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Krise und Geschichte

Zum Entstehungszusammenhang kritischer Theorie

von Marcus Hawel (sopos)

Für Leo

»Der Satz, daß die Wahrheit das Ganze sei, erweist sich als dasselbe wie sein Gegensatz, daß sie jeweils nur als Teil existiert.«
Theodor W. Adorno[1]

Zum »Zeitkern der Wahrheit« traditioneller und kritischer Theorie

Wahrheit ist »zerbrechlich vermöge ihres zeitlichen Gehalts«[2], schreibt Theodor W. Adorno in seinem Hauptwerk der »Negativen Dialektik«: nichts Festes und Ewiges. Theorien sind allgemein an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, gleichsam an ihren konkreten Entstehungszusammenhang, der sich als Signatur in die Theorie eingeschrieben hat, gebunden. Nur um den Preis des Verlusts ihrer Wirkmacht wären Theorien im Allgemeinen und Wahrheit im Besonderen von ihren Konstitutionszusammenhängen zu abstrahieren, um sie zu verallgemeinern. Daher ist Wahrheit zerbrechlich, will man sie transportieren oder festhalten.

Die kritische Theorie war von Anbeginn eine Theorie der Krise in einem dreifach geschichteten Sinne...

Die Wendung vom »Zeitkern der Wahrheit« stammt von Walter Benjamin und findet sich in dessen Passagen-Werk.[3] Angelegt ist die Begrifflichkeit bereits bei Karl Marx und Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dieser hatte in der Vorrede zur »Rechtsphilosophie« geschrieben:

»Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«[4] Und: »Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodos hinaus.«[5] Jener hatte 1845 in seinen »Thesen über Feuerbach« im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung präzisiert: »[D]as menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum in[ne]wohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«,[6] womit stets die von Ort und der Zeit abhängigen Verhältnisse gemeint sind, somit auch das Bewusstsein und dessen geistigen Erzeugnisse: »Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«[7] und schreibt sich deshalb auch in die Philosophie ein.

Die methodische Überlegung, die mit dem Zeitkern der Wahrheit verbunden ist, wäre heute auf die Kritische Theorie anzuwenden, zumal diese in der Wissenschaft einerseits immer wieder als veraltet und überholt bezeichnet, als toter Hund behandelt wird.[8] Das freilich ist ein ziemlich oberflächliches Urteil, das wenig in die Tiefe geht.[9] Denn trotz der Tatsache, dass die Geschichte nicht auf der Stelle tritt und man deshalb stets zu begrifflichen Umbauten des Theoriegebäudes angehalten ist, so Max Horkheimer 1937, beansprucht kritische Theorie die Aktualität ihrer Inhalte solange, wie Kapitalismus – in welcher Formation auch immer – das vorherrschende Vergesellschaftungsprinzip ist:

»Die kritische Theorie hat nicht heute den und morgen einen anderen Lehrgehalt. Ihre Änderungen bedingen keinen Umschlag in eine völlig neue Anschauung, solange die Epoche sich nicht ändert. Die Festigkeit der Theorie rührt daher, daß bei allem Wandel der Gesellschaft doch ihre ökonomisch grundlegende Struktur, das Klassenverhältnis in seiner einfachsten Gestalt, und damit auch die Idee seiner Aufhebung identisch bleibt.«[10]

Zum anderen nehmen aber viele, sich der »Frankfurter Schule« verbunden Fühlende, eine Verdinglichung der Kritischen Theorie, das heißt eine Dogmatisierung und Kanonisierung vor; sie behandeln mithin die Kritische Theorie als traditionelle Theorie, indem sie eine historisierende Abkoppelung von der außerakademischen Welt betreiben, und sich gegen die Verschiebungen der »Bedeutung der fachwissenschaftlichen Erkenntnisse für die kritische Theorie und Praxis« wehren.[11]

Kritische Theorie reflektiert auf die der Theorie immanenten und außertheoretischen Widersprüche und behandelt diese, sofern sie historisch sind, nicht als Irrtümer oder schlampige Definitionen, sondern versucht, diese aus einem »sich historisch verändernden Gegenstand« zu begreifen, »der bei aller Zerrissenheit doch einer ist«.[12] Gerade auch die außertheoretischen Widersprüche sind wesentlich von Belang für die Reflexion, womit die kritische Theorie im Gegensatz zur traditionellen Theorie eben auch eine außerakademische Wahrheit und Geltung ihrer und im Grunde aller Aussagen in Anspruch nimmt. Es geht um das gesellschaftliche Ganze, mithin darum, Wissenschaft nicht abstrakt, das heißt vom Gesamtzusammenhang isoliert zu betreiben:

»Die traditionelle Vorstellung der Theorie ist aus dem wissenschaftlichen Betrieb abstrahiert, wie er sich innerhalb der Arbeitsteilung auf einer gegebenen Stufe vollzieht. Sie entspricht der Tätigkeit des Gelehrten, wie sie neben allen übrigen Tätigkeiten in der Gesellschaft verrichtet wird, ohne dass der Zusammenhang zwischen den einzelnen Tätigkeiten unmittelbar durchsichtig wird.«[13]

Dagegen hat die kritische Gesellschaftstheorie die ganzen, also die vergesellschafteten »Menschen als die Produzenten ihrer gesamten historischen Lebensformen zum Gegenstand«.[14] Die sozialen Verhältnisse werden alles andere als unter dem Gesichtspunkt der Gegebenheit und schon gar nicht sub specie aeternitatis, sondern radikal unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit betrachtet. In der kritischen Theorie ruht die Gegenwart nicht in sich. Selbst das Zukünftige steht unter dem Verdikt des Historischen. Die »Realität« steht unter Verdacht, aus Herrschaftsinteressen sich der Veränderung zu verweigern, verkapptes Realitätsprinzip zu sein, gleichsam »repressive Entsublimierung«[15] zu befördern. Gegen den Begriff der »Notwendigkeit« wendet Horkheimer ein, dass es notwendig sei, die Not abzuwenden und dass eben dasjenige notwendig sei, was die Not abzuwenden vermag:

»Soweit [Notwendigkeit], vom Menschen unbeherrscht, ihm entgegensteht, gilt sie einerseits als das Naturreich, das trotz der weitreichenden Eroberungen, die noch zu machen sind, nie ganz verschwinden wird, andererseits als die Ohnmacht der bisherigen Gesellschaft, den Kampf mit dieser Natur in einer bewußten und zweckmäßigen Organisation zu führen. Hier sind Kräfte und Gegenkräfte gemeint. Beide Momente dieses Begriffs der Notwendigkeit, die miteinander zusammenhängen, Macht der Natur und Ohnmacht der Menschen, beruhen auf der selbst erlebten Anstrengung der Menschen, sich vom Zwang der Natur und den zur Fessel gewordenen Formen des gesellschaftlichen Lebens, der juristischen, politischen und kulturellen Ordnung zu befreien. Sie gehören zum wirklichen Streben nach einem Zustand, in welchem, was die Menschen wollen, auch notwendig ist, in welchem die Notwendigkeit der Sache zu der eines vernünftig beherrschten Geschehens wird.«[16]

Dieser außerakademische Wahrheitsanspruch ist unabweislich auf die vorgegebene »Realität« und die »Tatsachen« verwiesen, kein Wolkenkuckucksheim – aber schon Hegel soll auf den Einwand, dass sein philosophisches System den Tatsachen widerspreche, selbstbewusst zu reagieren gewusst haben: »Um so schlimmer für die Tatsachen.« Horkheimer spürt an den »Tatsachen« und der »Realität« den historischen Charakter und die Geschichtlichkeit dieser sozialen Konstruktionen auf:

»Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Organs. Beide sind nicht nur natürlich, sondern durch menschliche Aktivität geformt; das Individuum jedoch erfährt sich selbst bei der Wahrnehmung als aufnehmend und passiv.«[17]

Der außerakademische Wahrheitsanspruch der kritischen Theorie rekurriert daher weniger auf die zur Anpassung und zum Stillhalten zwingenden »Tatsachen« als vielmehr auf die Objektivität der Not und des subjektiven Leidens an den Tatsachen: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.«[18] Mit anderen Worten, »[d]er Begriff der Notwendigkeit ist in der kritischen Theorie selbst ein kritischer; er setzt den der Freiheit voraus, wenn auch nicht als einer existierenden«.[19]

Aber auch die Kritische Theorie hat einen Zeit- und Ortskern der Wahrheit, den es selbstreflexiv zu erinnern gilt, weil der außerakademische und außertheoretische Wahrheitsanspruch nichts Geringeres als die bewahrte Einheit aus Theorie und Praxis ist: In der Praxis muss sich gemäß der zweiten Feuerbachthese die Theorie als wahr erweisen;[20] die Praxis ist daher die Aufhebung, gleichsam die Vollendung der Theorie. Solches Vollendetwerden kann die Theorie an sich selbst nur ermöglichen, wenn sie offen ist, das heißt Bezug zur Praxis hat (nicht aber wie der autoritäre Marxismus-Leninismus diesen mit Krach erzwingt), gleichsam außerhalb der Theorie ein politisches Subjekt vorfindet, welches – worauf es eben ankommt – an der Theorie sich orientiert und aus freiem Willen die Welt verändert.

Wenn Kritische Theorie fortleben soll, hat sie sich daher stets zu erneuern und ihre Begriffe, die »Waffen der Kritik« (Marx), an der Gegenwart zu schärfen, über das gewusste Wissen hinauszugehen und gegen das vorherrschende Sicherheitsbedürfnis »gefährliche Erkenntnis« zu unterbreiten:

»Im Augenblick, wo dem philosophischen Gedanken nichts passieren kann, das heißt, wo er bereits im Bereich der Wiederholung, der bloßen Reproduktion angesiedelt ist, in diesem Augenblick hat die Philosophie ihren Zweck bereits verfehlt. Und, wenn ich mir das gestatten darf, ich würde sagen, daß der Punkt, an dem heute die Philosophie – mit aller Fragwürdigkeit und Fehlbarkeit, die ihrem Begriff mittlerweile anhaftet – ihre wahre Aktualität, wenn anders sie eine hat, zeigt, darin besteht, daß sie dem herrschenden Sekuritätsbedürfnis, nach dem auch alle Modi der Erkenntnis mehr oder minder zurechtgeschustert sind, widersteht; und daß sie einsieht, daß – mit Nietzsche zu reden – eine Erkenntnis, die nicht gefährlich ist, nicht wert ist, gedacht zu werden. Wobei dieses Gefährlichsein weniger auf nihilistische Bombenattentate oder auf die Zertrümmerung irgendwelcher alter Werttafeln gerichtet ist als ganz einfach darauf, daß eine Erkenntnis, die nicht dadurch, daß sie über das hinausgeht, was das bereits gewußte Wissen ist, in Gefahr steht, selber falsch und unwahr und überholt zu werden – daß eine solche Erkenntnis auch nicht wahr sein kann. Was nur eine andere Form des Ausdrucks dessen ist, worauf ich immer wieder zurückkomme: daß nämlich der Wahrheitsgehalt selber in sich ein Zeitmoment hat, anstatt bloß in der Zeit als dieser gegenüber Gleichgültiges und Ewiges zu erscheinen.«[21]

Die Säulen der kritischen Theorie

Schon die Entstehung der kritischen Theorie war ein Ausdruck der Erneuerung in Form einer Aufhebung bestimmter Philosophien. Weder Kant, Hegel oder Freud, selbst Marx nicht, werden sui generis, gleichsam werktreu reproduziert und dogmatisch für die kritische Theorie in Anschlag gebracht. Horkheimer und Adorno betreiben keinen Neokantianismus, Neohegelianismus oder Neomarxismus. Das wäre ein ahistorischer Umgang, den sie als »traditionelle Theorie« kritisieren. Die Theorien werden andererseits auch nicht wie ein Steinbruch behandelt – oder als eine Werkzeugkiste, aus der man sich einfach bedienen könnte. Kritische Theorie läuft nicht auf einen Synkretismus aus Kant, Hegel, Marx und Freud hinaus, gleichwohl diese vier die wesentlichen tragenden Säulen ausmachen. Aber auch Max Weber, Georg Lukács, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche: Alle werden sie in einen Zusammenhang gestellt und in Konstellation zueinander gedacht, so dass sich Synergieeffekte ergeben, um blinde Stellen in der Theorie zu kompensieren. Alle gehen sie durch das eine Nadelöhr: Sie gehen durch Marx hindurch. Auch Marx wird durch dieses Nadelöhr gezwängt. Der Begriff des »Zeit- [und Orts-]kerns der Wahrheit« bildet hierbei den Maßstab der immanenten Kritik zum Zwecke der Aufhebung der Philosophie. Mit Aufhebung ist dialektische Aufhebung gemeint, mithin zugleich Aufbewahrung, Liquidation und das Heben auf eine höhere Stufe:

»Aufheben hat in der Sprache den gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet und zugleich so viel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem dem äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten. – So ist das Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist.«[22]

Die Aufhebung läuft über bestimmte Negation: Das Unabgegoltene wird vom Abgegoltenen getrennt, das Unabgegoltene aufbewahrt, schließlich neu zusammengefügt, auf eine höhere Ebene gestellt, gleichsam auf die Gegenwart bezogen. Die neue, höhere Stufe ist die Ebene der kritischen Theorie. Dem Wesen nach ist sie Vermittlung, wie es Kant in seinen Kritiken, und Aufhebung, wie es Hegel in seiner Phänomenologie jeweils als Rekonstruktion des gewussten Wissens betrieben haben.

An Kant interessiert dessen Aufklärungsbegriff, um den sich das ganze kritische und selbständige Denken zentriert. Mit dem Phänomen der Kulturindustrie und dem Faschismus als Formen des Massenbetrugs aber steht die Frage im Raum, inwiefern Aufklärung noch der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«[23] ist. Wie viel daran ist fremdverschuldet? Kants Moralbegriff wird mit der materialistischen Geschichtsauffassung konfrontiert, gleichsam auf »ungeschminkt materialistisch[e] Motiv[e]«[24], die sich unter dem »Schleier der Maja«[25] verbergen, zurückgeführt.

Aus der Hegelschen Philosophie ist deren Dialektik von besonderem Belang. Aber in ihr kommen ein systemisches Denken und ein daran gekoppelter Vernunftglauben zum Ausdruck, der spätestens nach Auschwitz mit dem Ganzen als vereinheitlichter Identität und dem Allgemeinen nicht mehr ohne Weiteres in Verbindung gebracht werden kann. In Hegels Begriffe legt sich noch die bürgerliche Revolutionseuphorie, gleichsam der ungebrochene Glaube an die Vernunft, die aber vom Allgemeinen ausgeht und durch den Vorgang der Verallgemeinerung aus der sinnlichen Wirklichkeit zu abstrahieren sei.[26] – Auschwitz affiziert allerdings nachträglich auch diesen Glauben: Die gleichgeschalteten Institutionen verhinderten im Faschismus, dass die Vernunft Einzelner das barbarische Joch der Allgemeinheit abschüttelte. Daher stellt Adorno dem Hegelschen Satz von der identifizierenden Logik (»Das Wahre ist das Ganze«)[27] eine Antithese gegenüber: »Das Ganze ist das Unwahre«,[28] weil in ihm das Substrat von Herrschaft enthalten ist. Identität wird zur »Urform von Ideologie«.[29] Die identifizierende Logik, nach der der Prozess der Zivilisation verläuft, hat die Katastrophe mitzuverantworten. Die Dialektik muss umgekehrt werden, sie wird – vor allem bei Adorno – negativ.[30] Sie erhält damit einen anarchischen Charakter, der so bei Hegel allenfalls in jungen Jahren zu finden war,[31] als er noch in jedem real existierenden Staat ein »mechanisches Räderwerk«[32] zu erkennen glaubte, das abgeschafft gehört. Dass der bürgerliche Staat die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«[33] sei, das kam bei Hegel erst später.

Aus der Marxschen Philosophie wird für die kritische Theorie die Kritik der politischen Ökonomie zentral, wenngleich sie wenigstens bei Adorno weitgehend ein »ausgespartes Zentrum «[34] bleibt. Aber die Methode der immanenten Kritik,[35] der Ideologie- und Entfremdungsbegriff, Marxens Naturverständnis[36] und die materialistische Geschichtsauffassung[37] sowie nicht zuletzt die damit auf das Engste verbundene materialistische Dialektik spielen eine ganz zentrale Rolle. Die materialistische Dialektik, nicht erst die negative Dialektik Adornos, ist bereits ihrer Denkform gemäß wesentlich negativ-kritisch: Während die idealistische Dialektik Hegels sämtliche Kategorien in die bestehende Ordnung zu einem versöhnten Ganzen einfügt, begreift die materialistische Dialektik Marxens das Nicht-Identische als sprengendes Moment in der unversöhnbaren bestehenden Ordnung und weist über dieses falsche Bestehende hinaus, indem sie es bestimmt negiert. Damit ist Marxsche Theorie bereits in ihrer Denkform als »Anklage des Ganzen der bestehenden Ordnung«[38] eine kritische, während die idealistische Dialektik als identifizierende Logik ihrem Wesen nach affirmativ ist und in Hegels monarchischem Staat, der eine verwirklichte Versöhnung der antagonistischen Kräfte bürgerlicher Gesellschaft zu leisten imstande sein soll, stillgelegt wird.[39]

An Max Weber interessiert dessen Rationalisierungstheorem,[40] um den Bürokratismus der »verwalteten Welt«,[41] ihr »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit«[42] und die »Entzauberung«,[43] mithin die Säkularisierung und Entmythologisierung der Moderne begrifflich fassen zu können. Aber zur Erklärung irrationaler Verhaltensweisen, die bei Lichte betrachtet zumindest zweckrational erscheinen, wird das von Freud entdeckte Unbewusste als zentrale Kategorie Marx zur Seite gestellt. Freuds gesamte Psychoanalyse wird als Sozialpsychologie zu einem wichtigen Instrumentarium. Insbesondere dessen kulturtheoretische Schriften[44] erhalten für die kritische Theorie einen besonderen Stellenwert. Von Lukács wiederum geht dessen Verdinglichungstheorem[45] in die kritische Theorie vor allem Adornos ein. Da allerdings Lukács auch auf der subjektiven Seite der Verdinglichung völlig ohne Psychologie auskommt, muss dieser mit Freud konfrontiert werden.

Blick zurück: Konstitutionszusammenhang kritischer Theorie

Rezeption als (un-)produktives Missverständnis

Die Rezeption von Theorien – zumal außerhalb ihres Entstehungsortes – findet allzu oft auf der Basis »produktiver Missverständnisse« statt.[46] Rezeption ist ein kultureller Transfer, bei dem es aufgrund von orts- und zeitbezogenen Erkenntnisinteressen zu Verzerrungen kommt, welche das Lesen, Verstehen, Interpretieren und Schlussfolgern – eben auch für die Praxis – gleichsam das Dechiffrieren und Anwenden von theoretischen Texten auf die Wirklichkeit präformieren und anleiten. Keine Erkenntnis ohne Projektion. Keine Erkenntnis mithin ohne Missverständnisse. Selten ist es die Theorie in Reinform, die rezipiert wird, wenn die Ausgangsbedingungen am Ort des Rezipienten ganz andere als diejenigen sind, die den Theoretiker dazu veranlasst haben, etwas aufzuschreiben. Lesarten können bereits am gleichen Ort unterschiedlich ausfallen und im Austausch Spielräume eröffnen, oft genug ausreichend Stoff für Zoff geben. Solch zündelnder Stoff, der zu Missverständnissen führt, ist bereits bei Karl Marx und Friedrich Engels zu entdecken, wenn aus der Gleichgültigkeit von Theorie und Praxis bei jenem in der elften Feuerbachthese ein Praxisprimat mit einhergehender Herabsetzung der Theorie bei Engels durch die schlichte Hinzufügung eines kleinen, nichtig erscheinenden Wortes herauskommt.[47]

Allzu oft wächst aus den Missverständnissen etwas Neues, das Substanz und also Bestand hat. Aber diese Missverständnisse müssen nicht immer produktiv sein, vor allem nicht, wenn Macht im Spiel ist. Der Umgang mit Marx dürfte diesbezüglich geradezu ein paradigmatisches Schlaglicht auf die Art und Weise innertheoretischer und außerakademischer Kämpfe um Deutungshoheit werfen. In dieses politische Handgemenge war auch die kritische Theorie involviert, deren Konstitutionszusammenhang und Entwicklung es an dieser Stelle aufzuhellen gilt.

Dreifach geschichtete Krisenkonstellation

Die kritische Theorie war von Anbeginn eine Theorie der Krise in einem dreifach geschichteten Sinne, das heißt, in ihr verdichtete sich eine mehrdimensionale Krisenkonstellation: Sie reflektierte erstens auf die Krise des Kapitalismus der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre, zweitens auf das Scheitern der Arbeiterbewegung und der proletarischen Weltrevolution von 1917/18 sowie drittens auf die parallel einhergehende und sich daran anschließende Krise des Marxismus, welcher aus sich allein heraus nicht imstande war, das Scheitern in der Krise begrifflich zu er fassen und statt dessen in den Sog der Verdinglichung geriet, das heißt – von Moskau ausgehend – zu einer Legitimationswissenschaft transformiert wurde. Die immanente Verarbeitung der Erfahrung dieser dreifach verdichteten Krisenkonstellation rief die kritische Theorie auf den Plan.

Kritische Theorie wird mithin als undogmatischer und selbstreflexiver Marxismus vorgestellt, dessen Konstitutionsbedingungen die Erfahrung des Scheiterns in der Krise gewesen war. Nachdem Karl Korsch und Georg Lukács vorgemacht hatten, wie man die materialistische Geschichtswissenschaft auf den Marxismus selbst anwendet,[48] um diesen zu erneuern, haben Horkheimer und Adorno drei entscheidende Wendungen im Geschichtsbegriff als Reaktion auf die dreifach geschichtete Krisenkonstellation vorgenommen, die die kritische Theorie im Rahmen des »westlichen Marxismus«[49] zur avanciertesten Theorie dieser und der kommenden Zeit gemacht haben.

Sich diese mehrdimensionale Konstellation zu vergegenwärtigen, folgt alles andere als einem musealen Zweck. Die kritische Theorie, wie sie von Horkheimer und Adorno entwickelt wurde, war ein Ausdruck der Erneuerung der revolutionären Theorie.[50] Sich der Verfahrensweise bewusst zu werden, bedeutet von den spezifischen historischen Bedingungen jener Konstellation auszugehen und zu prüfen, inwiefern die gleiche Verfahrensweise zur Erneuerung auf die gegenwärtige Krise der Gesellschaftstheorie anwendbar ist. Das Prinzip der Selbstreflexivität ist dekonstruktiv und konstruktiv zugleich. Es führt die Wirkmacht der Theorie auf ihre Konstellation zurück, vollzieht den Gestaltwandel der Konstellation nach, um anschließend die Wirkmacht an gewandelten Verhältnissen zu rekonstruieren, gleichsam zu aktualisieren.[51]

Weltrevolution

... sie reflektierte erstens auf die Krise des Kapitalismus der ausgehenden 1920er und 1930er Jahre...

Der historische Ausgangspunkt für den Entstehungszusammenhang kritischer Theorie liegt am Ende des Kaiserreichs und am Beginn der Weimarer Republik. Zum Ende des Ersten Weltkrieges herrschte in Deutschland wie anderswo in der Welt ein revolutionäres Klima. Zwar brach 1917 als erstes in Russland die »proletarische« Revolution aus, das Gelingen der Weltrevolution jedoch hing – da waren sich die führenden Revolutionäre, von Rosa Luxemburg bis Wladimir I. Lenin, einig – von Deutschland ab, wenngleich es sich hier zwar nicht um einen der fortschrittlichsten bürgerlichen, wohl aber kapitalistischen Staaten handelte, jedenfalls mit der größten, stärksten und am besten organisierten Arbeiterbewegung der Welt. In Russland dagegen gab es so gut wie noch keine richtige bürgerliche Gesellschaft; in einigen wenigen Städten wie St. Petersburg gab es Industrieproletariat auf westlichem Niveau, welches nach Marx das politische Subjekt der Weltrevolution sein sollte. In Russland waren es 1917 die Soldaten, die zu revoltieren begannen; die Revolution wurde von einer Avantgarde im Parteigebilde organisiert und hauptsächlich von Bauern getragen. Man schickte sich an, das feudal-aristokratische Zarentum zu überwinden, indem man die bürgerliche Gesellschaft zu überspringen trachtete.[52]

Die Frage, inwiefern das überhaupt gelingen kann, wurde im Vorfeld unter dem Stichwort der »Extremitätenthese« durchaus gestellt. Im Februar 1881 wandte sich Vera Sassulitsch im Namen ihrer Genossen in einem Brief an Marx, um sich nach dem Schicksal der russischen Dorfgemeinde, das heißt nach den Perspektiven der kapitalistischen Entwicklung und Revolution in Russland zu erkundigen. Denn wenn alle Länder, mithin auch Russland, zunächst die Phase der kapitalistischen Produktion durchlaufen müssten, dann stünde dort die »Befreiung der Arbeit« noch nicht an. Ganz offensichtlich nahm Marx diese Frage sehr ernst, tat sich aber schwer mit der Antwort, die er dreimal wieder verwarf. Die Briefentwürfe sind erhalten geblieben, so dass sich erkennen lässt, wie Marx um Plausibilität und die richtigen Sätze rang. Die Quintessenz seiner Antwort vom 8. März 1881 ist allerdings umso dezidierter ausgefallen: Die Entstehung der kapitalistischen Produktion sei bis dato einzig auf die Länder Westeuropas beschränkt, die nach dem Muster Englands verlaufen ist. Dort wurden die Produzenten auf radikale Weise von ihren Produktionsmitteln getrennt. Das heißt, die Entstehung des kapitalistischen Privateigentums, welches nicht mehr auf persönlicher Arbeit, sondern auf der »Ausbeutung der Arbeit anderer« beruht, hatte die »Expropriation der Ackerbauern« zur Voraussetzung.[53] – Aber, so Marx weiter, das heiße nicht, dass der russischen Gemeinde dasselbe Schicksal wie derjenigen im Westen bevorstünde. »Der ihr innewohnende Dualismus läßt eine Alternative zu: entweder wird ihr Eigentumselement über das kollektive Element oder dieses über jenes siegen. Alles hängt vom historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet.« Die russische Gemeinde stelle allerdings in der Geschichte einen Ausnahmefall dar:

»Als einzige in Europa ist [die russische Gemeinde] noch die organische, vorherrschende Form im Landleben eines ungeheuren Reiches. Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen.«[54]

Die russische Revolution konnte mithin durchaus ihren eigenen Weg gehen. Die Weltrevolution aber musste, wenn sie schon nicht im Zentrum des Kapitalismus, sondern an dessen Peripherie begann, wo noch ein eklatanter Mangel an bürgerlicher Zivilisation vorherrschte, ins Zentrum, das heißt nach Westeuropa führen: nach England, Belgien, Frankreich und Deutschland, wo überall bürgerliche Gesellschaften existierten. Der russische Weg konnte diesbezüglich keine Vorgabe für die westliche Welt sein.

Spätestens mit Antonio Gramsci ist der Evolutionismus, wie er sich aus einer deterministischen materialistischen Geschichtsauffassung ableitet und worin noch ganz sicher der Einfluss von Hegels Weltgeist aufzuspüren ist,[55] in seine Schranken verwiesen, insofern es zu erkennen gilt, warum gerade in Russland die »proletarische« Revolution losging und (zunächst) erfolgreich verlief, während sie in den kapitalistischen Zentren auf sich warten ließ; aber dort, wo die Völker die Signale hörten und aus den Löchern kamen: zum »Tigersprung«[56] ansetzten und im Flug stolperten.

Krise der Arbeiterbewegung

... zweitens auf das Scheitern der Arbeiterbewegung und der proletarischen Weltrevolution von 1917/18 ...

Nicht der Mangel an bürgerlicher Gesellschaft wirkte sich hinderlich auf die Revolution aus, sondern umgekehrt: Die bürgerliche Zivilisation zähmte die Revolution. Gramsci nennt das »Zivilgesellschaft«. Ihrer realen Gestalt von 1917 sowie ihrer Funktion nach hatte sie bei Gramsci einen repressiven Charakter. Der Begriff war einer Realanalyse der revolutionären Verhältnisse direkt nach dem Ersten Weltkrieg abgewonnen. Gramsci fand auf die Frage, warum im kulturell hoch entwickelten Westen die Revolution scheiterte, im rückständigen osten aber offenbar gelang, folgende Erklärung:

»Im Osten war der Staat alles, die Zivilgesellschaft war in ihren Anfängen und gallerthaft; im Westen bestand zwischen Staat und Zivilgesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und beim Wanken des Staates entdeckte man sogleich eine robuste Struktur der Zivilgesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter welchem sich eine robuste Kette von Festungen und Kasematten befand.«[57]

Mit anderen Worten: Die zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Westen real existierende Zivilgesellschaft war am Ende des Krieges ein Hindernis für die Revolution. Anders als in Russland existierte mit der Zivilgesellschaft eine Gesamtheit nicht-staatlicher Organisationen, welche als Massenkultur eine kulturelle Hegemonie über die öffentliche Meinung (»Alltagsverstand«) ausübten. Die Zivilgesellschaft funktionierte als Kitt zwischen Staat und Individuum: »Zwischen der ökonomischen Basis und dem Staat mit seiner Gesetzgebung und seinem Zwangsapparat steht die Zivilgesellschaft.«[58]

Je weiter sich die Zivilgesellschaft entwickelte, desto freiwilliger geschah die Unterwerfung der Einzelnen unter den kapitalistischen Staat. Die selbständig erscheinende Sphäre der bürgerlichen Zivilgesellschaft vermochte eine proletarische Revolution zum Scheitern zu bringen; auch wenn sie wieder verstaatlicht und wie in den 1930er Jahren vom Faschismus aufgesogen werden konnte, war sie eine Bastion des bürgerlichen Staates, da in ihr Staat und Individuen gegenseitig voneinander durchdrungen sind.[59] Die Zivilgesellschaft ist zwischen Staat und Individuum zugleich vermittelndes und vermitteltes Drittes; sie macht aus den Individuen Staatsbürger und aus dem Staat einen bürgerlichen. Insofern ist eine proletarische Revolution, die über den Staat läuft, deren Ziel es ist, den Staat zu übernehmen, vor klare Grenzen des Machbaren gesetzt: Sie muss die Zivilgesellschaft aufheben, nicht überwinden wollen. Mit anderen Worten: Sie muss etwas konkret erobern, das sie seit der bürgerlichen Revolution abstrakt schon längst besitzt. Sie muss zugleich etwas bewahren (die individuellen Freiheitsrechte), das aber in seiner Formalität den Machtanspruch des Bürgertums untermauert und erst in der Konkretion über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist. Sie hat also die Zivilgesellschaft zugleich als Gegner und Verbündeten und keine klare Trennlinie wie zwischen Freund und Feind. Demzufolge hat sie im Westen einen politischen Kampf und keinen Bürgerkrieg, Putsch oder Staatsstreich zu führen, wenngleich Gramsci diesen langwierigen politischen Kampf missverständlich mit der militärischen Vokabel als »Stellungskrieg« bezeichnet.

Jemand wie Ernst Thälmann, von 1925 bis 1933 Vorsitzender der Kommunistischen Partei Deutschlands, war genau für derartige unproduktive Missverständlichkeiten empfänglich gewesen. Er hatte den gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923 angeführt und zwei Jahre später resümiert: »Unsere Partei als Ganzes war noch viel zu unreif, um diese Fehler der Führung zu verhindern. So scheiterte im Herbst 1923 die Revolution am Fehlen einer ihrer wichtigsten Voraussetzungen: dem Bestehen einer bolschewistischen Partei.«[60] – Aber ein Staatsstreich oder Putsch, bei dem man einfach ein paar Männer kaltstellt und eine Regierung stürzt – ob von rechts oder links –, ist in einer Zivilgesellschaft kaum möglich. Das wusste auch Rosa Luxemburg:

»Ich meine, die Geschichte macht es uns nicht so bequem, wie es in den bürgerlichen Revolutionen war, daß es genügte, im Zentrum die offizielle Gewalt zu stürzen und durch ein paar oder ein paar Dutzend neue Männer zu ersetzen. Wir müssen von unten auf arbeiten, und das entspricht gerade dem Massencharakter unserer Revolution bei den Zielen, die auf den Grund und Boden der gesellschaftlichen Verfassung gehen, das entspricht dem Charakter der heutigen proletarischen Revolution, daß wir die Eroberung der politischen Macht nicht von oben, sondern von unten machen müssen.«[61]

Die kurzen Wege führen ohnehin sehr selten ins Ziel. oftmals erweisen sie sich als Sackgassen. – Ganz anders im feudalen Russland, das zwar groß und in dem der Zar weit weg war, aber wo der Weg zwischen Individuum und Staat kurz, frontal und osmotisch war: Zwischen beiden existierte eine semipermeable Membran, das heißt, der Staat konnte in den Untertan, der Untertan aber nicht in den Staat eindringen. Daher internalisierte sich keine Norm ohne die Androhung von Strafe, und eine Revolution konnte nur auf das autokratische System gerichtet sein, formierte sich entsprechend autoritär, wie sie gegen das autoritäre Machtzentrum gerichtet war. Mit anderen Worten, die gesellschaftlichen Bedingungen der Emanzipation schreiben sich in den Charakter des Widerstands gegen die Bedingungen ein: »Die Unfreien erstreben die Freiheit, wie der bestehende Zustand sie definiert.«[62] Das ist jeweils keine Frage nach der richtigen Strategie, sondern eine der Notwendigkeit, weshalb man allenfalls sagen kann, dass es falsche orte und Unzeiten für sozialistisch motivierte Revolutionen gibt, wenn sie denn nicht nur ortsbezogenes Elend überwinden, sondern nicht weniger als das Ende der Geschichte einleiten sollen.

Mit eherner Notwendigkeit vollzieht sich keine Revolution; wohl aber gibt es historische Konstellationen, die eine revolutionäre Situation wahrscheinlicher machen als andere. Nur sind das nicht zwingend die orte, die für den Sozialismus am meisten reif geworden sind. ohne großartiges Zutun politischer Subjekte kommt nichts in Gang.[63] Was auch immer in Gang kommt, ist allerdings selten bewusst intendiert. Geschichte wird zwar von den Menschen gemacht, aber nicht alle Menschen sind an der Geschichte gleichermaßen beteiligt. Für Hegel waren einzelne »historische Individuen« wie Napoléon oder Caesar Gefäße, gleichsam Marionetten des »Weltgeistes«, der sich ihrer bedient, um sich geschichtlich zu entäußern. Aber auch Caesar hatte im Krieg gegen die Gallier wenigstens einen Koch dabei gehabt, ohne den er auf dem Schlachtfeld vor Hunger alsbald sein Schwert nicht mehr hätte heben können.[64] Wenn auch der Feldherr der größere »Strippenzieher« als dessen Koch ist, so ist die geschichtliche Betätigung eine Frage der Macht. Der Koch hätte Caesar auch vergiften können; dann hätte dieser nicht, aber vielleicht ein Anderer, die Gallier besiegt. Geschichte ist jedenfalls nicht auf den Willen Einzelner zurückzuführen. In den meisten Fällen opponiert gegen den Willen ein Gegenwille, gegen die Macht eine Gegenmacht, so dass Geschichte, in Hegels Worten, ironisch und listig, jedenfalls nicht gradlinig verläuft; es stoßen Entwicklungslinien aufeinander, Verläufe brechen ab, werden umgelenkt und steuern auf andere Zielbestimmungen zu, je nachdem, wo, wann und wer sich durchsetzt.

Die theoretische Einsicht in die »richtige« politische Praxis soll, wenn sie schon nicht die Praxis anleiten kann, ihr doch wenigstens Orientierung bieten können. So jedenfalls dachten zu Beginn der Weimarer Republik viele linksgerichtete, marxistisch orientierte Intellektuelle. Zu ihnen zählte auch der Millionärssohn Felix Weil, der sich mit dem Gedanken trug, ein beträchtliches Vermögen für die Gründung und Einrichtung eines Instituts für Marxismus zu stiften. Das Institut sollte die Geschichte und Erfahrungen der Arbeiterbewegung erforschen. Weil spendete das Vermögen in der Hoffnung, dass dieses Institut in absehbarer Zeit einer siegreichen Revolution in Deutschland: einem deutschen Rätestaat übergeben werden könne. Aus der Retrospektive gesehen, handelte es sich allerdings nur um ein sehr schmales Zeitfenster für eine erfolgreiche Revolution, die in Deutschland auf halber Strecke in Richtung einer sozialistischen Republik stehen blieb. Die Revolution führte zu einer demokratischen Republik. Lenin gelangte deshalb zu der Ansicht, dass die organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland die proletarische Weltrevolution aus den Augen verliert und sich mit sozialdemokratischen Reformen begnügen wird. Der revisionistische, reformistische Marxismus von Eduard Bernstein und Karl Kautsky gewann die oberhand.[65] Lenin sollte also Recht behalten – nicht aber mit den Konsequenzen, die für den weiteren Verlauf der Revolution in Russland daraus zu ziehen waren.

In Russland musste gleichsam mit der proletarischen Revolution die bürgerliche Gesellschaft übersprungen werden. Trotzki hatte mit seinen Überlegungen zur »permanenten Revolution «, die bereits 1906 vorlagen,[66] die treibenden Kräfte der Revolution von 1905 sowie einer bevorstehenden »proletarischen« Revolution analysiert und darauf reflektiert, dass bei Ausbleiben der Weltrevolution jedwede revolutionäre Anstrengung der Arbeiterklassen in den rückständigen Ländern zum Scheitern verurteilt sei. Die Überwindung der feudalen Strukturen in Russland mit Hilfe der Bauernschaft und unter der Führung der Arbeiterklasse als erste Phase einer Revolution mache jedenfalls nur Sinn, wenn im Weltmaßstab die Abschaffung des Privateigentums erfolgreich angegangen werde und mit diesem Rückenwind der Geschichte auch in Russland der nationalen Bourgeoisie, die es 1905 versäumt habe, ihrer historischen Aufgabe: der Schaffung demokratischer Verhältnisse gerecht zu werden, als zweite Phase angemessen entgegnet werden könne.

Wenn nun aber nicht mehr davon ausgegangen werden konnte, dass die Führung der Weltrevolution von der Arbeiterbewegung aus einem der fortgeschrittensten Länder des bürgerlich kapitalistischen Zentrums übernommen wird, wollte man die Fortschritte der Revolution in Russland nur noch absichern. Umso mehr würde also die feudale und zaristische Prägung des Landes die Bedingung für eine revolutionäre Praxis diktieren, statt von den Errungenschaften und Freiheiten des bürgerlichen Individuums im Westen zu profitieren. Auf der Basis dieser Grundannahmen gewannen Lenins Überlegungen nach einem neuen Träger der Revolution, das heißt die »Partei neuen Typs«, an Bedeutung, die man als Keim des Stalinismus ansehen darf. Demnach seien die Arbeiter und Bauern nicht imstande, ihre eigenen Interessen selbständig und vollständig zu erkennen.[67] Sie seien zur Ausbildung von politischem Klassenbewusstsein aus sich heraus unfähig. Das politische Klassenbewusstsein müsste in diesen Kreis hineingetragen werden – allerdings nicht so sehr von außen, wie Kautsky meinte: seitens »bürgerlicher Intelligenz«, die in der bürgerlichen Gesellschaft alleiniger »Träger der Wissenschaft« sei,[68] sondern bei Lenin bereits von einer proletarischen Avantgarde, deren Klassenbewusstsein durch die Verbundenheit mit der Partei durch Unmittelbarkeit garantiert sei. Die Partei sei zu alledem imstande; sie wird sogar der alleinige Träger von Erkenntnis und Wahrheit. Aus dieser axiomatischen Annahme, die bereits auf einem unproduktiven Missverständnis beruht, leitet Lenin eine unbedingte Unterordnung der Subjekte unter die »Objektivität « der Wirklichkeit, ihrer Gesetzmäßigkeiten, mithin der »objektiven Wahrheit« ab (Widerspiegelungstheorie). Es geht dabei nicht um die Anpassung der Einzelnen ans Bestehende, das doch überwunden werden soll. Aber die Gefolgsbereitschaft und Autoritätsfixiertheit der durch den feudalen Zarismus geprägten Untertanen kommen der Unterordnung unter die durch die Parteiavantgarde vorgegebene revolutionäre Praxis zupass.[69] Die Wahrheiten der revolutionären Praxis gehen jedenfalls nicht spontan aus den Diskussionen von Meinungen hervor, sondern werden gemäß der Leninschen Widerspiegelungstheorie im Bewusstsein direkt aus den Verhältnissen mechanistisch vorgegeben, gleichsam diktiert und durch die Partei vermittelt. Was hier beobachtet werden kann, ist, wie sich in Russland als Antwort auf die ausbleibende sozialistische Revolution in Deutschland aus der »Diktatur des Proletariats« eine Diktatur der Partei über das Proletariat theoretisch legitimiert. Der Marxismus verdichtet sich zu einer Legitimationswissenschaft.[70] – Mit verheerenden Folgen eines darauffolgenden destruktiv-missverstehenden Reimports dieser autoritären Auslegung des Marxismus von Lenin über Bucharin und Deborin zu Stalin als »stalinistische Philosophie« über die moskauhörigen kommunistischen Parteien der Komintern zurück nach Westeuropa. Dies geschah auch aufgrund eines eher ahistorischen Geltungsanspruchs auf Universalität der Dialektik:[71]

»Eine der folgenschwersten Veränderungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, zumindest in ihrer Auswirkung auf die Intellektuellen, war die Verlagerung des sozialistischen Gravitationszentrums nach osten. Der unerwartete Erfolg der bolschewistischen Revolution – ganz im Gegensatz zum dramatischen Fehlschlag ihrer Nachahmung in Mitteleuropa – stellte all jene vor ein schweres Dilemma, die bis dahin im Zentrum des europäischen Marxismus gestanden hatten, nämlich die Linksintellektuellen in Deutschland. Ihnen blieben, grob gesprochen, nur folgende Möglichkeiten: Entweder sie unterstützten die gemäßigten Sozialisten und ihre eben gegründete Weimarer Republik, was bedeutete, daß sie sich gegen Revolution wie auch gegen das russische Experiment aussprachen; oder sie akzeptierten Moskaus Führung, schlossen sich der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands an und arbeiteten an der Unterminierung des bürgerlichen Kompromisses von Weimar.«[72]

Es ist also nicht verwunderlich, wenn Begriffe wie Idealismus, Subjektivismus, Spontaneität und Opportunismus zu Begriffen des Renegatentums werden, die zur Stigmatisierung von vermeintlichen Konterrevolutionären taugen (jedenfalls von Andersdenkenden und selbständig Denkenden, die von der offiziellen Parteilinie abweichen oder diese zu kritisieren wagen) und für das Ausbleiben der Revolution in den westlichen Zentren: als »bürgerliche Verirrung« und Dekadenz, als Resultat des bürgerlichen Individualismus verantwortlich gemacht werden. Die auf die schiefe Bahn geratene Revolution erheischt sich die Autorität der durch die Dialektik vermeintlich objektivierbaren Natur und verhält sich ähnlich wie die Kirche zu Gottes Wort gegenüber den Ungläubigen. Das ist bereits mehr als die bloße Marxsche »eherne Notwendigkeit«, die den Evolutionismus unter Marxisten hoffähig gemacht hat. Die Autorität der Natur liegt zunehmend in der Definitionshoheit überhöhter »Naturwissenschaften «. In der »stalinistischen Philosophie«, die Lenins »Materialismus und Empiriokritizismus «[73] ebenso kanonisiert wie Engels »Dialektik der Natur«,[74] muss sich die »Natur« den Naturwissenschaften und diese der Parteidoktrin unterordnen. Derart zugespitzt kann Natur schließlich »konterrevolutionär« sein. Eine sinnentleerte »Dialektik« wird zur naturalisierten Ordnungs»wissenschaft« über das Ganze.[75]

Die marxistische Theorie geriet aber schon in Lenins Hand zu einem Mittel, um politische Ziele zu verfolgen, die mit der Marxschen Theorie nicht mehr viel zu tun haben. Vergleichsweise einfach ist es, die Plattitüden des Leninismus hervorzukehren, wenn es denn nur erlaubt ist, das heißt straffrei bleibt. Aber im Fortgang des Marxismus-Leninismus hatte dieser seine Plattitüden gegen Kritiker renitent verteidigt, spätestens unter Stalin jene mit dem Gulag bedroht, was stets ein Armutszeugnis für die Legitimationstheorie ist, wenn sie dies nötig hat.[76] Im Übergang von Lenin zu Stalin wird schließlich aus der Diktatur der Partei über das Proletariat eine Diktatur des Parteichefs über die Partei.[77] Der stalinistische Terror erfüllte auch den Zweck einer schockartigen Modernisierung mit inhumanen Mitteln, galt aber vor allem den Widersachern in der Partei, die wie Leo Trotzki schon gegen Lenin eingewandt hatten, dass sich die objektive Wahrheit in der Partei als deren Träger auf Fraktionen teilen müsse. Die bedeutendste Widersacherin Lenins aber war Luxemburg. Ihr berühmtes Diktum, dass die Freiheit immer die der Andersdenkenden sei,[78] lässt sich als Kritik auf den Anspruch des Leninismus, dass die Partei alleiniger Träger von Wahrheit sei, beziehen und meinte nicht nur die Freiheit der Andersdenkenden innerhalb derselben sozialistischen Partei, sondern allgemein aller.[79]

In Russland mochte die Leninsche »Partei neuen Typs« angesichts des weit verbreiteten Analphabetismus und der Autoritätsfixiertheit unter der Bauernschaft noch eine gewisse Plausibilität gehabt haben. Auf Westeuropa war diese revolutionäre Praxis allerdings nicht ohne Weiteres übertragbar. Schon gar nicht gewollt. obwohl Anfang der 1920er Jahre die Revolution in Deutschland gescheitert war, die das ganze Land elektrisierende Rätebewegung niedergeschlagen worden war, die Ikonen einer von Berlin ausstrahlenden proletarischen Revolution, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1919 von der Reichswehr ermordet waren, hegten dort noch bis zur Niederschlagung des Hamburger Aufstandes 1923 die führenden Sozialisten die Hoffnung auf eine Internationalisierung der proletarischen Revolution. Diese Hoffnung konnte auch deshalb ungetrübt gehegt werden, weil zu diesem Zeitpunkt die »Bolschewisierung«, gleichsam die Autoritarisierung der proletarischen Parteien noch nicht stattgefunden hatte. Nach dem Hamburger Aufstand, der von Ernst Thälmann angeführt wurde, spätestens 1925, als Thälmann zum Vorsitzenden der KPD gewählt wurde, waren die Hoffnungen weitgehend zerstoben. Die SPD weigerte sich fortan, mit der KPD zusammenzuarbeiten, und Thälmann besorgte die Bolschewisierung, das heißt die Zentralisierung und Autorisierung der kommunistischen Parteistrukturen.

Der Druck, der von Moskau aus zu verspüren war, hatte sich zunehmend verstärkt,[80] je länger die Revolution in Westeuropa auf sich warten ließ. Immerhin war die russische Revolution scheinbar erfolgreich verlaufen, und so besaßen die Leninschen Strategien bis zu seinem Tod 1924 eine immer schwieriger zu entkräftende Autorität für eine praktische Orientierung der Weltrevolution. Stalin erklärt den Leninismus schließlich als »Marxismus-Leninismus« zur unhintergehbaren Leitlinie. Die Überlegungen von Luxemburg zu Spontaneität und Organisation, zu Sozialismus und Demokratie waren mithin nicht nur deshalb ins Hintertreffen geraten, weil sie 1919 zusammen mit Karl Liebknecht ermordet wurde, sondern da sie bereits im Streit mit Lenin unterlagen, indem sie durch keine Erfolge in der politischen Praxis getragen wurden. Der Leninismus setzte sich gegen den »demokratischen Sozialismus« Luxemburgs durch, weil jener eine Theorie des Gelingens, gleichsam eine Theorie war, die sich gemäß der zweiten Feuerbachthese von Marx als wahr erwiesen hatte. Auch die Abwandlung der elften Feuerbachthese seitens Engels spielte hier eine Rolle für die Autorität der Praxis, die den Wahrheitsmaßstab an das Kriterium des Erfolges band. Dabei wurde nur allzu selten darauf reflektiert, dass beide Theorien (von Lenin und Luxemburg) je an einen konkreten Ort, an konkrete Verhältnisse gebunden waren. So wenig Lenins Praxis auf Westeuropa, so wenig wäre auch die von Luxemburg vorgeschlagene Praxis auf Russland erfolgreich anzuwenden gewesen. Russland allerdings war der falsche und Westeuropa der richtige Ort für die proletarische Weltrevolution, und daher hätte, aus der Retrospektive betrachtet, Lenin schweigen und Luxemburg sich durchsetzen müssen, sollte es nicht allein ums Fortschreiten in Russland, sondern der Weltgeschichte gehen.[81]

Luxemburg gehört nicht von ungefähr zur geistigen Strömung des westlichen Marxismus. Dieser ist eine undogmatische Suchbewegung und verhält sich gegenüber der Marxschen Theorie kritisch,[82] speist sich wie bei Marx aus der humanistischen Tradition und zehrt von den Errungenschaften der bürgerlichen Freiheiten für das Individuum. Engels hat die existentielle Abhängigkeit der Arbeiterbewegung von den bürgerlichen Errungenschaften der politischen Freiheit, die auf dem revolutionären Weg der Emanzipation gebraucht und verteidigt werden müssen, sehr eindringlich erklärt:

»Selbst in dem äußersten Fall, daß die Bourgeoisie, aus Furcht vor den Arbeitern, sich unter der Schürze der Reaktion verkriechen und an die Macht der ihr feindlichen Elemente um Schutz gegen die Arbeiter appellieren sollte – selbst dann wird der Arbeiterpartei nichts übrigbleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Preßfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht trotz der Bürger fortzuführen. ohne diese Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebenselement, für die Luft, die sie zum Atmen nötig hat.«[83]

Was zur Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft eine notwendige Voraussetzung ist, soll auch nach der Revolution nicht liquidiert, sondern im Gegenteil: konkretisiert, das heißt im Hegelschen Sinne dialektisch aufgehoben und damit erst wahrhaftig verwirklicht werden. Die Freiheit des Kollektivs darf mithin nicht zu Lasten der Freiheiten der Individuen gehen. Zu den Protagonisten eines solchen undogmatischen, westlichen Marxismus dieser Zeit zählten Georg Lukács und vor allem Karl Korsch,[84] die den in dieser Phase der Kommunistischen Internationale noch vorhandenen, freilich immer kleiner werdenden Spielraum für innerparteiliche Auseinandersetzungen sowie für kontroverse theoretische Diskussionen genutzt haben, um die Verdinglichung des Marxismus zu reflektieren. Das Zeitfenster schloss sich allerdings bereits.

Krise des Marxismus

... sowie drittens auf die parallel einhergehende und sich daran anschließende Krise des Marxismus ...

Pfingsten 1923, ein Jahr, bevor das zu gründende Institut für Marxismus seine Arbeit aufnahm, organisierte Felix Weil, der Fabrikantensohn, zusammen mit Korsch in der Nähe von Ilmenau eine »Marxistische Arbeitswoche«. An dieser nahmen neben Lukács auch Karl August und Rose Wittfogel, Friedrich Pollock und andere teil. Viele der Teilnehmer hatten später mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung auf das Engste zu tun. Die Diskutanten der Arbeitswoche verband die Hoffnung auf ein selbstbewusst handelndes Proletariat, das nicht auf sozialdemokratische Reformen (Kautsky, Bernstein), nicht auf Evolution setzt und sich auch der Bolschewisierung widersetzt, das heißt an der Revolution festhält. Theoretischer Bezugsrahmen war der westliche Marxismus, gleichsam die materialistische Geschichtsauffassung, in der die Hegelsche Dialektik noch eine tragende Rolle spielt – im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus, in dem diese als idealistisch gebrandmarkt und entsprechend aus der Marxschen Theorie entfernt und wodurch die »Dialektik« bezeichnenderweise sinnentleert wird. Marx hatte die Hegelsche Dialektik lediglich »vom Kopf auf die Füße« gestellt, nicht aber enthauptet; sie ist in der Marxschen Philosophie mithin nicht erledigt, daher war sie für die westlichen Marxisten ein Vehikel, vermöge dessen die materialistische Dialektik wiederzubeleben versucht wurde. Man war sich dessen sehr wohl bewusst, dass der westliche Marxismus gegenüber der autoritären Auslegung des Marxismus, des Marxismus-Leninismus, ins Hintertreffen zu geraten drohte.[85] Die Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung musste also in der Auseinandersetzung mit der Tendenz zur Autoritarisierung erneuert werden, weil nach den gescheiterten Revolutionen in Westeuropa nicht bedingungslos an die Marxsche Theorie und ihren Geist der Revolution angeknüpft werden konnte. – Dies galt noch einmal umso mehr im folgenden Jahrzehnt des heraufziehenden Faschismus und der Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland.

Die nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des Versagens der Sozialdemokratie der Zweiten Internationale 1923 erschienenen Arbeiten »Marxismus und Philosophie« von Korsch und »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Lukács sind die allerersten Versuche der methodischen Selbstreflexion im Rahmen der Marxistischen Theorie.[86] Der Inhalt der beiden Schriften war auch Gegenstand der Diskussion während der marxistischen Arbeitswoche; sie zählen heute noch immer zu den bedeutendsten Werken des kritischen »Neomarxismus«; in der Tradition des westlichen Marxismus stehend, begründen sie methodisch den sogenannten selbstreflexiven Marxismus und dient Horkheimer als Grundlage für die methodische, programmatische Gründung der kritischen Theorie.

Korsch und Lukács ging es ausdrücklich um die Wiederherstellung der materialistischen Dialektik in Gestalt einer aktualisierten Marxschen Theorie, das heißt, sie wandten die materialistische Geschichtsauffassung auf die Marxsche Theorie an, betrieben gleichsam – wenn man so will – eine Historisierung des Marxismus, aber im besten Sinne des Begriffs, wodurch es möglich wurde zu erklären, warum an unterschiedlichen orten und zu unterschiedlichen Zeiten eine je spezifische Ausformung des Marxismus entsteht und Wirkmacht entfaltet oder sich verdinglicht. Insbesondere Korsch ging es zunehmend darum, den autoritären Marxismus- Leninismus in Westeuropa in seine Schranken zu weisen, indem aufzuzeigen sei, wie wenig er zu den dort entwickelten gesellschaftlichen Verhältnissen passt. Dazu musste mithin eine Metaebene eingenommen werden, die Selbstreflexivität und Dekonstruktion impliziert. Eine solche theoretische Kampfansage wurde von der marxistischen Orthodoxie der III. Internationale, die kommunistisch war, das heißt von Moskau dominiert wurde und die ihrerseits den Marxismus zu einer Legitimationswissenschaft für die Absicherung der Oktoberrevolution verkürzte, mit Parteiausschlüssen bedroht.[87] Die Weichen waren bereits hin zu einem autoritären Sowjetmarxismus gestellt. Während Lukács dem Druck nicht standhielt und sich von seinem Werk distanzierte,[88] den Marxismus-Leninismus übernahm, blieb der konsequente Antistalinist Korsch standhaft und wurde 1926 dafür aus der Komintern ausgeschlossen.

Das von Felix Weil gegründete marxistische »Institut für Sozialforschung« nahm 1924 unter der Leitung des austromarxistischen Kathedersozialisten Carl Grünberg die Arbeit auf. Es sollte zur Verstetigung der in der Arbeitswoche vertieften Diskussion dienen, das heißt die marxistische Diskussion institutionalisieren. Zum Vorbild hatte man sich das Moskauer Marx-Engels-Institut genommen, mit dem man zunächst auch in engem Kontakt stand und zusammenarbeitete.[89] Man muss wissen, dass zu diesem Zeitpunkt die Sozialwissenschaft in Deutschland noch keine etablierte Disziplin an den Hochschulen war und es auf solche private Initiativen ankam. Das Institut für Sozialforschung war nach dem Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften in Köln das zweite wissenschaftliche Institut in Deutschland überhaupt.[90] Als offizielle Zeitschrift des Instituts fungierte zunächst das von Grünberg bereits 1911 gegründete »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung«, die erste »bedeutende Zeitschrift für die Geschichte der Arbeiterbewegung«.[91] Erst 1932 wurde unter Horkheimers Leitung dieses Organ in die »Zeitschrift für Sozialforschung« umbenannt.

1924 hatte sich das revolutionäre Zeitfenster geschlossen. Lenin war nach zweijähriger schwerer Krankheit gestorben. Stalins Aufstieg an die Parteispitze stand bevor und mit diesem die endgültige Konsolidierung eines erdrückenden Bürokratismus und brutalen Polizeiapparates in Russland.[92] Mitte der 1920er Jahre erklärte Stalin zur Absicherung der Oktoberrevolution das Konzept des »Sozialismus in einem Land«, das schließlich in den 1930er Jahren zur Staatsdoktrin wurde.[93] Stalin erstickte mit seinem Aufstieg aus dem bürokratischen Apparat jedwede kritische Abweichung von der Parteidoktrin, bekämpfte, wie vor ihm auch schon Lenin und Trotzki, sämtliche sozialen Bewegungen, die unabhängig von der bolschewistischen Partei agierten, und verfestigte seine Herrschaft vermöge einer privilegierten Schicht des bürokratischen Apparats. Es folgte auch eine Sabotage sozialistischer Bewegungen außerhalb Russlands, zum Beispiel der kämpfenden Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg gegen Franco.

Der Zeitpunkt dieser »bürokratischen Konterevolution« (Mandel) war im Grunde auch der Vorabend der »sozialen Konterrevolution«[94] in Europa, die mit dem Krisenjahr 1929 verbunden ist: die Phase des Aufstiegs der faschistischen Bewegungen, die mit Mussolini 1922 zuerst in Italien Fuß fasste. So formulierte Grünberg die Aufgabe des Instituts denn auch zurückhaltend: Erforschung der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung.[95] Dreieinhalb Jahre leitete er das Institut, bis er im Januar 1928 einen schweren Schlaganfall erlitt und arbeitsunfähig wurde. Im Oktober 1930 übernahm Horkheimer, zunächst kommissarisch, die Institutsleitung, die ihm von seinem Freund Pollock, der als Generalbevollmächtigter, mithin als Weils rechte Hand im Vorstand des Instituts fungierte, herangetragen wurde.

Horkheimer war im Gegensatz zu Grünberg ohne die Schwermut des Alters. Er hatte gerade einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie bekommen. In seiner Antrittsvorlesung »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung«[96] hält er an dem Gedanken des jungen Marx: der Notwendigkeit der »Verwirklichung der Philosophie durch die befreiende Tat des Proletariats«[97] fest und formulierte das Programm des Instituts, nahm damit wesentliche Weichenstellungen für die von ihm entfaltete kritische Theorie vor. Es war zunächst eine Mischung aus Kontinuität und Bruch mit der von Grünberg anvisierten und geleisteten Programmatik. Horkheimer legte den Schwerpunkt der Forschung aber nunmehr auf die verklärende Ideologie, die den Menschen die Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse erschwert und die Bedingungen einer befreienden Tat vernebeln lässt. Ihm ging es in der Phase eines heraufziehenden faschistischen Europas um die zentrale Frage, wie man Sinn und Vernunft in die Welt bringen kann, gleichsam um den aufklärerischen Impetus, der gemäß der elften Feuerbachthese den Funken von der Theorie auf die Praxis überträgt, ohne jedoch damit die Theorie aus den Augen zu verlieren, sie abzuwerten und einem sinnlosen, weil blinden Praktizismus zu verfallen: Die Verwirklichung der Philosophie, deren dialektische Aufhebung, ist auf die befreiende Tat angewiesen; ohne diese ist sie bloß ein »Philosophischwerden der Welt im Buch«,[98] wie es bei Ernst Bloch heißt.

Erste Verschiebung:
Psychoanalyse als »Hilfswissenschaft der Geschichte«

Die immanente Verarbeitung der Erfahrung dieser dreifach verdichteten Krisenkonstellation rief die kritische Theorie auf den Plan.

Neben Marx rückte nunmehr auch Freud ins Zentrum der Gesellschaftstheorie. Diese Paradigmenverschiebung wird zwei Jahre später mit Horkheimers Aufsatz »Geschichte und Psychologie« (1932) manifestiert. Darin geht Horkheimer der Frage nach, warum die Menschen in einer revolutionären Situation, statt die befreiende Tat zu vollziehen, ihren eigenen Henkern: den Faschisten den Weg zur Macht ebnen. Die Fragestellung ist abhängig von der Methodik des selbstreflexiven Marxismus, gleichsam deren konsequentes Weiterdenken parallel zur Zuspitzung der Verhältnisse, die den selbstreflexiven Marxismus seitens Lukács und Korschs auf den Plan gerufen haben. Das Weiterdenken allerdings geriet an die Grenzen der theorieimmanenten Erklärbarkeit: Mit der Marxschen Theorie allein ließ sich keine zufriedenstellende Antwort auf die von Horkheimer gestellte Frage finden. Die Psychologie hielt mit Freuds Psychoanalyse neue Denkweisen bereit, die im Verbund mit Marx Licht in das sich auftuende Dunkel ungeklärter Fragen bringen konnte. Diese Verschiebung im Geschichtsbegriff macht im Wesentlichen kritische Theorie aus, die sich zwar immer noch genuin als Marxsche Theorie verstand, aber durch die Anreicherung mit psychoanalytisch orientierter Sozialpsychologie so nicht mehr heißen sollte. Die materialistische Geschichtsauffassung konnte jedenfalls fortan nicht mehr ohne die Psychoanalyse als »Hilfswissenschaft der Geschichte«[99] auskommen. Denn die Frage, warum die Menschen ihren Henkern den Weg zur Macht ebnen, wäre mit einem Verständnis von Ideologie als gesellschaftlich »notwendig falsches Bewusstsein« (Marx) unzureichend und zudem zynisch beantwortet. Das falsche Bewusstsein kann in dieser Frage nicht notwendig sein. Vielmehr, so Horkheimers Antwort, setze sich der Faschismus »durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik«[100] durch, die – und weniger das Kapitalverhältnis, deren Gesetzmäßigkeiten sich mit »eherner Notwendigkeit« vollzögen – für das falsche Bewusstsein verantwortlich ist.

Zweite Verschiebung:
Entteleologisierung der Geschichte

Horkheimer zieht aus dieser Erwägung den Schluss, dass jede Form von Geschichtsteleologie und Automatismus in der Geschichtsphilosophie oder Gesellschaftstheorie nicht mehr aufrechtzuerhalten sei. Es wäre auch zynisch, wenn man in neohegelianischer Manier schlussfolgern müsste, dass der Faschismus oder gar Auschwitz Resultate der Entäußerung des Weltgeistes, jedenfalls im Telos (Ziel, Zweck) der Geschichte eingeschrieben seien. – Der faschistische Staat war nicht die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«.[101]

All das bedeutet aber nicht, dass das Telos preiszugeben sei. Die kritische Theorie Horkheimers bleibt wie die Marxsche grundsätzlich normativ. Das Telos müsse allerdings aus der Geschichte in die Geschichtswissenschaft verlegt werden. Mit anderen Worten: Die Geschichte wird entteleologisiert, die Geschichtswissenschaft aber bleibt normativ. Der wissenschaftliche Umgang mit Geschichte wird mithin politisch, wodurch die Geschichtswissenschaft explizit zur Gegenwartsdisziplin wird: Es gibt nur so viel Sinn in der Geschichte, wie von den Menschen jeweils zu gegenwärtigen Zeiten in sie hineingelegt und selbstbewusst in politischen Kämpfen verwirklicht wird.[102] Dieser Paradigmenwechsel ist die zweite (notwendige) Korrektur des Geschichtsbegriffs, der zugleich die Begründung der kritischen Theorie ausmacht, wenngleich Wesentliches schon bei Marx angelegt ist. Eine weitere wesentliche Korrektur wird noch folgen, die hauptsächlich von Adorno in seiner »Negativen Dialektik«, durch Benjamin inspiriert, aufgrund der Erfahrung von Auschwitz als moderne Katastrophe unternommen wird, sich aber bereits schon in der zusammen mit Horkheimer verfassten »Dialektik der Aufklärung« aufgrund der zugespitzten Eskalation der faschistischen Verhältnisse, jedoch noch ohne die Erfahrung von Auschwitz, als Radikalisierung der Vernunftkritik, gleichsam als Negativwerden des Geschichtsbegriffs, ankündigt.

Krise des Kapitalismus

Spätestens seit 1929 waren die »Goldenen Zwanziger« vorbei. Eine Kapital- und Finanzkrise bis dato ungeahnten Ausmaßes griff um sich, deren Auslöser eine Überproduktion von Konsumgütern und Erzeugnissen aus der Agrarwirtschaft gewesen war. Die Krise verursachte einen folgenschweren volkswirtschaftlichen Einbruch in allen Industrienationen. Insolvenzen von Unternehmen, Massenarbeitslosigkeit und Deflation waren die Folgen. Aufgrund der sprunghaft zugenommenen Interdependenzen der Nationalökonomien sowie der Kapital- und Finanzströme entwickelte sich die Krise in kürzester Zeit zu einer Weltwirtschaftskrise. In vielen westlichen Industrieländern entstanden faschistische Bewegungen oder wurden autoritäre Regime installiert. In Deutschland erstarkte der Nationalsozialismus zwischen 1929 und 1932 derart rasant, dass die drei autoritären Präsidialkabinette von Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher bis zur Machtübertragung an Adolf Hitler 1933 den Untergang der Weimarer Republik markierten: einer demokratischen Republik ohne Demokraten. Es war die Strategie der »konservativen Revolution«, einer Gegenrevolution, die proletarischen Massen durch einen autoritären Staat zurückzuhalten und somit den bürgerlichen Machterhalt zu gewährleisten. Als das nicht mehr funktionierte, die Krisendynamik auch für den autoritären Staat nicht mehr zu händeln war, der Klassenkampf zwischen Kommunisten und Faschisten auf der Straße immer härter ausgetragen wurde und bürgerkriegsähnliche Zustände angenommen hatte, schwenkten die herrschenden Eliten zur zweiten Option der konservativen Revolution um: auf den autoritären Volksstaat, gleichsam die pseudodemokratische Einbindung der Massen.[103] Sie öffneten dem Faschismus die Tore zur Macht und installierten Hitler, von dem die traditionellen Eliten glaubten, ihn im Schach halten zu können.

Horkheimers Schriften der 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre konzentrieren sich auf diese Zusammenhänge: auf Autoritarismus, Faschismus, Antisemitismus und vor allem auf die Vernunftkritik und den Irrationalismus.[104] Die programmatischen Formulierungen aus Horkheimers Antrittsvorlesung sind inzwischen in der Theoriearbeit des Instituts erkennbar eingelöst. Die Eigenständigkeit der kritischen Theorie, gleichsam als ein Alleinstellungsmerkmal, ist an einer dreifachen Einheit aus Theorie und Praxis, Philosophie und Wissenschaft sowie aus Kritik der Vernunft und zugleich dem Festhalten an der Vernunft erkennbar.

Mit dem Umzug des Instituts für Sozialforschung über Genf (1932) in die USA, wohin Horkheimer und Adorno sich entschlossen zu exilieren, nachdem das Leben für Juden in Deutschland lebensbedrohlich geworden und weil davon auszugehen war, dass das Vermögen des Instituts von den Nazis beschlagnahmt werden würde, fand auch eine thematische Verlagerung der kritischen Theorie statt. Der inhaltliche Schwerpunkt lag nun auf Kulturkritik. Die Kulturindustrie, wie sie in den USA zu Zeiten des New Deals als fordistische Massenkultur am fortgeschrittensten entfaltet war, geriet in den Fokus.

Die kritische Theorie veränderte sich allmählich durch die Konfrontation zweier Traditionen, die im amerikanischen Exil hauptsächlich von Adorno reflektiert werden:[105] der europäischen Philosophie mit dem US-amerikanischen Empirismus. Die kritische Theorie legt zu einem großen Teil ihre metaphysischen Grundlagen ab, wird zumindest empirischer, ohne den Vorrang der Theorie, die auf die Empirie anleitend und orientierend wirken soll, aufzugeben.

Durch derartige Symbiose wurde aus der kritischen die Kritische Theorie, wie wir sie schließlich als »Fhrankfurter Schule« der Nachkriegszeit, nachdem das Institut für Sozialforschung nach Frankfurt an den Main Anfang der 1950er Jahre zurückgebracht wurde, kennen.

Dritte Verschiebung:
Wendung des Geschichtsbegriffs zum Negativen

Im Frühling 1948 erschienen in einem kleinen Verlag in Amsterdam in geringer Auflage die im amerikanischen Exil verfassten philosophischen Fragmente der »Dialektik der Aufklärung « von Horkheimer und Adorno.[106] Das Buch war alsbald schon vergriffen, zeitigte aber zunächst keine nennenswerte Wirkung. Es wurde dennoch zu einem der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts – dies jedoch auf Umwegen: Horkheimer und Adorno bezeichneten ihren Basistext kritischer Theorie als »Flaschenpost«,[107] deren Bedeutung erst in (ferner) Zukunft erkannt werden möge, wenn die Flasche von einer anderen Generation gefunden, entkorkt und die Botschaft entziffert wird. – Als dies 20 Jahre nach Erscheinen des Buches durch die studentische Rebellion der späten 1960er Jahre tatsächlich der Fall war, zeigten sich die beiden Autoren allerdings überrascht.[108] In der »Dialektik der Aufklärung« formulierten sie eine radikale Vernunftkritik und diagnostizierten ein grundlegendes Versagen der Aufklärung in der Moderne, dessen Ursprung in der Verstrickung mit »instrumenteller Vernunft« von Anbeginn angelegt gewesen sei.

Im Jahr 1946 erschien von Horkheimer das Hauptwerk »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«.[109] Es enthält noch einmal die Kernthese der »Dialektik der Aufklärung«: Die Vernunft ist instrumentell geworden; sie steht nicht im Dienste der Menschheit, sondern hat sich als Werkzeug der Herrschaft angedient, um die Natur des Menschen zu unterdrücken. Die Kulmination der Barbarei, die die Geschichte in die Katastrophe führt und sich als Verhängnis herausstellt, lässt die Theorie negativ werden. Die Wendung zum Negativen, gleichsam die dritte Korrektur im Geschichtsbegriff, wird von Adorno endgültig in seiner »Negativen Dialektik« unternommen.

Auslöser ist die Erfahrung von Auschwitz. Wenn bei ihm in Anlehnung an den »Engel der Geschichte«, den Walter Benjamin aus einem Bild von Paul Klee allegorisch herausgelesen hat,[110] von Geschichte als Verhängnis die Rede ist (»Von der Steinschleuder zur Megabombe«[111]), verliert sich Adorno keineswegs in einem dem Politischen abgewandten Pessimismus.

Jürgen Habermas, der durch die Zeit des Wiederaufbaus geprägt war und eine Zeitlang zur »Frankfurter Schule« gehörte, kritisierte Adornos Wendung zum Negativen als »traumatische Fixierung«, die nicht weiterhelfe, sondern lähme, »nach dem Motto: Wer immer nur gebannt auf die Katastrophe schaut, trägt nicht dazu bei, daß es besser wird. Nun, eine gewisse Auschwitz-Fixierung ist nicht zu leugnen; es fragt sich nur, wie weit sie auflösbar ist, ohne daß man die mit ihr verbundenen Einsichten gleich mit los wird.«[112] Habermas wird in der keynesianistischen Nachkriegszeit seine ganz persönliche Wende zur pragmatischen Linken vollziehen, die sich in allen seinen Begriffen, die spätestens seit den 1980er Jahren die öffentlichen Debatten der Bundesrepublik beherrscht haben, wiedererkennen lässt.[113]

Die Kritische Theorie hat den Schock nach Auschwitz, anders als Habermas anerkennen wollte, aufgefangen und zum Ausgangspunkt geistiger Produktivität gemacht.[114] Am deutlichsten zeigt sich das an dem Imperativ, den Adorno in der »Negativen Dialektik« als praktische Leitlinie aufgestellt hat:

»Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«[115]

Dieser Imperativ ist kategorisch, dass heißt er ist nicht weiter zu begründen oder »diskursiv zu behandeln«; er steht als deren Aufhebung und als deren negative Konkretion in einer Linie mit den kategorischen Imperativen von Kant und Marx. Die Politische Ökonomie verursacht eine »bürgerliche Kälte« als wesentlich konstituierender Bestandteil der modernen Subjektivität; sie entscheidet maßgeblich darüber, wie Menschen sich einander begegnen und inwieweit es möglich ist, ein würdevolles Leben zu führen.[116] Dem Kapitalismus wohnt eine Dialektik der Gleich-Gültigkeit inne.[117] Die Menschen begegnen sich auf dem Markt abstrakt als Gleiche und sind, wenn sie Waren tauschen wollen, dazu verpflichtet, sich gegenseitig als Personen anzuerkennen. Insofern wird über den Kapitalismus das emanzipative Moment der formalen Gleichheit realisiert. Indem sich aber die Menschen auf dem Markt nicht nur als tauschende Warenbesitzer gegenseitig anerkennen, sondern sich auch verdingen, das heißt ihre Arbeitskraft in Beziehung zu den Waren setzen, sich selbst als Ware Arbeitskraft verdingen, kommt ein nicht-emanzipatives Moment der Gleich-Gültigkeit von Mensch und Ding (Ware) hinzu, das der gegenseitigen Anerkennung im Wege steht, die Anerkennung wieder zurücknimmt und in Verdinglichung enden lässt. Das verdinglichte Individuum ist kalt – in gewisser Hinsicht ist es sozial abgestorben. Dieses »Grundprinzip der bürgerlichen Subjektivität« nennt Adorno »Kälte«, und er ist der Ansicht, dass Auschwitz ohne diese bürgerliche, das heißt moderne Kälte, nicht möglich gewesen wäre.[118] Schon Horkheimer hatte 1939 geschrieben: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.«[119]

Marx hat den von Kant aufgestellten kategorischen Imperativ, wonach man den Menschen niemals allein als bloßes Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck behandeln solle und wodurch erst sichergestellt ist, dass die Würde des Menschen – die nach Kant keinen Preis hat – nicht angetastet wird, von seiner moralischen Höhe auf einen materialistischen Boden gestellt: Es seien »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«.[120] Dies ist der Kern auch der negativ gewordenen Kritischen Theorie. Denn Auschwitz zeigt in negativer Gestalt, wie dringlich die kategorischen Imperative von Kant und Marx zu verwirklichen sind, damit »Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe«.

Zuletzt: »Frankfurter Schule«

Von der »Frankfurter Schule« war hier, wenn überhaupt, nur in ironischer Form die Rede, weil es als stilisiertes Etikett nur sehr ungenau den Konstitutions-, Erfahrungs- und Schulzusammenhang benennt. Die Bezeichnung »Frankfurter Schule« ist eine spätere Erfindung: ein Label, das irgendwann in den 1960er Jahren aufkam, nachdem das Institut für Sozialforschung bereits wieder einige Jahre aus den USA zurück nach Frankfurt verlegt worden war. Detlev Claussen kritisiert die Bezeichnung »Frankfurter Schule« als »Mediennamen«, gleichsam als kulturindustrielle Chiffre.[121] Verwendet man dieses Label auch für die frühe kritische Theorie, wie es etwa sehr einschlägig von Martin Jay und Rolf Wiggershaus etabliert wurde,[122] wendet man es mithin auf die 1930er Jahre an, dann kommt das einer ideologisierenden invention of tradition (Eric Hobsbawm)[123] gleich, die rückwirkend einen Kreis von wichtigen Personen aus dem Konstitutionszusammenhang der kritischen Theorie in der Auseinandersetzung mit der Stalinisierung der Marxschen Theorie ausblendet. Der Kreis unorthodoxer Marxisten, die zu jener Zeit in einem größeren Diskussionszusammenhang standen, wäre jedenfalls nicht auf die »Frankfurter« zu beschränken; es gehörten mindestens genauso Lukacs, Korsch, Bloch und Benjamin dazu; in diesem Umfeld ist genau das entwickelt worden, was Horkheimer dann zur Methode der kritischen Theorie gemacht hat (»selbstreflexiver Marxismus«). Eine ähnliche invention of tradition wird durch die rückprojizierte, ahistorische Großschreibung des Adjektivs »kritisch« (Kritische Theorie) betrieben. Die Großschreibung ist ebenfalls eine spätere Erfindung und taucht erst auf, nachdem die wissenschaftlichen Erfahrungen der US-amerikanischen Immigration sich konstitutiv in die Theorieentwicklung eingeschrieben haben. Die Groß-schreibung manifestiert die Stilisierung zu einer eigenständigen Theorieschule im Übergang zur zweiten Generation. Daher ist es eigentlich unnötig, von der »frühen Kritischen Theorie« zu schreiben, wenn man die frühe von der späteren Theorieschule durch die Klein- und Großschreibung des Adjektivs »kritisch« unterscheidet und auf die populäre, aber unscharfe Bezeichnung »Frankfurter Schule« gänzlich verzichtet, zumal sie zwar Kontinuität impliziert, diese aber am Ort Frankfurt am Main festmacht, der zwar neben Leipzig das intellektuelle Zentrum des geteilten Deutschlands war, von dem aber die Kritischen Theoretiker der zweiten Generation auszogen – zu einem beträchtlichen[124] Teil nach Hannover, wo mit der klugen Hand eines Peter von Oertzens, der von 1970–1974 niedersächsischer Kultusminister war, dafür gesorgt wurde, dass unter den günstigen Reformbedingungen, an denen er zuvor selbst mit beteiligt war, der Ausbau der damals noch Technischen Universität zur Volluniversität in den 1960er Jahren viele marxistische und linksgerichtete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Schule Adornos und Horkheimers, aber zum Teil auch Wolfgang Abendroths, Johannes Agnolis oder Erich Gerlachs seit 1970 berufen werden konnten[125] – allen voran als erstes Oskar Negt, der als Nachfolger auf dem Lehrstuhl Adornos in Frankfurt zwar im Gespräch gewesen, aber vielen zu radikalmarxistisch gewesen war.

»Oskar Negt wäre nur unter schwersten politischen Auseinandersetzungen als Nachfolger Adornos auf dessen Lehrstuhl und als Institutsdirektor durchzusetzen gewesen. Eine ›Wir- Gruppe‹ kritischer Theoretiker, die aus dem traditionsreichen Frankfurter SDS, den Negt- Seminaren und dem Umkreis der ›Kritischen Justiz‹ hervorgegangen war, begab sich ab 1970 auf einen Exodus nach Hannover.«[126]

Vereinzelte Marxisten, wie von Oertzen selbst, der 1963 einen Ruf als ordentlicher Professor für Politikwissenschaft und 1965 Hans Mayer für Literaturwissenschaften oder 1967 der Psychoanalytiker Peter Brückner für Psychologie (er hat das Sozialpsychologische Institut an der Universität Hannover gegründet) bekommen hatten, waren schon da. – Von Oertzen widersetzte sich sogar am Anfang seiner ministeriellen Tätigkeit (1970) den Wünschen der Fakultät hinsichtlich der Berufungspraxis: Die konservative Mehrheit der Professoren in der Gesamtfakultät hatte Negt für die Nachfolge des Soziologen Christian von Ferber, der nach Bielefeld gegangen ist, nur auf Platz zwei gesetzt, weil diesem der »Ruf eines Mentors der Studentenbewegung in Frankfurt und eines linksradikalen Kritikers von Sozialdemokratie und Gewerkschaften vorauseilte«.[127] Von Oertzen aber gab Negt den Vorzug.

Es entstand in Hannover sukzessive ein »Schulzusammenhang« Kritischer und unorthodox- marxistischer Theorie, die dann von konservativer Seite ähnlich wie die Universität Bremen als »rote Kaderschmiede« verschrien wurde.[128] Der Zusammenhang erstreckte sich mindestens auf die »vier linken Seminare« (Institute) der »Fakultät der gefährlichen Möglichkeiten«,[129] die im Zuge der Umwandlung zur Volluniversität ausgebaut wurden und von einem massiven Stellenaufbau profitierten: Soziologie,[130] Sozialpsychologie,[131] Politikwissenschaft[132] sowie Germanistik[133] und war noch bis zur Emeritierung Negts 2002 und dem Tod von Jürgen Seifert 2005 erfahrbar. Die niedersächsische Landesregierung hatte nach Negts Emeritierung den Versuch unternommen, insbesondere das Institut für Soziologie zu schließen. Dies konnte durch internationale Proteste, die bis zum brasilianischen Präsidenten Lula da Silva reichten, zunächst verhindert werden. Nicht verhindert werden konnte dagegen die schleichende Abwicklung, die seitdem mit Stellenstreichung und Zusammenlegung von Bereichen vorgenommen wurde. So ist das Sozialpsychologische Institut zum »Fach« der Soziologie gemacht worden und dümpelt seitdem vor sich hin. Geplant war auch die bisher noch nicht durchgesetzte Eingliederung der Soziologie in die Politikwissenschaft. Von einer »Hannoverschen Schule« könnte heute mithin allenfalls noch ein ironischer Treppenwitz handeln. Als zweite und dritte Generation der Kritischen Theorie hatte sich das Etikett freilich nicht etabliert, wurde auch spätestens 1977 mit der »Mescalero-Affaire«[134] und der darauf- folgenden Suspendierung Brückners als Projekt stark irritiert. Negt hat in Hannover auf der internationalen Konferenz zur »Kritischen Theorie der Gegenwart« 1998 – in Abgrenzung zu Axel Honneth als Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung – die Bezeichnung »Hannoversche Schule« noch einmal ins Gespräch gebracht. Es war aber schon klar, dass es ein melancholischer Abschluss war, der sich entäußerte. Die Geschichte der zweiten und dritten Generation Kritischer Theorie wird folglich alsbald zu schreiben sein; sie ist weniger mit dem Ort Frankfurt am Main verbunden, wo das Institut für Sozialforschung unter der Führung des Habermasschülers Honneth das Erbe Kritischer Theorie nicht angetreten ist.[135]

Die bundesweite Abwicklung der institutionalisierten Kritischen Theorie, die eben auch mit ihrer Emeritierung einherging, steht im Gegensatz zur Notwendigkeit ihrer Erneuerung. Dass dies offenbar von vereinzelten Studierenden, die sich zur Kritischen Theorie hingezogen fühlen, allerdings über die gesamte Hochschullandschaft versprengt sind, so erkannt wird, kann möglicherweise ein hoffnungsvolles Zeichen dafür sein, dass sich aus diesem Geist erneuter und zeitgemäßer Zusammenhang bildet, der an den Hochschulen, wo ebenso vereinzelt einige wenige noch verbliebene Lehrerinnen und Lehrer wie Alex Demirovic die Kritische Theorie lehren, sich ausbreitet. Inwieweit sie auch außerakademisch Fuß fassen kann, ist längst nicht ausgemacht. Die Anknüpfung an emanzipatorische Praxis zu finden, ist aber unabdingbar für den Wahrheitsanspruch einer Theorie, die sich kritisch nennt. Nicht nur drängt die Kritische Theorie zur wirklichen Krisenkonstellation unserer Zeit, sondern umgekehrt: Es umkreist auch menetekelartig die krisenhafte Wirklichkeit den Gedanken einer kritischen Theorie, die zur Praxis drängt.

Anmerkungen:

[1] Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Der Gedanke, in: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1948), Frankfurt am Main 1988, S. 261.

[2] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik (1966), Frankfurt am Main 1994, S. 45.

[3] Vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk (1928/29, 1934–1940), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. V/1, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991, S. 578.

[4] Georg W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820), in: ders.: Werke, Bd. 7, S. 26 ff.

[5] Ebenda.

[6] Karl Marx: Thesen über Feuerbach (1845/46), in: ders., Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 3, S. 6.

[7] Karl Marx, Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten (1845/46), in: MEW, Bd. 3, S. 27. – Für weiterführende Gedanken zum »Zeitkern der Wahrheit« siehe Gerhard Gamm: Vom »Zeitkern der Wahrheit«. Anmerkungen zu Geschichte und Wahrheit in der Kritischen Theorie, in: ders. (Hg.): Angesichts objektiver Verblendung. Über Paradoxien kritischer Theorie, Tübingen 1985, S. 229-251.

[8] Vgl. Peter Sloterdijk: Die Kritische Theorie ist tot. Peter Sloterdijk schreibt an Assheuer und Habermas (1999), in: Zeit-online, www.zeit.de [tinyurl.com/3zbwozr], 29.07.2011; siehe in Bezug auf den Basistext der kritischen Theorie, der »Dialektik der Aufklärung«, u.a. auch: »Dialektik der Aufklärung«. Glanz und Elend eines Buches, in: Neue Rundschau, Jg. 108, Heft 1, 1997.

[9] »Tiefe heißt, wirklich nicht mit der Oberfläche sich begnügen, sondern heißt, die Fassade durchbrechen. Und dazu gehört allerdings auch, daß man mit keinem noch so tief sich selbst gebenden, aber bereits vorgegebenen Gedanken zufrieden ist; und daß man vor allem auch nicht das eigene Ticket, die eigene Parole, die eigene Zugehörigkeit zu einer Gruppe für die Garantie der Wahrheit hält, sondern daß man auch dem Eigenen gegenüber mit der rücksichtslosen Kraft der Reflexion sich einläßt, ohne darauf so sich festzumachen, als ob man es nun ein für allemal und gesichert in der Hand hätte.« – Theodor W. Adorno: Vorlesungen über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66, in: ders.: Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 16, Frankfurt am Main 2003, S. 157.

[10] Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (1937), in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 162-216; S. 208.

[11] Ebenda.

[12] Ebenda, S. 212.

[13] Ebenda, S. 171.

[14] Max Horkheimer: Nachtrag [zu »Traditionelle und kritische Theorie«] (1937), in: ders.: GS, Bd. 4, S. 217.

[15] Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied 1967.

[16] Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, S. 204.

[17] Ebenda, S. 174; vgl. auch bezüglich der sinnlichen Organe der Wahrnehmung Marxens Theorie der Sinne: Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, drittes Manuskript, in: MEW, Bd. 40, S. 533-546.

[18] Adorno: Negative Dialektik, S. 29. – Siehe auch Joachim Perels: Judentum und Gesellschaftskritik. Zu Motiven in Adornos Denken, in: ders. (Hg.): »Leiden beredt werden lassen…« Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover 2006, S. 85-96.

[19] Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, S. 204.

[20] »In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.« – Marx: Thesen über Feuerbach, S. 5.

[21] Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik, S. 127 f.

[22] Georg W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik. Erster Teil (1812), in: ders.: Werke, Bd. 5, Frankfurt am Main 1979, S. 114.

[23] Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, S. 481-494; S. 481.

[24] Adorno: Negative Dialektik, S. 358.

[25] Ebenda, S. 391: »Die metaphysischen Interessen der Menschen bedürfen der ungeschmälerten Wahrnehmung ihrer materiellen. Solange diese ihnen verschleiert sind, leben sie unterm Schleier der Maja. Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.«

[26] Vgl. Marcus Hawel: Abbruch der Dialektik – Die Geburt des bürgerlichen Staates. Zur Kritik der Rechtsphilosophie Hegels (1999), in: sopos 12/2001, [tinyurl.com/3q2p5mz].

[27] »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.« – Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807), in: ders.: Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main 1986, S. 24.

[28] Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 1951, Aph 29, S. 57.

[29] Adorno: Negative Dialektik, S. 151.

[30] Vorbereitet wird diese negative Wendung der Dialektik bei Adorno in seinen »Drei Studien zu Hegel« (1963), Frankfurt am Main 1974. – In der »Negativen Dialektik« liegt die negative Wendung schließlich vor.

[31] Vgl. Hawel: Abbruch der Dialektik.

[32] »Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.« – Georg W. F. Hegel: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796 oder 1797), in: ders.: Frühe Schriften, Werke, Bd. 1, Frankfurt am Main 1970, S. 234 f.

[33] Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257, S. 398.

[34] Vgl. Rolf Johannes: Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995, S. 41-67.

[35] Die Methode der immanenten Kritik entfaltet Marx in einem Brief an Arnold Ruge. – Vgl. M. an R., Kreuznach im September 1843, in: Briefe aus den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« (1844), in: MEW, Bd. 1, S. 345 f.; siehe auch Marcus Hawel: Das ideologiekritische Verfahren der immanenten Kritik (2008), in: Goethe Institut, www.goethe.de [tinyurl.com/3jq35o9], 21.07.2011.

[36] Das Verhältnis des Menschen zur Natur hat Marx in seinen Pariser Manuskripten aus dem Jahre 1844 dargelegt. Diese Schrift war verschollen und wurde von Siegfried Landshut Ende der 1920er Jahre im SPD-Archiv wieder entdeckt und 1932 erstmals veröffentlicht. – Vgl. Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, S. 465-588. – Für den Heideggerschüler Marcuse ist die Lektüre derart erhellend gewesen, dass er sich fortan der Marxschen Philosophie zuwandte. – Wesentliche Gedanken zum Naturverhältnis sind bei Marx auch in der »Deutschen Ideologie« ausgeführt. – Vgl. Marx, Engels: Die deutsche Ideologie; vgl. auch Alfred Schmidt: Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx, Frankfurt am Main 1971.

[37] Die materialistische Geschichtsauffassung hat Schmidt für die Kritische Theorie umfassend aufgearbeitet. – Vgl. Alfred Schmidt: Geschichte und Struktur, München, Wien 1971; ders.: Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie, München, Wien 1976.

[38] Herbert Marcuse: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Frankfurt am Main 1962, S. 229.

[39] Vgl. Hawel: Abbruch der Dialektik.

[40] Vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden Soziologie (1921/22), Studienausgabe, Tübingen 1980.

[41] Siehe Max Horkheimer (mit Theodor W. Adorno und Eugen Kogon): Die verwaltete Welt oder die Krisis des Individuums, in: ders.: Nachgelassene Schriften, Bd. 13, Frankfurt am Main 1985, S. 121-142.

[42] Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), in: ders.: Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1988, S. 306-443; S. 332.

[43] Ders.: Wissenschaft als Beruf (1922), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 17, Tübingen 1992; vgl. ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), Tübingen 1988, S. 183-205.

[44] Siehe Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), in: ders.: Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt am Main 1974, S. 61-134; ders.: Die Zukunft einer Illusion (1927), ebenda, S. 135-190; ders.: Das Unbehagen in der Kultur (1930), ebenda, S. 191-270.

[45] Siehe das Kapitel »Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats« in: Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt, Neuwied 1976.

[46] Dies hat der aus Japan stammende Sozialphilosoph Kinichi Mishima vor vier Jahren auf einer Tagung in Essen zur Internationalisierung der »deutschen« Geisteswissenschaften sehr eindrucksvoll ausgeführt. – Vgl. hierzu Marcus Hawel: Humboldt als Quelle der Wertschöpfung. Deutsche Geisteswissenschaften in der Internationalisierung (2008), in: Goethe Institut, www.goethe.de [tinyurl.com/6dg5osd], 16.07.2011.

[47] Marx hatte die Thesen, laut Engels, »rasch [in sein Notizbuch; MH] hingeschrieben, absolut nicht für den Druck bestimmt, aber unschätzbar als das erste Dokument, worin der geniale Keim der neuen Weltanschauung niedergelegt« sei. 1888 wurden die Thesen erstmals von Engels als Anhang zu seiner Schrift »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« in redigierter Fassung veröffentlicht. In Marxens Notizbuch heißt es: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« Engels redaktionelle Veränderung lautet: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.« – Vgl. Marx: Thesen über Feuerbach, S. 5 ff. und S. 533 ff. – Der semantische Unterschied ist nicht zu gering zu veranschlagen und hat sich im Streit um das Verhältnis von Theorie und Praxis als verheerend ausgenommen. Bestimmte antiintellektualistische Missverständnisse schleppen sich bis heute fort und sind offenbar nicht mehr zu tilgen.

[48] Vgl. Michael Buckmiller: Die Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassung auf die Geschichte des Marxismus, in: Karl Korsch: Gesamtausgabe, Bd. 3: Marxismus und Philosophie, hrsg. und eingeleitet von Michael Buckmiller, Amsterdam 1993.

[49] Der Begriff wird von dem britischen Historiker Perry Anderson geprägt. – Vgl. Perry Anderson: Considerations on Western Marxism, London 1976 (dt. Übersetzung: Über den westlichen Marxismus, Frankfurt am Main 1978).

[50] Vgl. Michael Buckmiller: Die »Marxistische Arbeitswoche« 1923 und die Gründung des »Instituts für Sozialforschung«, in: Willem van Reijen, Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Grand Hotel Abgrund, Hamburg 1988, S. 141-182.

[51] Die Aktualisierung ist freilich ein umfassendes Forschungsprojekt, das hier und in dem vorliegenden Sammelband nur angestoßen, nicht aber eingelöst werden kann.

[52] Vgl. Detlev Claussen: Blick zurück auf Lenin, in: ders. (Hg.): Blick zurück auf Lenin. Georg Lukács, die Oktoberrevolution und Perestroika, Frankfurt am Main 1990, S. 7-41; vgl. auch Marcus Hawel: Weltgesellschaft ohne Revolution?, in: Michael Jäger (Hg.): Globalisierung, Nation, Internationalismus. Orte des Widerstands – eine linke Debatte, Berlin 2002, S. 77-97.

[53] Vgl. Karl Marx: Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch (1881), in: MEW, Bd. 19, S. 384-406.

[54] Ebenda, S. 404 f.

[55] Der Determinismus in der materialistischen Geschichtsauffassung wurde u. a. aus einer Äußerung von Marx aus dem »Kapital« abgeleitet: »Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. (…) Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen.« – Karl Marx: Das Kapital. Erster Band, in: MEW, Bd. 23, S. 12. – Die »Vorstellung von Stadien, Übergängen, Perioden, Epochen, Formationen, von ›mit eherner Notwendigkeit‹ wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen« wird von Oskar Negt und Alexander Kluge umfassend infrage gestellt. Die Geschichte bürge in sich weitaus mehr Kontingenz als Gesetzmäßigkeiten: »Einer der Gründe für diese Täuschung, daß es solche Gesetzmäßigkeiten im Geschichtsverlauf gab, liegt darin, daß die Entwicklungslinie kapitalistischer Expansion mit der geschichtlichen Entwicklung mehr oder minder parallel gesetzt wird. Indem sich das Kapital in nichtkapitalistische Räume hineinfrißt, entsteht der Eindruck, daß diese Logik der geschichtlichen Entwicklung bestimmt. Von da aus entsteht eine Vorstellung von Linearität, denn die Aufzehrung nicht-kapitalistischer Räume wird vorgestellt als ein Prozeß, der gleichzeitig notwendig die Gegenkräfte erzeugt, die in dem Maße erstarken, wie sich das Kapital selber entwickelt. (…) Was aber wäre, wenn einer auf Reifungsprozesse oder Stufen wartet, die nach der spezifischen Kristallisation einer Vorgeschichte so nie eintreten werden, obwohl es Tatsachen gibt, die bisher darauf hingedeutet haben, daß Ähnlichkeiten zur Bewegungslinie eines geschichtlichen Vorbildes existieren? Dann gab es in Wirklichkeit keine Geschichtsuhr, und es gab nicht dieses, sondern ein ganz anderes Gesetz, dem die Entwicklung gefolgt ist. Die Verfrühtheit oder Unreife eines gesellschaftlichen Kampfes oder die Verspätung einer Gesellschaft existieren dann nur als falsches Meßsystem und nicht authentisch.« – Oskar Negt, Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Bd. 2: Deutschland als Produktionsöffentlichkeit, Frankfurt am Main 1993, S. 567 ff.

[56] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), in: ders.: Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1955, These XIV.

[57] Antonio Gramsci: Gefängnishefte (1926), Bd. 4, Hamburg 1994; vgl. auch Sabine Kebir: Gramscis Zivilgesellschaft. Alltag, Ökonomie, Kultur, Politik, Hamburg 1991.

[58] Gramsci: Gefängnishefte.

[59] Der Begriff der Zivilgesellschaft, von Antonio Gramsci entlehnt, ist seit mehr als einem Jahrzehnt zum theoretischen und praktischen Bezugspunkt unter Linken geworden. Diesbezüglich hat eine begriffliche Verschiebung stattgefunden, die mit einem umfassenden Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun hat, aber durchaus auch auf ein produktives Missverständnis in Bezug auf Gramsci zurückzuführen ist. – Vgl. JS: Zivilgesellschaft und Revolution. Antonio Gramscis Definition eines Begriffs, der zum Modewort wurde, in: ak – analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 441 vom 31. August 2000. – Die Zivilgesellschaft bestehe demnach aus einem fortschrittlich-demokratischen Netzwerk von Institutionen, Einrichtungen und Gruppen. Die Begriffsverschiebung läuft darauf hinaus, die gesellschaftliche Sphäre gegenüber dem Staat zu politisieren und damit zu verselbständigen, so dass sich die Gesellschaft vom Staat emanzipieren kann. Die Organisationsstruktur der repolitisierten Gesellschaft ist demnach von einem demokratisch-pluralistischen Toleranzverständnis getragen, betont einen universalistischen Wertekanon und außerdem die Rechtstaatlichkeit als zivilgesellschaftliche Prinzipien. Das Gewaltmonopol soll in den Händen des Staates bleiben und seine letzte unangetastete Aufgabe sein. Mit dieser Begriffsbestimmung ist das Konzept der Zivilgesellschaft strategisch maßgeblich vom Kommunitarismus beeinflusst, der wiederum von Hannah Arendt inspiriert wurde. Mit Gramscis ursprünglichen Begriff der Zivilgesellschaft hat das weniger zu tun. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben, dass es heute unmöglich geworden sei, die zivilgesellschaftliche Sphäre zu verstaatlichen. Solange gesellschaftliche Konflikte in der Zivilgesellschaft über den Konsens beigelegt werden können, verhält sich der Staat zur Gesellschaft weitgehend friedlich. Der Schein einer harmonischen Idylle kann entstehen, der die ideologische Funktion eines Quietivs erfüllt. Aber der Wolf versteckt sich nur im Schafspelz; auch der »demokratisch« verfasste Staat schreckt nicht vor dem Einsatz brutalster Gewalt gegen die Bevölkerung zurück, wenn die Herrschaftsverhältnisse ins Wanken geraten.

[60] Ernst Thälmann: Die Lehren des Hamburger Aufstandes, 23. Oktober 1925, in: ders.: Ausgewählte Reden und Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1976, S. 69 ff.

[61] Rosa Luxemburg: Unser Programm und die politische Situation (1918), in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 486-511.

[62] Hermann Schweppenhäuser: Zur Dialektik der Emanzipation, in: ders.: Vergegenwärtigungen zur Unzeit? Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg 1986, S. 19.

[63] Vgl. Marcus Hawel: Negative Kritik und bestimmte Negation. Zur praktischen Seite der kritischen Theorie, in: Marcus Hawel, Gregor Kritidis (Hg.): Aufschrei der Utopie. Möglichkeiten einer anderen Welt, Hannover 2006, S. 98-116; 106 ff.; vgl. auch Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt am Main 1959, S. 168 f.

[64] Vgl. Bertolt Brecht: Fragen eines lesenden Arbeiters (1928), in: ders.: Kalendergeschichten, Hamburg 1953, S. 74.

[65] Bernsteins Revisionismus ist allerdings von dem Kautskys grundverschieden. Dieser war ein Verfechter eines praktischen Reformismus, der sich nur in Sonntagsreden verbalradikal artikulierte. Bernstein dagegen kritisierte diesen phrasenhaften Radikalismus des kautskyanischen, marxistischen »Zentrums«, der in der politischen Praxis für ihn dann zu reformistisch ausfiel. Bernstein verdient jedenfalls eine positivere Bewertung seiner Person; er war Verfechter einer Sozialisierung der Monopolkapitale, befürwortete außerparlamentarische Kampfmittel wie den politischen Massenstreik und war bereits 1915 in der Frage der Kriegskredite ein konsequenter Antimilitarist, der sich gegen die Mehrheit der SPD stellte und 1917 zu den Gründungsmitgliedern der USPD gehörte. – Vgl. Christoph Butterwegge: Der Bernstein-Boom in der SPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1978, S. 579-592.

[66] Vgl. Leo Trotzki: Die permanente Revolution: Ergebnisse und Perspektiven (1906/1928), Essen 1993.

[67] Solche Borniertheit erinnert an Hegel. Dieser hatte in seiner »Rechtsphilosophie« die Auffassung vertreten: »Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht, welche eben nicht die Sache des Volks ist.« – Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 469, § 301.

[68] »Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz, in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten.« – Karl Kautsky: Revision des Programms der Sozialdemokratie in Österreich, in: ders.: Neue Zeit, 1902/03, Bd. 1., zit. n. Bernd Leineweber: Intellektuelle Arbeit und kritische Theorie. Eine Untersuchung zur Geschichte der Theorie in der Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1977, S. 63. – Lenin zitiert Kautsky mit Zustimmung. – Vgl. Lenin: Was tun? (1902), in: ders.: Werke, Bd. 5, S. 395. – Zu diesem Zeitpunkt befand sich Lenin allerdings noch auf der Höhe der Zweiten Internationalen, d.h. er wartete noch auf die Revolution in Deutschland und darauf, dass im Zuge dieser die Genossen in Deutschland die politische Führung in der Weltrevolution übernehmen.

[69] Das gilt allerdings nicht für die russischen Anarchisten, die sich der Unterordnung widersetzten und von den Bolschewiki, angeführt von Leo Trotzki, bekriegt wurden. Die Kronstädter Matrosen, die im März 1921 gegen die Sowjetregierung mit der Parole »Alle Macht den Sowjets – Keine Macht der Partei« u. a. gegen die Parteibindung der Sowjets und den Zentralismus aufstanden, wurden von den Bolschewiki brutal niedergeschlagen. Leo Trotzki hat die Resolution der Kronstädter Matrosen als kleinbürgerlich abgetan; es würden »Sowjets ohne Kommunisten« gefordert werden. – Siehe Johannes Agnoli, Cajo Brendel, Ida Mett: Die revolutionären Aktionen der russischen Arbeiter und Bauern: Die Kommune von Kronstadt, Berlin 1974. – Die anarchistische Bauernbewegung »Machnowschtschina« in der Ukraine, die im russischen Bürgerkrieg gegen die Weiße Armee zunächst mit Trotzkis Roter Armee verbündet war, wurde von dieser, nachdem die Weiße Armee besiegt worden war, 1922 zerschlagen. – Siehe Rudolf Rocker: Der Bankrott des russischen Staats-Kommunismus (1921), in: Rudolf Rocker, Emma Goldman: Der Bolschewismus. Verstaatlichung der Revolution, Berlin 1968. – Die Bekriegung der anarchistischen, sozialrevolutionären Bewegungen in Russland, für die die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes zum einzigartigen Mahnmal für zukünftige Experimente mit Parteikommunismus geworden ist, manifestiert den Sündenfall der Bolschewiki in der Oktoberrevolution. – Siehe auch Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft, Münster 2007.

[70] Vgl. Oskar Negt: Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie, in: Nikolai Bucharin, Abram Deborin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, Einleitung von Oskar Negt, Frankfurt am Main 1974, S. 7-48; siehe auch Marcuse: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied 1964; Maurice Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt am Main 1968.

[71] »Will man die Transformation der Dialektik als einer ›revolutionären Methode‹ gesellschaftlicher Theorie und Praxis in ein pseudowissenschaftliches Legitimationsverfahren, wie es von den sowjetischen Philosophen der 20er Jahre faktisch produziert wurde, nachvollziehen und in seiner inhaltlichen Leere begreifen, so erscheint es ratsam, die Behauptung der Universalität der Dialektik durch die Rekonstruktion dialektischen Denkens bei Hegel und Marx kritisch zu hinterfragen. Es geht der Sache nach um einen Funktionswandel von Theorie.« – Michael Buckmiller: Überlegungen zum Problem der Dialektik und revolutionärer Theorie als Theorie der Geschichte, unveröffentlichtes Manuskript, das Buckmiller im Seminar (WS 1996/97, Universität Hannover) als Vorüberlegung zu den Texten von Abram Deborin und Nikolai Bucharin zur Diskussion gestellt hat.

[72] Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt am Main 1976, S. 21.

[73] Vgl. W. I. Lenin: Marxismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie (1908), in: ders.: Werke, Bd. 14, S. 7-366; vgl. Max Horkheimer: Über Lenins Materialismus und Empiriokritizismus (1928), in: ders.: GS, Bd. 11, Frankfurt am Main 1985, S. 171-174.

[74] »Es ist eben das nachrevolutionäre Rußland, in dem sowohl Materialismus und Empiriokritizismus, dessen Autor noch in der Entstehungszeit dieser Streitschrift freimütig bekannte, in Fragen der Philosophie nicht wirklich kompetent genug zu sein, als auch die fragmentarische Nachlaßsammlung »Dialektik der Natur« des späten Engels (ursprünglich bezeichnenderweise unter dem Titel ›Dialektik und Natur‹ veröffentlicht) kanonisiert und zu Klassiker- Texten, aus denen man verbindliche Richtlinien für das Denken überhaupt gewinnen zu können glaubt, verdinglicht werden.« – Negt: Marxismus als Legitimationswissenschaft, S. 9.

[75] Vgl. auch Abram Deborin: Materialistische Dialektik und Naturwissenschaft, in: Bucharin, Deborin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 93-134.

[76] 1931 fiel der sowjetische »Staatsphilosoph« Deborin bei Stalin in Ungnade. Anders als Deborin, der den stalinistischen Säuberungen nicht zum Opfer fiel, nur sein Amt als Chefredakteur der Zeitschrift »Unter dem Banner des Marxismus« verlor, wurde Bucharin, Revolutionär der ersten Stunde, im dritten Moskauer Schauprozess 1938 zum Tode verurteilt und erschossen. – Vgl. auch die absurd anmutenden Selbstbezichtigungen Bucharins aus dem Prozessbericht der Verhandlungen vor Gericht: Letztes Wort des Angeklagten Bucharin, ebenda, S. 264-282.

[77] Ernest Mandel bezeichnet den Stalinismus als »sowjetischen Thermidor«, bzw. als »bürokratische Konterrevolution«. – Vgl. Ernest Mandel: Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Zur Verteidigung der Oktoberrevolution, Köln 1992, S. 70. – Wenn man sich auf diese Begrifflichkeit einlässt, dann muss aber auch gesagt werden, dass diese »bürokratische Konterrevolution« nur deshalb so leicht gelingen konnte, weil der Schritt von der Diktatur der Partei über das Proletariat hin zur Diktatur des Parteichefs über die Partei schon in der Rolle von Lenins Avantgardepartei als missverstandene »Diktatur des Proletariats« (Marx) angelegt gewesen war.

[78] »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.« – Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution, in: dies.: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 359.

[79] Vgl. Jörn Schütrumpf: Rosa Luxemburg oder: Die Freiheit der Andersdenkenden. Wer hat Angst vor Rosa Luxemburg?, Standpunkte 1/2011, Rosa-Luxemburg-Stiftung, S. 2 f., www.rosalux.de [tinyurl.com/6e2xht5], 16.07.2011.

[80] Vgl. Leineweber: Intellektuelle Arbeit und kritische Theorie.

[81] Es erwies sich als Tragödie, dass der sogenannte realexistierende Sozialismus den individuellen Freiheitsrechten wenig bis keinen Spielraum gewährte. Auch heute noch hat es den Anschein, dass es in der Linken in Deutschland, insbesondere in der Linkspartei, mehr Leninisten und Trotzkisten als Luxemburganhänger gibt. Mit ihnen kann sich die Parteibürokratie passabel einrichten, muss parteiintern nicht alles zur Diskussion stellen, was in Hinterzimmern beschlossen wird.

[82] Kritik ist ein solidarisches Moment: Ausdruck von Berührung, gleichsam von Zuneigung und Liebe. Was nicht kritisiert wird, wird entweder gleichgültig ignoriert, überhöht oder verachtet. Allzu oft wird Liebe mit Ehrfurcht verwechselt, die Kritik ausschließt. Gegenstand der Kritik ist in einem Liebesverhältnis allerdings nicht die Schwäche als Schwäche. Es gilt Adornos Aphorismus: »Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dich zeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.« – Adorno: Minima Moralia, Aph. 122, S. 255. – Weil wir mit unseren Feinden oft kritischer als mit unseren Freunden ins Gericht gehen, scheint es so, als liebten wir unsere Feinde mehr als unsere Freunde. Insofern gilt der Spruch: Wer liebenswürdige Feinde hat, braucht keine Freunde mehr. In Wahrheit erweisen wir uns gegenüber unseren Freunden lediglich als liebesunfähig, wenn wir ihre Nähe suchen, um es uns heimelig, das heißt wärmend einzurichten.

[83] Friedrich Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei (1865), in: MEW, Bd. 16, S. 77.

[84] Korsch, auf den ideengeschichtlich die juristische Aktion (Jürgen Seifert) zurückgeht, wies darauf hin, dass erworbene Rechtspositionen nicht leichtfertig preisgegeben werden dürfen, weil das Recht aus dem emanzipatorischen Kampf hervorgegangen ist und zugleich eine verbesserte Ausgangslage darstellt für die weiteren Kämpfe des geschichtlichen Entwicklungsprozesses. Buckmiller wendet allerdings ein: »Andererseits können Rechtspositionen nur gehalten werden, wenn die grundsätzlichen Illusionen über das bürgerliche Recht preisgegeben werden und dadurch die revolutionäre Kampfkraft sich zu einem realsoziologischen Bedrohungsfaktor steigert, der die infrage gestellten Rechtspositionen auch tatsächlich machtpolitisch zu halten in der Lage ist.« – Michael Buckmiller: Karl Korsch (1886–1961). Marxistische Theorie und juristische Aktion, in: Kritische Justiz (Hg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Jürgen Seifert zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1988, S. 262.

[85] Wie diese Autoritarisierung in Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung tatsächlich von sich gegangen ist, lässt sich sehr gut nachvollziehen bei Leineweber: Intellektuelle Arbeit und kritische Theorie.

[86] Vgl. Karl Korsch: Marxismus und Philosophie (1923), in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. und eingeleitet v. Michael Buckmiller, Amsterdam 1993; Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein.

[87] Für Lukács etwa ging diese Bedrohung u.a. auf Deborins »kritische« Rezension von »Geschichte und Klassenbewußtsein« zurück. – Vgl. Abram Deborin: Lukács und seine Kritik des Marxismus (1924), in: Bucharin, Deborin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 189-219.

[88] In »Mein Weg zu Marx« aus dem Jahr 1933 schreibt Lukács, dass er in »Geschichte und Klassenbewußtsein« »entscheidende Fragen der Dialektik noch idealistisch gelöst« und »mit einem ultralinks-subjektivistischen Aktivismus« vermengt habe. – Vgl. Georg Lukács: Mein Weg zu Marx, in: ders.: Schriften zu Ideologie und Politik, hrsg. v. P. Ludz, Neuwied 1967, S. 323-329. – Noch in dem Vorwort von »Geschichte und Klassenbewußtsein«, Auflage von 1967, distanziert sich Lukács von seinem 1923 vermeintlich noch nicht klassenkonform proletarisch durchdachten Werk und bezeichnet es als ambivalent, da er erst im Begriff war, von der bürgerlichen in die proletarische Klasse hinüberzuwechseln: »Wenn es schon Faust gestattet wird, zwei Seelen in seiner Brust zu bergen, warum kann bei einem sonst normalen Menschen, der aber inmitten einer Weltkrise von einer Klasse in die andere hinüberwechselt, nicht das gleichzeitige, widerspruchsvolle Funktionieren entgegengesetzter geistiger Tendenzen feststellbar sein? Ich wenigstens, soweit ich in der Lage bin, mich dieser Jahre zu entsinnen, finde in meiner damaligen Gedankenwelt simultane Tendenzen der Aneignung des Marxismus und politischen Aktivierung auf der einen Seite und einer ständigen Intensivierung rein idealistisch ethischer Fragestellungen auf der anderen.« – Georg Lukács: Vorwort (1967) [zu »Geschichte und Klassenbewußtsein«], in: ders.: Frühschriften II, Bd. 2 der Werkausgabe, Neuwied 1968. – Damit ist freilich ebenso angezeigt, was Lukács nach dem Kniefall gegenüber der Komintern von Horkheimer und Adorno gedacht hat, die die bürgerliche Klasse eigentlich niemals verlassen haben. Im Vorwort von 1962 zu seinem Werk »Theorie des Romans« von 1916, das er nachträglich ebenfalls quasi als bürgerlich-idealistisch denunziert, polemisiert er gegen die vermeintliche Praxisabstinenz der Kritischen Theoretiker: »Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen, ein – wie ich bei Gelegenheit der Kritik Schopenhauers schrieb – ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffiniertem Komfort nur erhöhen.‹« – Georg Lukács: Vorwort, in: ders.: Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Hamburg 1962, S. 16. – Angesichts des Schicksals, welches selbst Bucharin, der ein Wegbereiter der »stalinistischen Philosophie« gewesen ist, zuteil wurde, mögen diese nachträglichen Distanzierungen vom westlichen Marxismus als Vorsicht einigermaßen verständlich sein. Andererseits hätte sich aber Lukács genauso wie Korsch dem Machtbereich Moskaus auch entziehen können. Wiederum andererseits muss man sich auch fragen, warum Lukács überhaupt einer Wiederauflage der beiden inkriminierten Werke zustimmt, was ja nichts anderes bedeuten muss, als dass er sie für lesenswert hält, obwohl er sie in seinen Vorwörtern als nicht lesenswert abtut und von deren Aussagen er sich offiziell distanziert. Möglicherweise ist dieses Verhalten auch als kühn und listig zu bewerten, wenngleich die Wiederauflage in der nachstalinistischen Zeit erfolgt.

[89] Vgl. Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule: Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München u. a. 1986, S. 27.

[90] Vgl. ebenda, S. 30 f.

[91] Anderson: Über den westlichen Marxismus, S. 40.

[92] Ebenda, S. 37.

[93] Vgl. Jossif Stalin: Über die Entwicklung des Sozialismus in einem Lande. Fragen und Antworten. Rede am 9. Juni 1925, in: ders.: Werke, Bd. VII, S. 173 ff.; zit. n. Nikolai Bucharin, Abram Deborin: Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus, S. 397-400.

[94] Anderson: Der westliche Marxismus, S. 38 f.

[95] Vgl. Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, S. 35 ff.

[96] Max Horkheimer: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung (1931), In: ders.: GS, Bd. 3, Frankfurt am Main 1988, S. 20-35.

[97] Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, S. 52.

[98] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1959, S. 1602.

[99] Vgl. Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie (1932), in: ders.: GS, Bd. 3, Frankfurt am Main 1988, S. 48–69; S. 57.

[100] Ebenda, S. 59. – Weitere begriffliche Verschiebungen am Ideologiebegriff nimmt später Adorno vor. – Vgl. Theodor W. Adorno: Beitrag zur Ideologienlehre« (1954), in: ders.: Soziologische Schriften I, Frankfurt am Main 1995.

[101] Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 257, S. 398. – Hegels System der Sittlichkeit vermittelnden Institutionen für die im Faschismus gleichgeschalteten Institutionen und völkische Moral in Anschlag zu bringen, hieße Hegels Philosophie faschistisch zu instrumentalisieren. Gegen diesen gemeingefährlichen Neohegelianismus von rechts ist Hegel in Schutz zu nehmen. Marcuse hat 1941 mit »Vernunft und Revolution« umfassend dargelegt, »daß Hegels Grundbegriffe denjenigen Tendenzen feindselig gegenüberstehen, die zu faschistischer Theorie und Praxis geführt haben«. – Marcuse: Vernunft und Revolution, S. 11. – Franz Neumann macht deutlich, dass das Dritte Reich von Anbeginn einer Zerstörung der Rechtssphäre gleichgekommen ist und folglich der NS-Staat ein Unrechtsstaat gewesen sei. – Vgl. Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (1942–44), hrsg. v. Gert Schäfer, Köln 1977. – Diese Position wird von Ernst Fraenkel allerdings differenzierter oder auch weniger radikal gesehen, der zwischen zwei staatlichen Sphären im Nationalsozialismus unterscheidet, die wenigstens bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges parallel als Doppelstruktur existierten: Normen- und Maßnahmenstaat; während in diesem Willkür vorherrschte, sei in jenem die rechtliche Sphäre – freilich nur für die »Volksgemeinschaft« – noch weitgehend intakt geblieben. – Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat (1941), Frankfurt am Main 1974.

[102] Die Frage der Teleologie und des evolutiven Automatismus der Geschichte verändert mithin auch die Frage nach dem »subjektiven Faktor«. – Siehe nochmals Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, S. 168 f.

[103] »Die terroristischen Diktaturen des Faschismus waren die historische Lösung des Kapitals gegen die Gefahr, die ihm aus der Arbeiterbewegung dieser Gebiete erwuchsen: In einem Klima zunehmender Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten sollten sie jede Spur proletarischen Widerstandes und proletarischer Unabhängigkeit unterdrücken.« – Anderson: Über den westlichen Marxismus, S. 38 f. – Siehe auch Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1995; Rainer Rotermundt: Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994.

[104] Vgl. Max Horkheimer: Die Juden in Europa (1939), in: ders.: GS, Bd. 4, Frankfurt am Main 1988, S. 308-331; ders.: Autoritärer Staat (1940/42), in: ders.: GS, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 293-319; ders.: Vernunft und Selbsterhaltung (1942), ebenda, S, 320-350.

[105] Vgl. Theodor W. Adorno: Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: ders.: Stichworte. Kritische Modelle, Frankfurt am Main 1969, S. 113-148; siehe auch Detlev Claussen, Oskar Negt, Michael Werz (Hg.): Keine Kritische Theorie ohne Amerika, in: Hannoversche Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1999.

[106] Vgl. Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung. In englischer Sprache erschien der Essayband bereits 1944 unter dem Titel: »Philosophische Fragmente« im Verlag »social studies association inc.« in New York.

[107] Siehe Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail, Bd. 1, Hamburg 1998. – Den kausalen Zusammenhang, den Kraushaar zwischen Theorie und Praxis, das heißt zwischen Flaschenpost und Molotowcocktail sieht, ist allerdings zurückzuweisen.

[108] In den 1960er Jahren will Horkheimer nicht mehr viel von seinen Schriften aus den 1930er und 40er Jahren wissen. Im Grunde hatte er inzwischen mit dem Kapitalismus seinen Frieden geschlossen. – Siehe sein Interview in: Der Spiegel vom 6. Januar 1970. – Erst die rebellierende studentische 68er-Generation, die Raubdrucke seiner Schriften anfertigen ließ, bewegte ihn dazu, einer ordentlichen Wiederauflage zuzustimmen. Er versah seine Schriften mit relativierenden Kommentaren, weil er offenbar den Zeitkern ihrer Wahrheit als verblichen angesehen hat.

[109] Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1946), Frankfurt am Main 1985.

[110] Vgl. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, These IX; zur Interpretation des Bildes im Sinne Benjamins geschichtsphilosophischer Ästhetik siehe Tatjana Freytag: Hoffnung im Erinnern – Die gebrochene Utopie des »Angelus Novus«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. XXXIV (2006): Geschichte und bildende Kunst, Göttingen 2006, S. 70-74; siehe auch Marcus Hawel: Fluchtspuren der Geschichte. Verhängnis, Fluch und Erlösung. Anmerkungen zu Walter Benjamins Geschichtsphilosophie anlässlich seines 70. Todesjahres, in: sopos 11/2010, www.sopos.org [tinyurl.com/437urbj].

[111] »Universalgeschichte ist zu konstruieren und zu leugnen. Die Behauptung eines in der Geschichte sich manifestierenden und sie zusammenfassenden Weltplans zum Besseren wäre nach den Katastrophen und im Angesicht der künftigen zynisch. Nicht aber ist darum die Einheit zu verleugnen, welche die diskontinuierlichen, chaotisch zersplitterten Momente und Phasen der Geschichte zusammenschweißt, die von Naturbeherrschung, fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich die über inwendige Natur. Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl aber eine von der Steinschleuder zur Megabombe.« – Adorno: Negative Dialektik, S. 314.

[112] Christoph Türcke: Horkheimer, Adorno und die Destruktivität des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 1/1995, S. 43-56; S. 51.

[113] Vgl. Marcus Hawel: Die verdrängte Erbschaft des Herbstes 1989. Blick zurück mit und ohne Jürgen Habermas, in: vorgänge, Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 185, März 2009, S. 48-58.

[114] Vgl. Türcke: Horkheimer, Adorno und die Destruktivität des 20. Jahrhunderts, S. 55.

[115] Adorno: Negative Dialektik, S. 358.

[116] »Alle Einzelnen sind in der vergesellschafteten Gesellschaft des Moralischen unfähig, das gesellschaftlich gefordert ist, wirklich jedoch nur in einer befreiten Gesellschaft wäre. Gesellschaftliche Moral wäre einzig noch, einmal der schlechten Unendlichkeit, dem verruchten Tausch der Vergeltung sein Ende zu bereiten.« – Ebenda, S. 294.

[117] Siehe hierzu auch die Ausführung zur Universalität und Gegenwärtigkeit der bürgerlichen Kälte in: Marcus Hawel: Identitätspolitik und die Kultur der Moderne. Kritische Anmerkungen zu Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen«, in: vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Nr. 174, Juni 2006, S. 115-129.

[118] Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S. 356.

[119] Horkheimer: Die Juden in Europa, S. 308-331; S. 308 f. Dieses Diktum lässt sich allerdings in der Nachkriegszeit auch auf Horkheimer selbst beziehen, da er im Kontext des Kalten Krieges zunehmend Partei für die USA ergriff und den Kapitalismus nur noch als »das Bestehende« bezeichnete. – Vgl. Wiggershaus: Die Frankfurter Schule, S. 446 f.; siehe auch Alex Demirovic: Theorie, Praxis und Demokratie. Zum Verhältnis von Wolfgang Abendroth und Kritischer Theorie, in: Hans-Jürgen Urban, Michael Buckmiller, Frank Deppe (Hg.): Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Zur Aktualität von Wolfgang Abendroth, Hamburg 2006, S. 35; vgl. auch Demirovic: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999, S. 285 f.

[120] Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44), in: MEW, Bd. 1, S. 385.

[121] Vgl. Detlev Claussen: Kann Kritische Theorie vererbt werden?, in: Tatjana Freytag, Marcus Hawel (Hg.): Arbeit und Utopie. Oskar Negt zum 70. Geburtstag, Frankfurt am Main 2004, S. 271-285; S. 274; vgl. auch ders.: Abschied von gestern. Kritische Theorie heute, Bremen 1986, S. 5 f.

[122] Vgl. Jay: Dialektische Phantasie; Wiggershaus: Die Frankfurter Schule.

[123] Vgl. Eric Hobsbawm, Terence Ranger: The Invention of Tradition, Cambridge 1983.

[124] Kritische Wissenschaftler wie z. B. Kurt Lenk in Erlangen-Nürnberg und Aachen wirkten selbstverständlich auch an vielen anderen Universitäten und gingen ebenso aus anderen geistigen Traditionen hervor, wenn man etwa an die Holzkampschule oder an Frigga und Wolfgang Fritz Haug, Johannes Agnoli und Wolf-Dieter Narr in Berlin denkt. Auch an anderen Hochschulen u. a. in Bremen, Oldenburg, Marburg, Kassel, Frankfurt und Göttingen wirkten Intellektuelle, die nachhaltig von Horkheimer und Adorno geprägt worden waren.

[125] Hinsichtlich der Bedeutung linkssozialistischer Intellektueller, insbesondere Abendroths und Gerlachs, siehe Gregor Kritidis: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Hannover 2008.

[126] Claussen: Kann Kritische Theorie vererbt werden? S. 273.

[127] Frank Kuhne: 25 Jahre Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Universität Hannover. Versuch einer Chronik und Dokumentation 1968 bis 1993, Hannover 1996, S. 40.

[128] Vgl. ebenda, S. 38 ff.

[129] Siehe: Die Fakultät der gefährlichen Möglichkeiten, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 10./11. Juli 1971.

[130] Oskar Negt, Ernst Theodor Mohl, Klaus Meschkat, Detlev Claussen, Barbara Duden u.a.

[131] Peter Brückner, Regina Becker-Schmidt, Alfred Krovoza, Gudrun Axeli-Knapp, Rolf Pohl.

[132] Peter von Oertzen, Jürgen Seifert, Michael Vester, Joachim Perels, Gert Schäfer, Michael Buckmiller, Heiko Geiling u.a.

[133] Hans Mayer, Leo Kreutzer, Heinz Brüggemann, Elisabeth Lenk, Florian Vaßen u.a.

[134] Vgl. Peter Brückner: Die Mescalero-Affaire. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, Hannover 1981; siehe auch Alfred Krovoza, Axel R. Oestmann und Klaus Ottomeyer (Hg.): Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt am Main 1981.

[135] Vgl. nochmals Claussen: Kann Kritische Theorie vererbt werden? S. 276.

Dr. Marcus Hawel hat an der Leibniz Universität Hannover studiert und ist Referent für Bildungspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin.
Dieser Beitrag erschien zuerst in dem von ihm und Moritz Blanke herausgegebenen Sammelband: Kritische Theorie der Krise, Berlin 2012, S. 13-46.

Zur normalen Fassung


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sopos 1/2013