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Die Spaltung der Spitze - Demokratie als evolutionärer Zufall?

von Per Holderberg

Der Bedeutungsgehalt des Begriffs Demokratie variiert je nach historischer Epoche. Von der kollektivistischen Vorstellung der Antike, die in der Demokratie eine "Herrschaft der Vielen" als die Herrschaft einer starken Gruppe über die Schwächere verstand, bis hin zum individualistischen Ansatz der Moderne, der Demokratie als Herrschaft einer gewählten Repräsentanz über das zu repräsentierende Subjekt im Rahmen der Würde des Einzelnen vertritt. Die spezifische Form der Demokratie unterliegt somit dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess und formt sich je nach dessen Ausgestaltung um. Der moderne Demokratiebegriff hat sich sowohl in seiner Ausübung als Herrschaftsform, als auch in seiner theoretischen Bestimmung als Herrschaft des Volkes stark gewandelt. Ausgehend von dieser begrifflichen Betrachtungsweise kann Demokratie vielmehr als ein Prozess bezeichnet werden, der Kernprämissen beinhaltet, die ständig auf die gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst werden. Diese theoretischen Kerncharakteristika (Freiheit, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit usw.) bilden zwar das Fundament der Demokratie, wie tief ausgeprägt die einzelnen Säulen sind, unterliegt jedoch einer historischen Ambivalenz und ist neben vielen weiteren Unterscheidungsmerkmalen z. B. sehr länderspezifisch. In einer orthodoxen Auslegung ging Marx bekanntlich von der Ökonomie als Basis der Gesellschaft aus, die aus der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse besteht. Hieraus entwickele sich ein diesem Verhältnis entsprechender, je nach historischer Epoche spezifischer gesellschaftlicher Überbau (Kultur, Recht und Staat).[1] Während Marx die Ökonomie als richtungsweisenden, basalen Ausgangspunkt für die übrigen gesellschaftlichen Strukturen beschreibt, die nach den Verhältnissen der kapitalistischen Produktion hin ausgerichtet werden, hat sich in der deutschen Soziologie mit der Systemtheorie ein dieser Auffassung konträr stehender Ansatz etabliert. Der grundlegende Unterschied besteht in der Annahme, dass die ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft einen je spezifischen Code, eine der ihm angehörigen Akteuren gemeine Verhaltenslogik und Kommunikation entwickelt haben, die zu einer Autonomie der Subsysteme führt.[2] Die Systemtheorie als soziologische Perspektive auf die Gesellschaft und ihre Kernprämissen können hier nur gestreift werden. In diesem kurzen Aufsatz soll primär die Sichtweise von Luhmann, als bekanntester Vertreter des systemtheoretischen Denkens auf Demokratie erörtert werden, so dass fundamentale Eigenschaften des systemtheoretischen Denkens sich am Besprechungsgegenstand offenbaren werden.

Die Spaltung der Spitze

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann betonte in seiner Auseinandersetzung mit der Demokratie wiederholt den evolutionären Charakter der Demokratie. Weniger mit Bewunderung, als mit skeptischen Erstaunen: "Ich verwende es [Anmerkung: Demokratie], zugegebenermaßen einschränkend und präzisierend, zur Bezeichnung der unwahrscheinlichsten Errungenschaft der bisherigen Geschichte, des politischen Systems mit gespaltener Spitze, mit Codierung durch das Dual Regierung/Opposition"[3]. Demokratie sei demnach nur ein evolutionäres Zufallsprodukt der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung. Für Luhmann ist die Möglichkeit der Entstehung von Demokratie an den gesellschaftlichen Wandel der späten Neuzeit gekoppelt. Erst mit dem Entstehen horizontaler Funktionssysteme in der Gesellschaft, die sich zunehmend autonom selbst organisieren, ist die Möglichkeit gegeben, das die sonst politisch vertikal organisierte "Politik mit gespaltener Spitze operiert".[4] Das Umcodieren des politischen Systems von der dem französischen König Ludwig XIV zugeschriebenen, kongruenten Auffassung L´état c´est moi, hin zur Zweiercodierung des politischen Systems in Form der Differenz von Opposition und Regierung, bindet sowohl die herrschenden, als auch die nach Herrschaft begehrenden Kräfte in die Arena der Politik ein. Die Komplexität der verschiedenen funktionalen Subsysteme und ihre enorme Wirkreichweite für die benachbarten gesellschaftlichen Teilsysteme (die Ökonomie und der Aufstieg des Börsenhandels, der wissenschaftliche Fortschritt usw.) nötigten der Politik einen Herrschaftswandel hin zu einer demokratischen Ordnung ab. So schreibt Luhmann trocken: "Die dazu passende strukturelle Erfindung hat aus historisch-zufälligen Gründen den Namen Demokratie bekommen".[5]

Diese historisch selektive Charakterisierung erscheint verwirrend, da die Geschichte der Demokratie, wie bereits eingangs skizziert, bis zur Antike zurückreicht und insbesondere in der von Luhmann untersuchten Neuzeit ein Projekt verschiedenster Gruppierungen zur gesellschaftlichen Emanzipation darstellte. In der Antike war die Demokratie ein progressives Projekt einiger moderner Stadtstaaten (z.B. Athen), das jedoch im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzung mit den übrigen Stadtstaaten nicht weiter fortgesetzt wurde. Die Gelehrten jener Tage, von Platon bis Thukydides waren erklärte Antidemokraten, so dass das Konzept der Demokratie in der Geschichtsschreibung mit einer schweren Hypothek belastet war. In der Neuzeit war nach der ersten bürgerlichen "Revolution" im 18. Jahrhundert die Entstehungsgeschichte der Arbeiterbewegung, des Frühsozialismus und des darauf folgenden Marxismus im 19. Jahrhundert eng verknüpft mit der Weiterentwicklung der Demokratie. Nachdem zunächst, durch die Französischen Revolution das Bürgertum sich emanzipierte und den Beginn einer gesellschaftlichen Demokratisierung auslöste, wurden im darauffolgenden Jahrhundert soziale Aspekte der Demokratie von der Arbeiterbewegung und der christlichen Soziallehre eingefordert. Die Mitbestimmung für die arbeitenden Schichten wurden trotz heftigem Gegenwind der Herrschenden (in Deutschland sind z. B. die Sozialistengesetze von Bismarck zu nennen) ausgebaut. Anfang des 20. Jahrhundert vergrößerte sich der Kreis der Mitbestimmenden durch das bereits seit Jahrzehnten geforderte Frauenwahlrecht (in Deutschland trotz großer Unterstützung der Sozialdemokratie 1918 eingeführt). Erst mit dem zivilisatorischen Bruch der Nationalsozialisten und ihrer Machtergreifung in der Weimarer Republik, wurde die Auffassung, wonach ein Mindestmaß auch an sozialer Gleichheit die Funktionsfähigkeit der Demokratie verbessere, in der historischen Aufarbeitung als Lehre aus der Geschichte von allen demokratischen Kräften akzeptiert.[6]

Aus dieser Perspektive ist Demokratie ein lang ersehntes und umkämpftes Gesellschaftsprojekt, das bewusst und generationsübergreifend durch menschliches Handeln entstanden ist. Eine Inklusion und Geltung der ihr eigenen Werte ist nicht auf einen Schlag entstanden, sondern ein Produkt verschiedener Gesellschaftsschichten, die gegen die gesellschaftlichen Zwänge und Antagonismen zur realen Umsetzung demokratischer Gleichheit, eingefordert worden sind. Ferner ist die Demokratie ein politisches Projekt, das erst durch menschliche Gedanken und Vorstellungen über eine andere Zukunft zur Realität wurde. Politische Strömungen und Ideologien haben einen entscheidenden Einfluss auf die Ausformung ausgeübt, die bis heute in den spezifisch-institutionellen Spielarten der nationalen Demokratien ihren Niederschlag gefunden haben.[7] Demokratie kann als ein vom Herrschaftssubjekt selbst konstruiertes Organisationsgebilde beschrieben werden. Es kann sich (weiter-)entwickeln, wie die Menschen, die in Demokratien leben, es sich vorstellen. Der demokratische Herrschaftsmodus der Moderne stellt eine reale Chance jedes Einzelnen auf Mitwirkung an politischen Entscheidungen dar. Demokratie offenbart nach dieser Auffassung einen normativen Anspruch, schon alleine aufgrund der Subjektivierung des Politischen. Demokratie ist dieser Beschreibung folgend aber nicht statisch und muss ständig gegen antidemokratische Interessen (z.B. der Wirtschaft oder kultureller Art) verteidigt werden. Die Demokratie als politisches Steuerungssystem steht und fällt mit der Fähigkeit des Subjekts, den demokratiefeindlichen Zwängen zu widerstehen oder zu erliegen. Insbesondere die Zwänge und Widersprüche die aus der Kombination einer wirtschaftlich kapitalistisch und politisch demokratisch organisierten Gesellschaft entstehen, sind eine ständige normative Herausforderung. Während die Demokratie sich frei nach Aristoteles ein Maß und eine Mitte definiert, sind die Grundaxiome des Kapitalismus von Grenzenlosigkeit und Wachstum gekennzeichnet. Das Spannungsverhältnis von Demokratie und Kapitalismus ist deswegen bis heute nicht gelöst.

Zukunft der Demokratie

So zufällig und von Luhmann als unwahrscheinlich beschrieben, kann die Demokratie also nicht entstanden sein. Dem widerspricht zudem, dass sich die Demokratisierung der europäisch geprägten Gesellschaften in weiten Teilen der Welt wiederholt hat. Anderseits besitzt seine erklärende These, wonach die horizontale Ausdifferenzierung der Gesellschaftssysteme auch einer weiteren Ausgestaltung des politischen Systems nach sich zieht, einen logischen und historischen Erklärungswert. Das diese Ausdifferenzierung nicht immer eine Demokratie nach sich zieht, davon zeugen die bis heute funktionierenden autoritären Regime, die in der Gegenwart gleichsam in die horizontalen Funktionssysteme der Weltgesellschaft eingebunden sind (z.B. China). Die Widersprüche der gesellschaftlichen Totalität zu erfassen, ist mit einem binären Verhaltenscode für jedes Subsystem schwer machbar. Gerade auf dem Gebiet der Internationalen Beziehungen, ferner der Postnationalisierung von Demokratie hat Luhmann, wie auch die meisten klassischen Demokratietheorien vor ihm, kein weitreichendes Erklärungskonzept vorgelegt. Wie soll eine sich transnational organisierende Wirtschaft von einer national organisierten Demokratie kontrolliert werden? Dabei scheint ihm durchaus bewusst, das für die entwickelten Industriestaaten, "die Umwelt vordringlicher Orientierungsschwerpunkt" werden wird. Er spricht von einer "Externalisierung der Selbstreferenz", die diesen Ländern als "Primärstrategie" dienen wird.[8] Hat man sich hierunter einen Export der spezifisch-industrialisierten Ausdifferenzierung des Subsystem Wirtschaft in die weniger entwickelten Länder vorzustellen? Oder vielmehr einen wechselseitigen Prozess des Austausches der je spezifischen Ausdifferenzierung des Subsystems? Konkret auf das deutsche politische System und die Frage der Demokratie bezogen: Demokratie-Export oder Autokratie-Import?[9]

In seinem zu diesem Thema ergiebigsten Aufsatz, "Die Zukunft der Demokratie", schätzt er die Chancen des Weiterbestehens dieses Herrschaftstypus gering ein. Demokratie sei eine vorraussetzungsvolle Angelegenheit, bei der man fragen müsse, warum sie überhaupt funktioniert und für wie lange noch. Luhmann sieht in den vermehrten, langfristigen Politikentscheidungen (z.B. der Atomtechnologie oder der Gentechnik) eine Schwächung der Zweiercodierung der Demokratie. Die Möglichkeit der Einbindung der Opposition wird zunehmend untergraben und damit auch eine der als "Loser`s Consent Problem" bekannte Stärke der Demokratie geschwächt.[10] Politische Entscheidungen werden zunehmend irreversibel, obwohl gerade die Reversibilität von politischen Entscheidungen ein Grundcharakteristikum von Demokratien ist. So habe der Bürger nur noch die Wahl zwischen etwas weniger oder etwas mehr Wohlfahrtsstaat, zwischen dem staatlich kontrollierten Einsatz von Gentechnologie oder der unternehmerisch vorangetriebenen Entwicklung der Gentechnologie innerhalb der Dynamik des Marktes. Die Opposition ist nicht mehr in der Lage sich gegen Entwicklungen, die von der Regierung oder aus der Entwicklungsdynamik des Kapitalismus initiiert wurden, zu wehren. Grundlegende Entwicklungen werden von beiden, respektive allen Parteien getragen.

"Was wir <Demokratie> nennen und auf die Einrichtung politischer Wahlen zurückführen, ist demnach nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems. Das System gründet sich selbst auf Entscheidungen, die es selber eingerichtet hat."[11]

Wer sich mit dem Fokus etwas über Luhmanns Theorie der Demokratie zu erfahren, durch das Werk arbeitet, stolpert wiederholt über solch eigentümlich anmutende Aussagen, die zwar in ihrer deskriptiven Weisheit im Gesamtgebäude seiner Theorie Sinn ergeben, aber einen normativ entleerten Nachgeschmack entfalten. Wenn andere Theoretiker sich mit der Legitimation der Demokratie über das Konzept der Volkssouveränität auseinandersetzen, reduziert Luhmann die Rolle des Staatsgewalt verleihenden Wählers auf den Begriff des Publikums. Innerhalb seiner Theorie über das politische System gibt es drei weitere funktionale Teilsysteme; die Verwaltung, das Publikum und die Politik. Das Publikum nimmt hierbei im Vergleich zu beteiligungszentrierten Demokratietheorien keinen zentralen Platz ein. Luhmann beschreibt es meist als passiv. Es erfüllt seine Rolle in Form von Wahlen oder der Unterstützung, sowie der Kritik der Parteien. Erst durch die Zweiercodierung Opposition/Regierung, gewinnt das Publikum in Form der öffentlichen Meinung an Einfluss, da es in der Lage ist Druck auf die Politik auszuüben.[12]

Politische Partizipation als Standortnachteil

Politische Partizipation liest sich bei Luhmann zum Teil als systemisches Übel der alteuropäisch gewachsenen Vorstellung. Seine Thesen weisen hohe Überschneidungen mit den Überlegungen von Samuel P. Huntington und Michel Crozier auf, die in der Ausweitung der demokratischen Intensität der Bürger, einen globalen Standortnachteil der Demokratie erblickten, den es mit Blick auf die Leistungs- und Steuerungsfähigkeit des Staates zu verhindern gelte.[13] Ähnlich wie das minimalistische Demokratiekonzept von Schumpeter, der diese Staatsform, angelehnt an das Prinzip des Marktes, nur als eine Methode zur Machterlangung unter dem Umstand der Konkurrenz, beschreibt, lässt sich bei Luhmann eine funktionale Reduktion der Demokratie als ein Organisationszusammenhang des politischen Systems in einer ausdifferenzierten Gesellschaft identifizieren.[14] Es sei die Selbstbeschreibung des politischen Systems mit gespaltener Spitze. Es sei ferner keine normative Ordnung die es aus moralischen Gründen aufrecht zu erhalten gelte. Diesen Konzepten gemein ist die bereits skizzierte und unter dem Merkmal der Machtverteilung gemessene Geringsetzung des demokratischen Bürgers, während die Schaltzentrale der Macht in erster Linie bei der Verwaltung oder den Parteien verortet wird. Der Soziologe Edwin Czerwick kommt sogar zur Auffassung, dass Luhmann in der Ausweitung von Demokratie ein Grundproblem dieser Ordnung sieht. Luhmann vertrete das Partizipationsparadox, nachdem erstens nicht genügend Informationen für eine adäquate Beteiligung Aller vorliege, zweitens der Eine durch die Partizipation des Anderen in seiner eigenen Ausübung derselben eingeschränkt wird und drittens ein mehr an Partizipation, auch eine höhere "Enttäuschungsquote" zur Folge habe. Im Zuge der deutschen gesellschaftstheoretischen Debatten der 60er und 70er Jahre, sieht Luhmann in der Forderung nach erweiterter Partizipation die Paradoxie, "wie eine Gesellschaft sich reproduziert, die auf der Ebene der Ideen ständig gegen sich selbst opponiert"[15]. Des Weiteren sei eine Demokratietheorie ohne Werte, wie z.B. Legitimität und mit einer schlankeren Version der Prozedere der Partizipation zu denken[16]. In seinen Ausführungen, die man laut seinen eigenen Aussagen nicht normativ lesen soll, äußert sich eine funktionale Engführung der Besprechung der Demokratie bei gleichsamer Ignoranz gegenüber dem einer "Herrschaft der Vielen" innewohnenden Diskussionsgegenstand der Moral. Durch die dargestellten Ausführungen und seine skeptischen Anmerkungen zur Zukunft der Demokratie und ihren Herausforderungen, offenbart sich bei Luhmann ein Modell der Demokratie, nachdem nur die Eliten einen Anspruch auf politische Teilhabe besitzen sollten. Dies widerspricht jedoch seiner grundlegenden, funktionalen Annahme, wonach Demokratie die Inklusion Aller in die Politik bedeutet. Diesen Widerspruch kann Luhmann nicht auflösen. Edwin Czerwick findet bei Luhmann zum Punkt der Partizipation eine erklärende Aussage. Demnach sei sich Luhmann durchaus im Klaren, das politische Partizipation und Demokratie zusammengehören, sofern das Allgemeininteresse vertreten wird. Luhmann sagt, das gerade "Unbeteiligte beteiligt" werden sollen, er nennt es "artifizielle Beteiligung"[17]. Dies bedeutet so viel wie symbolische Beteiligung, das Erschaffen eines Gefühls von Mitbestimmung. Eigenschaften eines elitären Demokratieverständnisses, das dem emanzipativen Versprechen der Demokratie sowohl in prozeduraler, als auch sozialer Dimension, diametral gegenüber steht.

The next step: simulative Demokratie?

Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn hat im Kontext der Debatte um die Postdemokratisierung der liberal-kapitalistischen Gesellschaften darauf hingewiesen, dass eine vermehrte Simulation von demokratischen Werten und Verfahren stattfindet. Als Ursache werden zumeist Komplexitätsphänomene wie der Prozess der Globalisierung genannt, die mit einem zu viel an Mitbestimmung nicht mehr zu regulieren wären, wobei gleichzeitig ein Verlangen nach demokratischen Werten in der Bürgergesellschaft verankert bleibt. Diesem vielbeschriebene Phänomen eines "demokratischen Paradox" in der Postmoderne, wird in der postdemokratischen Ordnung mit der Effizienz einer elitären Steuerung begegnet, die demokratische Mitbestimmung simuliere.[18] Diese systemischen Argumente, die eine Demokratie aus Effizienzgründen dazu zwingt, sich von seinem input-orientiertem legitimierenden Selbstverständnis, hin zu einer Output-Orientierung zu wandeln, weisen in wiederholter Form übereinstimmende Argumentationsmuster zu den Ansichten Luhmanns auf. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung könne demnach das politische System dazu zwingen sich anzupassen. Die spätestens seit Luhmanns Wirken und von Theoretikern in den 50er Jahren verortete, heutzutage gängige Auffassung, dass das politische System keinen Steuerungsanspruch mehr über die anderen Subsysteme der Gesellschaft besitzt (Der Verlust des Primats der Politik), könnte man auch als Beweis für die evolutionäre Anpassung der Demokratie an die Ausdifferenzierung der Gesellschaft ansehen. Heutzutage gibt es in Deutschland kaum parteipolitische Alternativen jenseits des radikalen Spektrums, die zu der Vorstellung und Forderung gelangen, die Subsysteme zu steuern oder maßgeblich beeinflussen zu können.

Die derzeit herrschende Krisenpolitik beweist jedoch zwei Sachen gleichzeitig: 1) Die Politik ist weiterhin der helfende Adressat, wenn ein Subsystem wie die Wirtschaft eine selbstzerstörerische Krise produziert und 2) hat die Politik aufgrund ihres evolutionär gewandelten Selbstverständnis, in verstärkter Form nach einer extremen Phase der Nichtsteuerung innerhalb der neoliberalen Ära, verlernt mit adäquaten Instrumenten zu steuern. Demokratische Politik sieht sich derzeit damit konfrontiert komplexe weltgesellschaftliche Steuerungsmaßnahmen umzusetzen, obwohl seit Dekaden der Glaube gereift ist, das sich die einzelnen Subsysteme der Gesellschaft autopoetisch selbst steuern und sich gegenseitig kaum zu beeinflussen vermögen. Die Systemtheorie liefert eine deskriptive Beschreibung der Gesellschaft, die zum Argument einer Unmöglichkeit von Steuerung führt, während die Realität in historischer Erfahrung, als auch in der Gegenwart beweist, dass mehr als nur eine Koppelung der Subsysteme zur Aufrechterhaltung des je eigenen Systems von Nöten ist, sondern eine größere Steuerungsperspektive, wie sie einst das Subsystem Politik besaß.

Abschließend muss festgestellt werden, dass Luhmann keine zusammenhängende Demokratietheorie aufbauen wollte. Seine zahlreichen Äußerungen über die Demokratie laden dennoch zu einer analytischen Untersuchung ein (hier sei auf das analytisch hochwertige Buch von Edwin Czerwick für eine vertiefende Beschäftigung verwiesen). Durch die Lektüre Luhmanns ergibt sich ein neuer Blickwinkel auf das Konstrukt der Demokratie, der sich in seiner Betrachtung von einer sonst geläufigen, normativ engen Blickführung befreit. Seine Dreiteilung in Politik, Verwaltung und Publikum erscheint für die Analyse der nationalstaatlichen politischen Prozesse ein fein justiertes Werkzeug darzustellen. Die entwickelte Terminologie der Teilsysteme im Funktionssystem der Politik und ihrem Prozesszusammenhangs (offizieller Machtkreislauf, Gegenkreislauf) sind griffige Beschreibungen des täglichen Ablaufs des politischen Betriebes.[19] Dieser Vorteil ist zugleich sein großer Nachteil, da die Ausführungen aufgrund ihrer Tragweite sich zwangsweise einer normativen Diskussion stellen müssen. Denn die Frage nach der Zukunft der Demokratie ist eine normative Frage. Andernfalls laufen seine Ausführungen Gefahr den emanzipativen Anspruch, den eine "Herrschaft der Vielen" auferlegt ist, zu verlieren und die Rolle des Bürgers auf den passiven Wähler zu reduzieren. Demokratie ist mehr als nur ein evolutionärer Zufall. Sie ist das flexibelste Regierungssystem unter Berücksichtigung der Interessen Aller, über die es Herrschaft ausübt. Diese Auffassung sollte gegenüber einer der Idee der Demokratie feindlich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung verteidigt werden. Nur der Mensch ist in der Lage, seine eigene soziale Evolution im großen Maße zu beeinflussen. Diese Fähigkeit sollte nicht aufgegeben werden. There ist always an alternative!

Anmerkungen

[1] Vor 130 Jahren konnten im Deutschen Reich bis zum 1. Weltkrieg nur Männer mit deutschem Wohnsitz über 25 Jahren vom Wahlrecht Gebrauch machen. Der Kaiser und Kanzler besaßen zudem Prärogative, die weit über die Macht der Wähler hinausgingen. In der Gegenwart braucht man nicht mehr über das männliche Geschlecht zu verfügen, muss als Besitzer eines deutschen Passes nicht in Deutschland wohnhaft sein und das Wahlalter variiert je nach administrativer Bedeutung bei Landtagswahlen ab 16 Jahren bis zur legitimen Teilnahme an den Bundestagswahlen ab 18 Jahren. Wie könnte die genannte Kernprämisse der Mitbestimmung in weiteren 50 Jahren aussehen? Dürfen dann Jugendliche aufgrund ihrer überragenden kognitiven Fähigkeiten bereits mit 14 Jahren wählen und ist die ältere Bevölkerungsschicht mit dem gleichen Argument aber in umgedrehter Weise ihres Wahlrechts ab einem Alter von 90 Jahren beraubt worden?

[2] Interessanterweise beginnt bei Luhmann der Ausdifferenzierungsprozess der gesellschaftlichen Teilbereiche und die autopoetische Gestaltung derselben die zu einer Autonomie der Systeme führt zumeist zu Beginn der Neuzeit.

[3] Niklas Luhmann (1994): Die Zukunft der Demokratie. In: Niklas Luhmann (1994): Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen, S. 141.

[4] Ebd. S. 127

[5] Ebd. S. 129

[6] "Die Krise von 1932 zeigte, daß politische Demokratie allein, ohne eine stärkere Ausnutzung der dem deutschen Industriesystem innewohnenden Möglichkeiten, d. h. ohne die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und ohne eine Verbesserung des Lebensstandards, nur eine leere Hülse blieb." In: Neumann, Franz (1977): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Europäische Verlagsanstalt, Köln – Frankfurt am Main, S. 60

[7] In der vergleichenden Regierungslehre ist z. B. ein Hauptmerkmal zur Unterscheidung das Regierungssystem, das zwischen parlamentarischem, semi-präsidentiellem oder präsidentiellem Ausformungen differenziert.

[8] Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. Analysen und Perspektiven Band 8/9, Günter Olzog Verlag, München, S. 41

[9] Münkler, Herfried (2010): Lahme Dame Demokratie. Wer siegt im Systemwettbewerb? In: Internationale Politik, Heft 3, S. 10-17.

[10] Schmidt, Manfred G. (2008). Demokratietheorien. Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 460.

[11] Luhmann, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 10

[12] Luhmann, Niklas (1989): Theorie der politischen Opposition. In: Zeitschrift für Politik, Jahrgang 36, S. 20: "Die Omnipräsenz des Publikums ist durch das Schema Regierung/Opposition bewirkt, und ebenso das heimliche Regiment dieser Parasiten".

[13] Crozier, Michel / Huntington, Samuel / Watanuki, Joji (1973): The crisis of democracy. Report on the governability of Democracies to the Trilateral Commission. New York University Press.

[14] eine zunehmend ausdifferenzierte Gesellschaft mit autonomen Subsystemen [Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft usw.] ist an dieser Stelle gleichzusetzen mit einer "kapitalistischen Gesellschaft").

[15] Niklas Luhmann (1987): Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Opladen. Zitiert In: Czerwick, Edwin (2008): Systemtheorie der Demokratie. Begriffe und Strukturen im Werk Luhmanns., S. 159

[16] Ebd. " …eine Theorie demokratischer Politik von Vorstellungen über Partizipation und über Legitimation durch Werte ganz abzukoppeln und statt dessen die Optionen inhaltlich besser herauszuarbeiten und zur Wahl zu stellen, mit denen das Volk den politischen Kurs für eine gewisse Zeit bestimmen und mitbestimmen kann".

[17] Vgl. Czerwick, Edwin (2008): Systemtheorie der Demokratie. Begriffe und Strukturen im Werk Luhmanns. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden, S. 158

[18] Blühdorn, Ingolfur (2013). Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013.

[19] In der politischen Theorie hat Luhmann mittlerweile einen festen Platz auf dem Lehrplan erreicht.

Literatur

Blühdorn, Ingolfur (2013). Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013.

Crozier, Michel / Huntington, Samuel / Watanuki, Joji (1973): The crisis of democracy. Report on the governability of Democracies to the Trilateral Commission. New York University Press.

Czerwick, Edwin (2008): Systemtheorie der Demokratie. Begriffe und Strukturen im Werk. VS Verlag für Sozialwissenschaften. Wiesbaden.

Münkler, Herfried (2010): Lahme Dame Demokratie. Wer siegt im Systemwettbewerb? In: Internationale Politik, Heft 3, S. 10-17.

Niklas Luhmann (1994): Die Zukunft der Demokratie. In: Niklas Luhmann (1994): Soziologische Aufklärung 4 – Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. Westdeutscher Verlag, Opladen.

Luhmann, Niklas (2002): Die Politik der Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. Analysen und Perspektiven Band 8/9, Günter Olzog Verlag, München.

Luhmann, Niklas (1989): Theorie der politischen Opposition. In: Zeitschrift für Politik, Jahrgang 36, S. 13-26.

Neumann, Franz (1977): Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Europäische Verlagsanstalt, Köln – Frankfurt am Main

Schmalz-Bruns, Rainer / Kai-Uwe Hellmann (2002): Theorie der Politik. Niklas Luhmanns politische Soziologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Schmidt, Manfred G. (2008). Demokratietheorien. Eine Einführung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

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sopos 11/2013