern sowie Preisen für Waren und Dienstleistungen, zum Ziel erklärt. Dieses Ziel einer allgemeinen Deflation ist auch erreicht worden, mit der unvermeidlichen Folge, dass das griechische Nationaleinkommen im Verhältnis zu den Staatsschulden gesunken ist. Die gegenwärtige Situation ist daher nichts weiter als der politische Ausdruck einer ökonomisch unhaltbaren Lage.

Der Sturz der Regierung Samaras

Diese desaströse ökonomische Lage und der damit verbundene wachsende Unmut in fast allen Teilen der griechischen Bevölkerung bilden den Hintergrund für den Sturz der Regierung Samaras. Einen wesentliche Konfliktpunkt zwischen der Troika und der Athener Regierung bildete die Aufhebung des Verbots von Zwangsversteigerungen von Wohnungen, die der Hauptwohnsitz des Eigentümers sind. Da in Griechenland gut 70 Prozent der Menschen Eigentumswohnungen besitzen und viele von ihnen ihre Immobilienkredite nicht mehr bedienen können, hätte eine solche Aufhebung Hundertausende obdachlos gemacht. Hinzu kam die Forderungen der Troika, Massenentlassungen im privaten Sektor zu erleichtern, weitere Kürzungen bei den Renten vorzunehmen und die Altersgrenzen für den Rentenbezug weiter anzuheben. Die Explosivität dieser Forderungen ergibt sich aus dem Umstand, dass Renten für viele Familien mittlerweile die Haupteinkommensquelle bilden. Der Entwurf des Haushaltsplans für 2015 enthielt ohnehin schon weitere Kürzungen von über 2,8 Mrd. €. Die Ausgaben für Rüstung sollten hingegen von 450 auf 700 Mio. € steigen. Vollkommen absurd war die Umsetzung der 2013 beschlossenen Einkommensteuerordnung, nach der selbst Gelegenheitsarbeiter mit vernichtenden Steuersätzen von 26% bis 40% auf fiktiv veranschlagte Einkommen aus einer imaginären unternehmerischen Tätigkeit belegt werden sollte. Ferner sollte das Anfangsgehalt im öffentlichen Sektor in Griechenland ab Januar 2015 auf 684 Euro brutto im Monat sinken.

Die Wahl von SYRIZA stellt also für viele Menschen mehr einen Akt der Notwehr als eine ideologische Überzeugung dar. Die Behauptung, SYRIZA habe im Wahlkampf zu hohe Erwartungen geweckt, ist daher eine vollkommenen Verkehrung der Sachlage: Die Menschen in Griechenland haben mehrheitlich politische Kräfte gewählt, die ihre elementaren Lebensinteressen glaubwürdig und wirksam vertreten, und wenn SYRIZA das nicht gelingt, wird es möglicherweise eine weitere Verschiebung innerhalb von SYRIZA zum linken Flügel bzw. zur ANTARSIA-MARS geben, die bei den Wahlen zwar nur 0,64 Prozent erhalten hat, in den sozialen Bewegungen aber stark verankert ist.

Die Verhandlungen in Brüssel

Die Verhandlungen zwischen Athen und Brüssel nach den Wahlen fanden vor dem Hintergrund eines drohenden Zusammenbruchs der vier systemrelevanten griechischen Banken statt. Zuvor hatte die EZB mit der Entscheidung, keine griechischen Titel als Sicherheit mehr zu akzeptieren, die Liquidität der Geldinstitute erheblich eingeschränkt und ihre Refinanzierung verteuert. Gleichzeitig signalisierte die EZB mit der wenn auch unzureichenden Ausweitung der ELA-Kredite, dass man die Geldversorgung nicht vorzeitig kappen werde. Der insbesondere in den deutschen Medien herbeigeredete Bank-Run fand zwar nicht statt – die meißten Griechen sind schlicht pleite und haben keine Reserven mehr, die sie abheben könnten -, ein Zusammenbruch der Geldzirkulation hätte die griechische Wirtschaft aber erheblich geschädigt.

Der Spielraum der griechischen Regierung war also von Beginn an sehr begrenzt, die Vereinbarung vom 20. Februar 2015 ist von diesem asymmetrischen Kräfteverhältnis gekennzeichnet.[6] Darin erkennt die griechische Regierung grundsätzlich alle Schulden an und verpflichtet sich dazu, keine einseitigen Schritte zu unternehmen. Die Restmittel des alten Programms sollen in Raten ausgezahlt werden, ohne dass auf die Forderungen vom Herbst 2014 noch einmal Bezug genommen wird. Eine detaillierte Liste mit Maßnahmen zur Steuerpolitik sowie zur Verwaltungsreform sollte von der Athener Regierung am darauffolgenden Montag der Eurogruppe sowie den "Institutionen" vorgelegt werden. Eine Festlegung auf die Höhe eines Primärüberschusses erfolgte nicht. Einer der Schlüsselsätze dieses Papiers lautet: "The funds continue to be available for the duration of the MFFA extension and can only be used for bank recapitalisation and resolution costs." ("Die Gelder werden für die Dauer der MFFA-Erweiterung weiter zur Verfügung stehen und dürfen nur für die Rekapitalisierung und Auflösung von Banken genutzt werden") Ferner heißt es: "The Greek authorities commit to refrain from any rollback of measures and unilateral changes to the policies and structural reforms that would negatively impact fiscal targets, economic recovery or financial stability, as assessed by the institutions.” ("Die Griechische Regierung verzichtet darauf, irgendwelche Maßnahmen zurückzunehmen und einseitig Änderungen an den politischen und strukturellen Reformen vorzunehmen, die negative Auswirkungen auf fiskalische Ziele, die ökonomische Erhohlung oder die finanzielle Stabilität haben; dies unterliegt der Beurteilung durch die Institutionen.”)

Das ist fraglos auslegbar, auch wenn sich die "Institutionen" das letzte Wort vorbehalten. Bleibt festzuhalten: Von einer Umschuldung ist in dem Papier keine Rede, und Athen hat sich verpflichtet, keine einseitigen Maßnahmen vorzunehmen. Von den Forderungen der Troika vom Herbst 2014 ist aber auch nichts mehr zu lesen, und im Prinzip werden die fiskalischen Ziele (Primärüberschuss) von den ökonomischen Entwicklungen abhängig gemacht, sodaß der Aderlass der griechischen Wirtschaft gestoppt ist. Zur Bankenrettung muss die griechische Bevölkerung – zumindest theoretisch - nichts mehr beisteuern, auch wenn sie weiterhin dafür in Haftung genommen wird. Maßnahmen zur Dynamisierung der Konjunktur sind allerdings nicht vorgesehen.

Die Auseinandersetzung wird daher weitergehen, innerhalb und außerhalb der EU-Institutionen. Denn die Frage, ob beispielsweise eine Vergesellschaftung der ehemals staatlichen Glückspielgesellschaft ein "rollback of measures" ist oder es sich um eine neue gesellschaftliche – z.B. genossenschaftliche - Eigentumsform handelt, die den "fiscal targets" dient, ist Auslegungssache. Diese "konstruktive Mehrdeutingkeit" ("constructive ambiguity")[7] (Varoufakis) liegt im Kern in der Widersprüchlichkeit der Ziele der Gläubiger selbst begründet. So hat das öffentlich betriebene Glückspiel bisher 200 Mio. € jährlich für den Staatshaushalt abgeworfen, dient also ebenso den steuerpolitischen Zielen wie die Privatisierungen diesen abträglich sind.

Entscheidend wird in den nächsten vier Monaten, also der Laufzeit der Vereinbarung, sein, ob sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der EU verschieben. Fraglos ist eine Alternative zur Politik der EU in ihrer jetzigen Form möglich, doch dazu braucht es eine Alternative zur gegenwärtigen Politik der Bundesregierung. Diese spielt zur Zeit in Europa nach der russischen Administration die destruktivste Rolle.

Die Sozialen Bewegungen haben in Griechenland einen historischen Sieg errungen. Der Ausnahmezustand einer "kommissarischen Diktatur" (Carl Schmitt) auf Zeit ist seit dem 25. Januar 2015 in Griechenland beendet. Trotz ökonomischer Depression, sozialer Verelendung und politischer Entrechtung hat die griechische Bevölkerung die Demokratie wiedererkämpft und mehrheitlich ein zivilisatorisches Niveau an den Tag gelegt, dass für die Menschen in ganz Europa beispielhaft werden muss, wenn die offene Barbarei verhindert werden soll.

Anmerkungen

[1] SZ vom 21./22.2.2015. Das ist eine Art Dominostein-Theorie: Nach dem Kippen von Dogma und Praxis des neoliberalen Kapitalismus in Griechenland droht die politische Stimmung in Spanien, Portugal und Irland ebenfalls umzuschlagen. In Italien, Frankreich und Belgien wächst ebenfalls der Widerstand gegen die Austeritätspolitik. Die Polarisierung nach rechts bietet andererseits die Möglichkeit, den wachsenden Unmut in für die Eliten ungefährliche Bahnen zu lenken. Ungarn steht dafür als besonders abschreckendes Beispiel.

[2] Vgl. Marcus Hawel, Dämmerung des demokratischen Rechtsstaates? Zur Renaissance des Dezisionismus. Sozialistische positionen 5/2009. https://sopos.org/aufsaetze/4a196b478e4b7/1.phtml

[3] Um die Südosteuropa-Forschung ist es in Deutschland nach mehr als einem Jahrzehnt Bologna-Prozess nicht besser bestellt. Einer der wichtigsten Autoren zu Griechenland ist mit Jens Bastian kein genuiner Wissenschaftler. Bastian war Mitgied der Task-Force Griechenland. Im Herbst wurde von der Stiftung Wissenschaft und Politik seine Analyse "Licht am Ende des Tunnels" auf griechisch, deutsch und englisch veröffentlicht. Entgegen den Erwartungen, die die Überschrift suggeriert, kommt Bastian in diesem Papier zu dem Ergebnis, dass ein Schuldenschnitt unumgänglich ist. Ansonsten handelt es sich um den Versuch, sich mit untauglichen analytischen Mitteln der Wirklichkeit anzunähern - ein Dokument von erstaunlicher intellektueller Hilflosigkeit.

[4] Der Sturm im "Blätterwald" ist über Griechenland hereingebrochen. Nachdenkseiten vom 30.1.2015. http://www.nachdenkseiten.de/?p=24809 Vgl. auch Patrick Schreiner/Gregor Kritidis, Griechenland: SYRIZAs Dilemma und die verlogenen Reaktionen in Deutschland. Sozialistische positionen 1/2015. https://sopos.org/aufsaetze/54cb41933e051/1.phtml

[5] Vgl. das Interview von Alexander Smoltczyk mit dem griechischen Außenminister Nikos Kotzias auf Spiegel Online vom 9.2.2015. http://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-aussenminister-nikos-kotzias-im-interview-a-1017342.html In der heute-show vom 6.2.2014 wurde der Finanzminister Varoufakis mit dem Satz zitiert: "Wir sind nicht korrupt, jedenfalls jetzt noch nicht." - In der Tat sind weite Teile der alten politischen Klasse Griechenlands wegen der Verstrickung in unsaubere Geschäfte äußerst anfällig für mediale Kampagnen.

[6] Eurogroup statement on Greece http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2015/02/150220-eurogroup-statement-greece/ Zugriff vom 20.2.2015. Bemerkenswerter Weise ist dieses zentrale Papier vom Finanzministerium den Abgeordneten des Bundestages unterschlagen worden, während alle anderen – weniger relevanten - Dokumente im Original und in deutscher Übersetzung den Fraktionen vor der Abstimmung am 27.2.2015 zugestellt worden sind.

[7] Having it both ways: Greece's doublespeak to Brussels and voters http://www.ekathimerini.com/4dcgi/_w_articles_wsite3_1_26/02/2015_547683, ekathimerini.com , Thursday February 26, 2015

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https://sopos.org/aufsaetze/54f9897e932cb/1.phtml

sopos 3/2015