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"Bloodlands" – Gewalt zwischen Don und Donau, im Baltikum, Polen und der Ukraine

Rezension

von Thorsten Wegau

Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905-1933. Hamburger Edition. Hamburg 2012, 575 Seiten.

Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2011, 523 Seiten.

Der Leser sollte sich die Mühe machen und beide Bücher zusammen lesen. Diese über 1000 Seiten sind es wert. Schnell und Snyder stellen die Geschichte eines großen Teils Osteuropas als Geschichte der Gewalt dar. Der von Snyder als "Bloodlands" bezeichnete Raum zwischen Don, Baltikum, Polen und Donau hat mehr als 40 Jahre Krieg, Bürgerkrieg, Genozid, Revolution, Terrorherrschaft und – vorsätzliche – Aushungerung, Klassen- und Rassenverfolgung erlebt. Behandelt Schnell die Phase von der ersten Russischen Revolution 1905 bis zur Kollektivierung 1930 in der Ukraine als "Raum des Schreckens", schließt sich die Darstellung von Snyder mit der Darstellung der Hungersnöte und des Krieges der kommunistischen Staatsmacht gegen Bauernschaft und nationale Minderheiten ab 1930 an. Die beachtlichen Unterschiede zwischen den beiden Arbeiten, sowohl hinsichtlich des methodologischen Vorgehens als auch des Forschungsinteresses, möchte ich hier zurückstellen. Wichtig sind meines Erachtens die Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten, die sich aus den beiden Büchern ergeben.

Räume der Gewalt

Erstens gibt es in Europa keinen Landstrich, der in der Moderne so kontinuierlich der Gewalt ausgesetzt war. Von 1905 bis 1947 war ein großer Teil Osteuropa, insbesondere die Ukraine und Weißrussland, Schauplatz für das massenhafte Abschlachten von Menschen. Trotz der Größe der betroffenen Territorien war an Ausweichen und Flucht nur für kleine Minderheiten zu denken. Orte für Formen friedlicher oder demokratischer Aushandlungsprozesse von gesellschaftlichen Konflikten waren über Jahrzehnte nicht vorhanden. Ohne solche Orte können sich Strukturen für eine gewaltlose Kommunikation nicht ausbilden, zumal eine solche eine gewisse Kontinuität voraussetzt, die in den sich rasch abwechselnden Gewaltherrschaften nicht existierte. So gab es für eine zivilgesellschaftlichen Kultur keine Räume, und sie sollte es nach dem Willen der in den "Bloodlands" agierenden Gewaltherrscher auch nicht geben. Für die Entwicklung eines freiheitlichen Sozialismus blieb kein Raum.

Eine Geschichte des Tötens

Zweitens war die Bevölkerung über Generationen einer Kontinuität von bewaffneter Gewalt und Gegengewalt unterworfen: revolutionäre und konterrevolutionäre Gewalt in der Russischen Revolution von 1905, Krieg zwischen den Mittelmächten und dem Russischen Reich ab 1915 auf russischem Boden und im Baltikum 1916–1917, Bürgerkrieg 1918–1920, die Gewalt bäuerlicher Milizen gegen äußere Eindringlinge, die Kriege von Atamanen[1] und Gewaltunternehmern, die Gewalt während der Kollektivierung und der Horror der Aushungerung ganzer Landstriche durch die Bolschewiki im „Holodomor“ 1930–1933; anschließend stalinistische Deportationen nach ethnischen Kriterien sowie soziale und politische Säuberungen 1936–1938, gefolgt vom faschistischen Vernichtungskrieg 1941–1944 gegen Juden und Slawen; der Partisanenkrieg und die nazistischen Vergeltungsorgien 1941–1945, anschließend wieder stalinistische Nachkriegssäuberungen und der Partisanenkrieg ukrainischer Nationalisten 1945–1947. Diese Gewalt wurde von den Bewohnern der betroffenen Territorien aber nicht nur in der Opferrolle erlebt. Ein bedeutender Teil war selbst aktiv in sozialrevolutionäre Gewalt und staatlich organisierte Gewalt verstrickt. So z.B. kommunistische Requirierungskommandos aus Arbeitern und Soldaten, die häufig noch vom Lande stammten und nun mit bäuerlichem gewaltsamen Widerstand konfrontiert waren. Vergessen werden darf also nicht, dass Opfer selbst zu Tätern wurden. Das gilt auch für Opfer stalinistischer Gewalt, die sich nach 1941 unter deutschem Kommando an der organisierten massenhaften Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger und Nachbarn beteiligten. Ethnische Säuberungen trafen ab 1945 Deutsche, die zuvor zu den Nutznießern der Unterdrückung, Vertreibung und Ermordung von Slawen und Juden gehörten. Über mehrere Generationen sind damit ganze Gesellschaften Traumatisierungsprozessen ausgesetzt gewesen. Welche Auswirkungen diese Geschichte der Gewalt auf die Fähigkeit der Individuen zur friedlichen Konfliktbearbeitung und zum Erlernen ziviler und demokratischer Verhaltensweisen bis heute hat, wäre einer gesonderten Untersuchung wert. Dabei wäre auch zu berücksichtigen, dass sich Ukrainer und die baltischen Völker ganz überwiegend in einer Opferrolle sehen und nicht bereit sind, die Beteiligung an stalinistischen und nazistischen Verbrechen anzuerkennen.

Entzauberung des Mythos Machno

Beide Arbeiten sind bedeutsam für die weitere Entmythologisierung "revolutionärer Gewalt". Schnell zeichnet den Verfall sozialrevolutionärer Rechtfertigung oder widerständiger Abwehr gegen die Wiederkehr der alten Mächte nach. Diese Gewalt verselbständigt sich, wird im Chaos militärischer Gewalt und Gegengewalt zu Terror, der sich gegen die wendet, in deren Namen er begann. Davon nimmt Schnell auch die oft von libertärer Seite verklärte Gestalt eines Nestor Machno nicht aus. Nach seiner durch zahlreiche Quellen gestützten Darstellung war Machnos Anarchismus eher eine Umdeutung bäuerlicher Wünsche nach einem von "äußeren Mächten" (wahlweise: Städtern, Juden, Bolschewiki, Zaristen usw.) ungestörten Leben als der Wille zur Errichtung einer libertären Zivilisation. So stellt sich Machno am Ende als ein Ataman[1] unter anderen dar, der sich lediglich durch den extensiven Gebrauch revolutionärer Phrasen heraushebt. Die insbesondere auf dem Buch von Peter Arschinoff beruhende Wertschätzung Machnos als herausragende Gestalt einer libertären Ukraine und freiheitlichen Alternative zur Herrschaft der Bolschewiki wird nach Schnells Untersuchung im Kern erschüttert. Zumal Schnell zeigt, dass von einem freiheitlichen Neuaufbau der Gesellschaft in den von den Machnowzy beherrschten Gebieten nicht die Rede sein kann. Und dies aus nachvollziehbaren Gründen: auch revolutionäre Armeen müssen unterhalten werden, brauchen Lebensmittel, Waffen und Geld, und zwar aus den Regionen, in denen sie operieren. Da andere Regulierungsmodelle für diesen Konflikt auch revolutionären Armeen nicht zur Verfügung standen, mussten sie sich daher gegen die eigene bäuerliche Basis wenden. Die Durchsetzung solcher Reproduktionsinteressen blamieren also letztendlich jeden ideologischen Überbau. So werden Anarchismus oder Bolschewismus in dieser Phase bis zum Abschluss des Bürgerkrieges 1922 zu reinen Legitimationsideologien für militarisierte Organisationen.

Rassistische und soziale Feinderklärungen und Vernichtungswillen

Insbesondere die Darstellung der Gleichartigkeit kommunistischer und nationalsozialistischer Mord- und Vernichtungsaktionen hat in der deutschen Diskussion Abwehr wegen der angenommenen Singularität der nazistischen Ausrottungspolitik im Holocaust hervorgerufen. So war besonders das Buch von Snyder skeptischen Rezensionen ausgesetzt. Sowohl Schnell als auch Snyder haben quellengesättigte Studien vorgelegt, die bei nüchterner Betrachtung keinen Zweifel aufkommen lassen, dass von sich als kommunistisch oder nationalsozialistisch bezeichnenden Bewaffneten gegen sozial, politisch oder rassisch definierte Menschengruppen vorsätzlich und systematisch Terror und tödliche Gewalt ausgeübt worden ist. Die vorsätzliche Tötung von Millionenmassen von Menschen, die den rassistischen oder sozialen Feinderklärungen der jeweiligen Gewalthaber verfallen waren, war auch deren offen erklärtes Ziel.

Schnell arbeitet heraus, dass im Zuge der Requirierungskampganen der Bolschewiki zur Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Nahrungsmitteln die Versuche, dass Dorf in Kulaken und Dorfarmut zu spalten, scheiterten. In der Folge wurden gegen die Landbevölkerung flächendeckende Repressionen angewandt. Die Bolschewiki weigerten sich, die Ursache für das Scheitern ihrer Politik selbstkritisch zu beleuchten, und führten stattdessen ihre Misserfolge auf politisch oder sozial feindliche Aktivitäten zurück. Diese innergesellschaftlichen Feinderklärungen fanden in der Weise statt, dass beliebige politische Abweichungen von der jeweiligen offiziellen Linie der kommunistischen Partei zum aktiven, konterrevolutionären Verbrechen von politischen Gegnern mutierten ("Kadetten, Sozialrevolutionäre, Trotzkisten"). Nach demselben Muster wurden ganze Menschengruppen willkürlich sozialen Feind- und Gegnerkategorien zugeordnet ("Kulak, Bourgeois"), gerne auch nach familiären Herkünften oder wegen der Verwandtschaft mit angeblichen Konterrevolutionären. Auslöser für Repressionen waren daher eben nicht konkrete Handlungen oder eine kämpferische Haltung. Es reichte, einer von den Kommunisten sozial in Verruf gebrachten Nationalität anzugehören ("Polen", "Wolgadeutsche", Krimtataren usw. usf.) oder einer sozial geringfügig bessergestellten Familie anzugehören. Schon dies führte zur Ermordung von Menschen, der Inhaftierung ihrer Familien bis hin zur Deportation in den Gulag und Liquidierung durch Hunger.

Ein anderes, aber strukturell ebenso ideologisches Konstrukt, dass der rassistischen Feinderklärungen und der darauf aufsetzenden Vernichtungspolitik der Nazis, nimmt in der Darstellung Snyders breiten Raum ein. Hier ist es die Verortung von Menschengruppen in einer rassistischen Hierarchie, die über Leben, Hunger und Ermordung entschied. Dabei weist Snyder zu Recht darauf hin, dass die meisten Opfer nazistischer Gewalt nicht in den Konzentrationslagern in den Grenzen des damaligen Deutschland, sondern in den Vernichtungslagern östlich der Reichsgrenzen, eben in den "Bloodlands" umkamen.

Das Ideal ethnischer oder sozialer Einheit

Entscheidend scheint mir zu sein, dass diese Mordprogramme immer auf die Herstellung ethnisch reiner oder sozial homogener Nationalstaatlichkeit bzw. auf eine soziale Schichtung von hierarchisch angeordneten Rassen und Klassen abzielen. Den Programmen der Bolschewiki und der Nazis lagen Konstruktionen zu Grunde, die auf die Herstellung ethnischer und/oder sozialer Homogenität abzielten. Können wir daher Nationalsozialismus und Stalinismus als mörderische Konzepte zur "nachholenden" Herstellung moderner Nationalstaaten begreifen?

Die Frage danach, ob kommunistischer und Naziterror, sozialer Krieg gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen bis hin zur massenhaften physischen Liquidierung von ukrainischen Bauern mit dem systematischen Mord an der ostjüdischen Bevölkerung gleichgesetzt oder parallelisiert wird, kann am Ende mit einer Gegenfrage beantwortet werden: warum eigentlich nicht? Unter welchem Gesichtspunkt sollte denn die physische Liquidierung von Menschen, lediglich weil ihnen eine politisch und sozial konstruierte Klassen- oder Rassenherkunft zugeschrieben worden ist, zum Ausgangspunkt und zur Gründung einer besseren Gesellschaft taugen? Stellen wir die Frage aus einem anderen Blickwinkel: welche Bedeutung hat es für die Opfer der Kollektivierungspolitik der Bolschewiki 1930 oder des "Generalplanes Ost" der Nazis nach 1940, unter welchem Regime sie verhungern oder etwas schneller per Kugel umgebracht werden? Welche Bedeutung hat es für die Opfer, ob sie nun als „Klassenfeinde“ oder aber als "Untermenschen" an den Grubenrand getrieben werden?

Auf jeden Fall sind sie schlicht zu Objekten für eine Gewalt geworden, die weder emanzipatorische Lernprozesse, noch eine freiheitliche Entwicklung geschweige denn die Fähigkeit, kollektive Angelegenheiten im Geiste einer solidarische Bewusstheit zu regeln ermöglicht. Damit sind aber auch die unabdingbaren Entwicklungsbedingungen für eine freiheitliche Gesellschaft weder gegeben noch kurzfristig herstellbar. Das als Maßstab akzeptiert, interessieren mich Aufrechnungen, welches System mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat und die Überlebenden traumatisiert hat, zunächst einmal nicht.

Auch wenn Darstellungsweise und Forschungsrichtungen beider Bücher erhebliche Unterschiede aufweisen, so gilt doch für beide die Abschlussbemerkung Snyders: "Das NS- und das Sowjetregime machten Menschen zu Zahlen, von denen wir manche nur schätzen, andere recht präzise rekonstruieren können. Es ist unsere Aufgabe als Wissenschaftler, diese Zahlen zu suchen und in den richtigen Zusammenhang zu stellen. Es ist unsere Aufgabe als Humanisten, diese Zahlen wieder zu Menschen zu machen. Wenn uns das nicht gelingt, haben Hitler und Stalin nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Menschlichkeit geprägt." (S. 410)

Anmerkungen

[1] Höchster militärischer Rang der russischen Kosaken

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sopos 1/2013