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Licht im "Land der verwirrenden Lüge"

Rezension

von Stefan Janson

Ante Ciliga, Im Land der verwirrenden Lüge; Vlg. Die Buchmacherei Berlin ; Neuauflage Juli 2010; 303 Seiten; 12 Euro

Das Buch, das zuerst im Jahre 1938 auf französisch und dann 1953 als "Rotes Weißbuch" auf deutsch erschienen ist, hat das Schicksal hinter sich, das so vielen Zeugnissen von ehemaligen Anhängern des russischen Staatskapitalismus in den 50er und noch mehr 60er und 70er Jahren beschieden war. Veröffentlicht in den Zeiten des heißen Kalten Krieges und einer im Westen Deutschlands skeptisch bis abwehrend eingestellten Linken wurde ihm nicht die Bedeutung beigemessen, die ihm beikam.

Damit stand Ciliga aber nicht alleine. Weder die späteren Veröffentlichungen Solschenizyns über den Archipel Gulag noch die Gründung einer Massenorganisation polnischer Arbeiter mit antikommunistischer Ausrichtung haben in der deutschen Linken zu jener Entmischung zwischen den Anhängern eines antidemokratischen Staatskapitalismus bzw. Etatismus und einer libertären, radikaldemokratischen Orientierung geführt. Das "Solidarnosc" just zerschlagen wurde, als die Gewerkschaft in ihr Programm Forderungen nach Arbeiterkontrolle über die Produktion und Selbstverwaltung aufgenommen hatte, daran darf 30 Jahre danach ruhig einmal erinnert werden – auch im Westen dürften da manche bürgerlichen Freunde der "Solidarnosc" aufgeatmet haben. Mag sein, dass dies mit der Schwäche der autochthonen Libertären nach 1945 zu tun hatte, so dass sich wenigstens die in Westdeutschland nach 1968 entwickelnde antiautoritäre Linke vom etatistischen Erbe der Mehrheitsströmungen in der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung affiziert war oder minoritär blieb.

Auf den Zusammenbruch der staatskapitalistischen Systeme im Osten und die Transformation in privatkapitalistische Gesellschaften waren die Mehrheitsmilieus der deutschen Linken daher denkbar schlecht vorbereitet. Die westdeutsche Linke stand so nach der Übernahme der DDR in privatkapitalistische Regie vor einem Scherbenhaufen.

Insoweit kommt die Neuherausgabe des Buches von Ciliga natürlich viel zu spät – obwohl bezweifelt werden darf, dass sie in den 80er Jahren viel bewirkt hätte. Dennoch ist es den Herausgebern Jochen Gester und Willi Hajek hoch anzurechnen, dass sie Ciliga erneut auf dem Büchermarkt präsentieren. Ihre Intention wird im Vorwort deutlich gemacht – und das Buch löst ihr Erkenntnisinteresse auf herausragende Weise ein: "Es ist recht lächerlich, sich an die Vorstellung zu klammern, diese (staatskapitalistischen – d. Rez.) Systeme könnten in ähnlicher Verfasstheit wieder auferstehen, es sei denn als Alptraum. All dies macht es heute unumgänglich, das untergegangene Vergesellschaftungssystem grundsätzlicher in den Blick zu nehmen."(S. 10).

Was Ciligas Buch unter diesem Aspekt besonders interessant macht, ist seine Verknüpfung von Erfahrung, genauer Beobachtung und theoretischer Reflexion. Dazu kommt eine Unvoreingenommenheit und Offenheit, die den Entwicklungsgang Ciligas deutlich macht ohne aufdringlich die eigene Person in den Vordergrund zu schieben.

Als Ciliga im Herbst 1926 in die Sowjetunion reiste, hatte er schon ein reiches Leben als Militanter der sozialistischen und kommunistischen Bewegung im Südosten Europas hinter sich. Schon als Gymnasiast hatte er – zunächst unter nationalistischen Auspizien – gegen die morsche Habsburgermonarchie gekämpft und sich unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges sozialistischen und dann kommunistischen Überzeugungen zugewandt. Dazu kam sein Einsatz in der Ungarischen Räterepublik 1919 und ein Jahr später die Teilnahme an Fabrikbesetzungen in Italien. Sein Aktivismus führte zu seiner Aufnahme in die Leitung der jugoslawischen KP, deren Haltung in der Nationalitätenfrage umkämpft war. Zwischen 1926 und 1935 lebte er in Russland. Nach seiner Ausreise führte er ein recht abenteuerliches Leben, das von der Angst vor stalinistischer Verfolgung geprägt war und unter anderem zur Zusammenarbeit mit Zeitungen im Ustascha-Kroatien führte und nicht immer klare Linien erkennen lässt. Seine späten Arbeiten werden zum Teil als antisemitisch kritisiert. 1992 starb Ciliga mit 94 Jahren in Zagreb, in einem Landstrich des blutigen Bürgerkrieges und ethnischer Säuberungen, in denen nationalistische Eliten mit dem Mittel der rassistischen Mobilisierung und der Gewalt ihre Clanherrschaft absicherten. Das alles wird in einem biographischen Artikel von Stephen Schwartz im Anhang des Buches spannend dargestellt (S.279–302).

Ciliga blieb bis zum 21. Mai 1930 auf freiem Fuß und durchlebte danach das sowjetische Gefängnis- und Lagersystem. Bis zu seiner Verhaftung durch die GPU lernte er die Differenz zwischen sozialistischer Propaganda und sowjetischer Realität kennen.: "Der frische Rhythmus des sowjetischen Lebens war von einer tiefen sozialen Immoralität durchdrungen. Ganze Gruppen von Arbeitern und Bauern erklommen die sozialen Höhen und behaupteten alle Arten leitender Stellungen in Wirtschaft, Politik und Verwaltung... Die aufsteigenden Schichten machten sich einen bestimmten bourgeoisen Geist, einen Geist kaltherzigen Egoismus’ und niedriger Berechnung zu eigen. Sie waren fest entschlossen, ohne Rücksicht auf den Nächsten sich ein gutes Stück aus dem großen Kuchen herauszuschneiden und mit skrupellosem Zynismus Karriere zu machen. Um zum Ziele zu kommen, scheuten sie nicht vor einem schamlosen Umbuhlen der Mächtigen zurück. An jeder ihrer Bewegungen, jeden ihrer Gesichtszüge war die mit Skrupellosigkeit gepaarte Kriecherei abzulesen. In all ihren Handlungen und all ihren Reden, die gewöhnlich von revolutionären Phrasen strotzten, war genau zu erkennen, wes Geistes Kind sie waren." (S.21f) Diese neue Herrschaftsschicht, eine Bürokratie in Wirtschaft, Politik und Verwaltung, setzte sich 1929 bei der Aufgabe der "Neuen Ökonomischen Politik" gegen das bäuerliche Russland durch: "Die Geschichte stellte sie vor die Wahl: entweder ihre beherrschende Stellung zu verlieren oder Russland durch die rasche Entwicklung seiner Produktivkräfte radikal umzuwandeln... Das Gewitter entlud sich über Russland und vernichtete die jahrhundertealte patriarchalische Struktur des Landes." (S.51ff)

Diese Form der ursprüngliche Akkumulation erzeugte aber in den neugeschaffenen industriellen Zentren des Landes keine neue soziale Struktur, die den Idealen des Sozialismus entsprochen hätte: "Vielmehr, die kapitalistischen und bürokratischen Methoden festigten sich wieder: Leistungsloben, Trennung von Arbeit und Verwaltung, so dass die Arbeiter nur noch einfache Ausführende waren, Konsolidierung des Lohnempfängersystems, wachsende Ungleichheit der Bezahlung zugunsten der Bürokraten." (S. 58) Damit ist im Kern das wesentliche über die soziale Struktur der damaligen Sowjetunion gesagt und Ciliga kommt zu folgender Einschätzung: "Der Sozialismus ist keine Fabrik, sondern ein System der Beziehungen zwischen den Menschen. Diese Beziehungen, so wie sie in Russland sind, haben nichts Sozialistisches. Die Kollektivierung ist kein Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus, sondern ein Duell zwischen staatlichem Großkapital und kleinem Privatkapital." (S. 74) Weiter weist Ciliga sehr klar darauf hin, dass die politische Unterdrückung anderer sozialistischer Strömungen nicht erst mit Stalin begonnen hat: das erste Konzentrationslager sei in Kholmogory am Weißen Meer im Jahre 1922 mit Anarchisten gefüllt worden (S. 112). Im Verlauf seiner Inhaftierung erkennt Ciliga in den Diskussionen zwischen den Verfolgten und Inhaftierten, dass von den Trotzkisten nichts zu erwarten war: "So gelangte ich, der ich selber an der russischen Opposition beteiligt gewesen war, zu folgendem Schluss: Trotzki und seine Anhänger sind dem bürokratischen Regime in der UdSSR zu eng verbunden, um den Kampf gegen dieses Regime bis zur äußersten Konsequenz führen zu können." (S. 118) Durch seine Erfahrungen in den Gefängnissen und den Lagern von Irkutsk, Werchni-Uralsk, und Krasnojarsk gewinnt Ciliga in Sibirien weitere Einblicke in die elende Lage der rechtlosen Bauernschaft und der kujonierten Arbeiterschichten, die nicht zu den Privilegierten gehören. Völlig desillusioniert nutzt er seine italienische Staatsangehörigkeit aus und erreicht, dass er am 3. Dezember 1935 endlich aus der Sowjetunion ausreisen kann, noch rechtzeitig vor den großen Säuberungen, die er als Oppositioneller mit Sicherheit nicht überlebt hätte.

Nicht nur die Frage nach gesellschaftlichen Sicherungen der Meinungs-, Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheiten stellt sich im Angesicht dieser erschütternden Geschichte einer terroristischen Industrialisierung unter der roten Fahne. Nicht nur die Frage nach einer demokratischen Selbstorganisation und –verwaltung ohne Hierarchien und Bürokratien hinter dem Türschild der "Rätemacht" ist durch Ciliga gestellt. Strukturell ist angesichts der Weiterentwicklung von gewaltsam durchgesetzten Transformationsprojekten zu Industriegesellschaften in China, Vietnam und auch Kuba die Frage zu stellen, ob man nicht Abschied nehmen sollte von einer Theorie, die immer wieder und immer noch die Entwicklung der Produktivkräfte zum Fortschritt per se erhebt.

Eine systemkritische Konnotierung der Umwelt- und Klimakrise als Konsequenz des kapitalistischen Akkumulationsregimes ist aus dieser Perspektive nicht zu erwarten. Im Gegenteil, der Linken konnte diese Erkenntnis erst enteignet und dann entschärft werden zu dem, was sich heute als das politischen Projekt eines "Green New Deal" präsentiert. Dieser hält bekanntlich kapitalistische Profitwirtschaft und ein Leben mit den Grenzen der Natur und Ressourcen für vereinbar. Diese Trennung, die in den Gründungsjahren der Grünen überwunden schien, und die linksbürgerliche Vereinnahmung der ökologischen Problematik war auch deshalb möglich, weil Sozialismus mit Fortschrittsmythen identifiziert und die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation in Russland als Aufbau des Sozialismus verklärt werden konnte, wie Ciliga deutlich aufzeigt. Die Warnungen und die Erfahrungen der Libertären, dass es sich um nichts anderes handele als die Vernichtung eigenständiger Bauerngesellschaften, die frühkapitalistischen Mustern entsprechende Versklavung und Unterdrückung der Arbeiterklassen, wurde schlicht nicht bzw. nur von minoritären Gruppierungen der Linken zur Kenntnis genommen.

Wir wissen heute, dass die osteuropäischen Gesellschaften sich zudem durch einen Grad an Umweltzerstörung und –vernutzung auszeichneten, der bis heute an den gesunkenen Lebenserwartungen der dort lebenden Menschen ablesbar ist. Tschernobyl ist zum Menetekel einer auch insoweit beispiellosen industrialistischen Verwüstung von Menschenleben und Natur geworden. Der spätstalinistische Klassenkompromiss zwischen Arbeiterschaft und Politbürokratie kann all das nicht aufwiegen. Und selbst die Zerschlagung des Hitlerfaschismus wird die aufgeklärten Sozialisten nicht vergessen lassen, dass zuvor fast zwei Jahre eine muntere Kooperation Stalins mit dem schon damals massenmörderischen Hitlerregime funktionierte. Es wird Zeit, jede etwaige Nostalgie in dieser Hinsicht endgültig hinter sich zu lassen. Dazu trägt Ciligas Buch erhebliches bei.

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sopos 10/2010