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Was tun mit Kommunismus?!

von Bernd Gehrke

Nach den dramatischen sozialen Polarisierungen innerhalb und zwischen den Gesellschaften des globalisierten Kapitalismus seit den 1990er Jahren jagt heute das Drama aufeinander folgender kapitalistischer Krisen um die Welt – Krisen, die sich mehr und mehr zu einem großen Krisenkomplex zusammenballen. Eine Dimension dieses Krisenkomplexes ist die Legitimationskrise bürgerlicher Demokratien. In Europa profitiert einstweilen vor allem die populistische Rechte hiervon. Allerdings zeigen die längst global gewordenen aktuellen Revolten und Revolutionen, dass die politischen Gewinner der globalen Krise nicht ausgemacht sind, auch nicht in Europa oder in Deutschland.

So ist es kein Wunder, dass in den letzten Jahren verstärkt antikapitalistische Alternativen diskutiert werden, auch in Deutschland.[1] Damit ist "der Kommunismus" innerhalb der deutschen Linken wieder zu einem Thema geworden, das nicht nur von kleinen Theorie- Zirkeln oder Politgruppen diskutiert wird, sondern mehr und mehr eine breitere linke Öffentlichkeit erreicht.

In dieser Situation ist in Deutschland auch eine Wiederbelebung der ML-Ideologie der gescheiterten pseudosozialistischen Diktaturen des Ostblocks zu verzeichnen. Die Auseinandersetzungen um das Erscheinen der deutschen Ausgabe des italienischen Historikers Luciano Canfora und die Solidarisierung des linken Feuilletons mit dessen geradezu grotesken Behauptungen über die Stalinsche Sowjetunion als Hort der "sozialen Demokratie" sowie seiner ebenso grotesken Aufwärmung altstalinistischer Kontroversen mit dem Trotzkismus lieferten mehr als einen Hinweis darauf, wie dicht unter der Oberfläche stalinoides Denken bei so manchen linken Intellektuellen noch heute sitzt.[2] Die Fortschreibung des originären Stalinismus übernahmen bisher allerdings eher randständige Politgruppen von Altkadern der SED im Umfeld der ostdeutschen KPD, der DKP und der PDS/PDL. Und natürlich die Vielzahl dubioser Interessenvereine des DDR- Sicherheitsapparates, dessen bekannteste Adresse die von vielen linken Friedens- und MenschenrechtsaktivistInnen gern akzeptierte "Gesellschaft für Bürgerrechte und Menschenwürde (GBM)" ist. Verstärktes Auftreten von Stasi-Offizieren bei öffentlichen Veranstaltungen, etwa in der Stasi-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, Grundsatzerklärungen von Stasi-Generälen oder ehemaligen Politbürokraten in der Tageszeitung junge welt ließen schon länger ein neues Selbstbewusstsein und eine politische Offensive in die Öffentlichkeit hinein erkennen.

Einen neuen Schub dieser politischen Offensive des stalinistischen Spektrums, der zu der "Kommunismus-Konferenz" der jungen welt und den Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Öffentlichkeit um die Teilnahme der Vorsitzenden der Partei Die Linke (PDL) führte, leitete die ehemalige RAF- und Stasi-Aktivistin Inge Viett ein. Sie hatte im Januar 2010 in Berlin mit ihrer neuen Gruppe namens Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin (A.R.A.B.) versucht, diese Gruppierung in der linken Öffentlichkeit Berlins durch eine Veranstaltung bekannt zu machen, die sich ideologisch mit der Reinwaschung des sogenannten real existierenden Sozialismus in der DDR hervortat. Auf einer mit ca. 150 Menschen, darunter vielen sehr jungen Leuten, gut besuchten Veranstaltung in Kreuzberg wurde die Gruppe vorgestellt und die ideologische Attacke zugunsten des "Sozialismus in der DDR" gestartet. Im Gestus und auf dem Niveau des DDR-Staatsbürgerkundeunterrichts erfuhren die BesucherInnen über die DDR nun, dass diese im Gegensatz zur Behauptung mancher Linker sozialistisch gewesen sei, dass natürlich die Partei im Interesse des Volkes geherrscht und das Volkseigentum im Interesse des Volkes gestaltet und verwaltet habe. Das Volk, zumal faschistisch verseucht, sei aber zu blöd gewesen, um zu begreifen, dass das Volkseigentum ihm gehörte. Die Freie Assoziation wäre demnach eben erst etwas später gekommen.[3]

Der Audio-Mitschnitt der Veranstaltung verrät leider so gar nichts von der bedrohlichen Stimmung gegenüber KritikerInnen im Raum. Wie in SED-Parteiversammlungen wurden von anwesenden SED-Altkadern und ihren Jüngern mit bösem Unterton die auftretenden KritikerInnen der Podiumsthesen sogleich als feindliche Geheimdienstleute und Konterrevolutionäre denunziert.[4] Den schönen Höhepunkt des Abends bildete die Aufforderung eines ehemaligen DDR-Offiziers an das Publikum, "das Bekenntnis abzulegen" (wörtlich), dass die DDR ein sozialistischer Staat gewesen sei, dessen Charakter für die radikale Linke zukunftsweisend wäre. Dieser Ex-Offizier vertrat die Kommunistische Initiative auf dem Podium, die sich den Zusammenschluss aller SU- und DDR-orientierten KommunistInnen aus allen K-Parteien zum Ziel setzt.[5]

Der Vortrag, den Inge Viett hier gehalten hatte, wurde sodann von der jungen welt publiziert und zum Auslöser der auch in der breiteren publizistischen Öffentlichkeit geführten "Kommunismusdebatte" à la DDR. Befeuert wurde diese Debatte durch die von der jungen welt im Januar 2011 veranstaltete Kommunismus-Konferenz mit Inge Viett, der DKP- Vorsitzenden Bettina Jürgensen sowie der PDL-Vorsitzenden Gesine Lötzsch.[6] Durch das eindeutig uneindeutige Statement von Gesine Lötzsch wurde ihr zuvor in der jungen welt publizierter "Kommunismus"-Artikel nun zum Skandalon der PDL, mit dem bürgerliche Medien und Politik diese wieder einmal durchaus nicht grundlos vor sich her treiben konnten. Schließlich hatte Lötzsch das ihr von Michael Brie in den Text hineinredigierte Bedauern über die "Opfer des Kommunismus" wieder herausgestrichen, wie "innerparteilich" via Spiegel online mitgeteilt wurde.[7]

Die dreiste Leugnung des repressiven Charakters der Polizeistaaten des ehemaligen Ostblocks gegenüber der Bevölkerungsmehrheit und gegenüber jeder linken Kritik sowie Mythen über "sozialistische Errungenschaften" treiben heute also neue Blüten. Die junge welt geht dabei öffentlich voran, lange vor dem 13. August 2011. (Vgl. zur Auseinandersetzung um die Anzeige der jw anlässlich des Mauerbaus express, Nr. 8-9/2011) Angesichts gegenwärtiger sozialer Verwerfungen und angewidert von der Verlogenheit der antikommunistischen Propaganda entdecken aber auch manch junge Linke rot getünchte „Vorzüge der DDR“ à la Kommunistische Initiative, junge welt, Inge Viett und Konsorten. Auf diese Weise tappen Linke nicht nur in die Falle der Neutralisierung antikapitalistischer Strömungen durch die Herrschenden, die nämlich dann die Repressionserfahrungen vieler Menschen in Ost und West mit dem untergegangenen System des "real existierenden Sozialismus" gegen die Linke mobilisieren können. Schlimmer noch ist, dass damit erneut autoritäre Wege betreten werden, die nicht über die in langen geschichtlichen Kämpfen gegen Kapital und Staat erstrittenen Freiheiten hinaus führen, sondern dahinter zurückfallen.

Die bisherigen "real-sozialistischen" Verhältnisse haben sich als antiemanzipatorische Sackgassen erwiesen. Für die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus im 21. Jahrhundert ist eine radikal emanzipatorische Neubestimmung von Theorie und Praxis der antikapitalistischen Linken notwendig. Eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern und Irrtümern der eigenen Geschichte ist dafür eine ebenso unverzichtbare Voraussetzung wie die Suche nach neuen Antworten auf veränderte geschichtliche Bedingungen.

Diese Erkenntnisse sollten den Ausgangspunkt jeder heutigen Debatte über antikapitalistische Perspektiven bilden. Deshalb hat sich in Berlin ein kleiner und heterogener Diskussionskreis der Bewegungslinken aus zwei Libertären und zwei MarxistInnen gebildet. Er will nicht nur in der linken Öffentlichkeit deutlich machen, dass es eine Vielzahl emanzipatorischer Strömungen der Linken gibt, die über Alternativen zum Kapitalismus nachdenkt und die eine kritische Debatte über die Entwicklungen des "real-existierenden Sozialismus" als Voraussetzung für emanzipatorische Alternativen zum Kapitalismus im XXI. Jahrhundert betrachtet. Er versteht sich auch als eine Art "Selbsthilfegruppe", die den Versuch unternimmt, mit Hilfe einer Veranstaltungsreihe herauszufinden, ob es neben dem Ei des Kolumbus auch ein Ei des Kommunismus gibt. Darüber soll in drei zusammengehörenden Veranstaltungen mit einem breiten politischen Spektrum von GenossInnen, welches von unterschiedlichen antistalinistischen Strömungen der PDL über verschiedene marxistische Strömungen der Bewegungslinken bis zu AnarchistInnen reicht, diskutiert werden. So wollen wir in diesem Spektrum von emanzipatorischen antikapitalistischen Linken auch über solche Grundfragen sprechen, ob und inwiefern eine Alternative zum Kapitalismus heute noch unter dem Leitstern eines "Kommunismus" stehen kann. Oder hat die geschichtliche Praxis von Bolschewismus und Stalinismus Begriff und Idee des Kommunismus so verschlissen, dass sie durch andere Leitideen ersetzt werden müssten? Dabei interessiert uns zunächst, wie das Verhältnis verschiedener emanzipatorischer Strömungen der antikapitalistischen Linken zum "real existierenden Sozialismus" war und ist, und warum. Eng verbunden damit soll dem Problem nachgegangen werden, wie sozialistisch der "real existierende Sozialismus" jenseits aller Mythen überhaupt war. Deshalb sollen die von uns eingeladenen Strömungen aber auch bestimmen, was sie selbst unter „Sozialismus“ verstehen. Ebenso wollen wir ausloten, worin diese Strömungen die Ursachen für die Fehlentwicklung des Ostblocks sehen und wie sie den Charakter dieser Gesellschaften rückblickend einschätzen. Schlussendlich wollen wir uns natürlich darüber austauschen, welche emanzipatorischen Auswege aus dem Kapitalismus sich nach dem Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ abzeichnen. Mal sehen, ob wir das Ei des Kommunismus finden.

Bernd Gehrke lebt als Publizist in Berlin und engagiert sich im Arbeitskreis Geschichte sozialer Bewegungen Ost/West.
Infos unter eidesk.wordpress.org.

Anmerkungen:

[1] Als Indiz einer fundamental veränderten Diskussionslage gegenüber den 1990er-Jahren mag hier der Hinweis auf den Frankfurter Kommunismus-Kongress von 2003 (vgl. AK 477 vom 17. Oktober 2003), die an zahlreichen Universitäten seit 2008 wieder entstandenen Marx- und Kapital-Kurse oder die Neuauflage des "Kapitals" von Marx durch den Karl Dietz Verlag genügen. Hinsichtlich neuerer publizistischer Versuche, über Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken, soll hier stellvertretend für eine jüngere Generation auf die Namen von Bini Adamczak, Sarah Wagenknecht oder Raul Zelik verwiesen werden.

[2] Vergleiche Luciano Canfora: „Eine kurze Geschichte der Demokratie“, Köln 2006. Zur Auseinandersetzung mit dem linken Feuilleton siehe Christoph Jünke: „Canfora, Fülberth und der linke Abscheu vor der Demokratie“, in: SoZ, Mai 2007, S. 20 sowie ders.: „Der lange Schatten des Stalinismus. Sozialismus und Demokratie gestern und heute“, Köln 2007.

[3] Siehe den Mitschnitt der Veranstaltung unter http://arab.blogsport.de/2010/09/19/ddr-die-radikale-linke-und- der-realsozialistische-versuch. Zur Kommunistischen Initiative siehe: Kommunistische-Initiative.de.

[4] Vgl. Erica Mühsam & Rita Rocker: „DDR - die radikale Linke & der realsozialistische Versuch. Eine Veranstaltungskritik“, Trend onlinezeitung; sowie Thomas Klein: „Die ‚radikale Linke’ auf dem Weg ihrer Selbstentmündigung? Beobachtungen während einer Veranstaltung im KATO.

[5] Vgl. den Audio-Mitschnitt von Ingo Höhmann sowie Fußnote 3.

[6] Vgl. Inge Viett: „Was war die DDR?“, in: junge welt vom 20. Januar 2010, S. 10. Die Materialien zur diesjährigen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen welt am 8./9. Januar 2011 wurden u.a. in der Beilage der jw am 26. Januar veröffentlicht.

[7] Zur Streichung der "Opfer-Passage" bei Lötzsch vgl. Arnold Schölzel: „Linke Heckenschützen“, in: junge welt vom 12. Januar 2011.

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sopos 11/2011