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9.November 1989 – "20 Jahre Mauerfall", "Niederlage des Sozialismus" oder Revolution?

Ein Lehrstück zum Umgang mit der deutschen Geschichte im Niedersächsischen Landtag – ein Kommentar

von Stefan Janson

Unter dem 17.11.2009 brachten die beiden Regierungsfraktionen im Niedersächsischen Landtag einen Entschließungsantrag unter der Überschrift "20 Jahre Mauerfall" ein[1]. Geht es einleitend noch um eine Würdigung des Einsatzes der demokratischen Bürgerbewegung für Menschen- und Bürgerrechte, so sind die folgenden drei Spiegelstriche eine nachträgliche Abrechnung mit der SED und der als Unrechtsstaat deklarierten DDR. Darüber hinaus geht es um das Gedenken an die Toten und Repressierten durch die DDR-Organe sowie die Rolle der Blockparteien. Begrüßt wird die Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die sich mit den Möglichkeiten einer Restitution der in der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone Enteigneten befassen soll – einem besonderen Steckpferd des niedersächsischen Ministerpräsidenten Wulff.

Interessant ist zunächst, dass mit der Überschrift und dem Textaufbau eine Verschiebung der Sachverhalte ganz und gar im bürgerlich-konservativen Sinne geschieht. Unwahrheiten können sich auch aus Unterlassungen, Auslassungen und Halbwahrheiten ergeben. Und eine dieser Unterschlagungen besteht darin, dass die ganz überwältigende Mehrheit der Aktivisten der Novemberrevolution in der DDR eine demokratische Eigenstaatlichkeit unter Beibehaltung gesellschaftlichen Eigentums wollte. Der Nachhall für diese fortschrittliche Bewegung, die weit entfernt davon war, eine kapitalistische Wirtschaftsordnung anzustreben, ist der Verfassungsentwurf des "Zentralen Runden Tisches"[2]. Wies dessen Existenz und praktische Arbeit viele Ansätze für eine Doppelherrschaft zwischen aktiver Zivilgesellschaft und altem Staatsapparat auf, so stellt dieser leider vergessene Entwurf das Beste dar, was an Verfassungstexten in Deutschland konzipiert wurde. Nicht nur demokratische Rechte, sondern auch soziale Rechte mit allen notwendigen Sicherungen für die materielle Existenz des Citoyen finden sich hier[3]. Von dieser gesellschaftlichen Selbstorganisation, die zu einem umfassenden Ansatz demokratischer und sozialer Rechte führt, liest man im Entschließungsantrag natürlich nichts. Denn das ist des Pudels Kern: über diese Seite der Revolution in der DDR, die aus einer sich selbst ermächtigenden Bürgerbewegung entstand, kann und will bürgerliche Politik und wollen Politiker nicht ernsthaft Zeugnis geben. Für sie muss es bei einem isolierten Ereignis 9. November 1989, dem "Mauerfall" bleiben, so wie es für sie beim 9. November 1918 einzig um die Einläutung der Weimarer Republik und "Abwehr des Bolschewismus" bleiben muss und der 9. November 1938 für eine Verkürzung des Nazismus auf Judenverfolgung herhalten muss. Vor die Anstrengung einer wirklichen Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Abläufen und Triebkräften haben sie dann Guido Knopp gesetzt.

Bezeichnend ist überdies die halbherzige Abrechnung mit den Blockparteien, also auch den Geschwisterorganisationen von CDU und FDP in der DDR, die nach 1990 fröhlich mitsamt Eigentum und Apparat zu freiheitlich-demokratischen Veranstaltungen mutierten, heißt es doch in der Resolution: "Viele Menschen hielten die Idee der demokratischen Parteien auch in Zeiten der Diktatur wach." Also Absolution für die vielen Blockpfeifen, die es nach 1989 nicht mehr gewesen sein wollten und sich im Widerstand befunden haben wollen. Nur gemerkt hat das so recht keiner, denn in Bautzen und in den Bautrupps der NVA waren in der Regel Systemoppositionelle zu finden, die das Pech hatten, ohne Parteibuch an ihren Überzeugungen festhalten zu wollen.

Natürlich liegt die Absicht des Antrages nicht in einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschehnisse in der DDR ab Sommer 1989. Unverkennbar ist es das Ziel des Antrages, dem Chor der veröffentlichen Meinung gegen die Linke, insbesondere die Partei "Die Linke", über linken Totalitarismus, Gleichschaltung, Nachteile, Repressalien und Verfolgung einen anschwellenden Bocksgesang aus den Weiten der norddeutschen Tiefebene hinzuzufügen.

Wie reagiert nun die Fraktion der Linken auf dieses Pamphlet? Für die Linke redet die Landtagsabgeordnete Pia-Beate Zimmermann: "Frau Präsidentin Meine Damen und Herren! Meine Fraktion verurteilt den Bau der Mauer als ungeeignete Maßnahme, einen im Aufbau befindlichen sozialistischen Staat zu sichern. Nie wieder darf ein Staat zur Grundlage haben, dass die dort lebenden Menschen ihr Land nicht verlassen dürfen."[4] An diesen beiden Sätzen ist so gut wie alles falsch. Der Bau der Mauer erscheint als Maßnahme. Zunächst: gegen wen oder was wurde die sogenannte Maßnahme ergriffen?. Das bleibt offen. Offen auch für die Lesart, damit sei 1961 ein "antifaschistischer Schutzwall" errichtet worden – mit der Konsequenz, dass es schon damals ein mächtiges faschistisches Potenzial in der DDR gegeben haben muss. Schon beim Mauerbau standen die Postenketten mit dem Gesicht nach Osten! Die Sperranlagen waren ja doch nach innen gestaffelt und nicht zum Westen hin.

Im Übrigen weist Zimmermann darauf hin, dass der 9. November als Jahrestag auch mit den Chiffren 1918, 1923 und 1938 verbunden ist. Anstatt aber die bürgerliche Verkürzung des 9. November konsequent aufzudecken und zu einer kritischen Geschichtsanalyse zu nutzen, werden die Chiffren dann in einen entschuldigenden Zusammenhang gestellt und so legitimatorisch umgebogen.

Weiter: es sollte ein "im Aufbau befindlicher sozialistischer Staat" gesichert werden. Die DDR soll also ein im Aufbau befindlicher sozialistischer Staat gewesen sein. Es scheint Zimmermann entgangen zu sein, dass noch 1988 die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED davon ausging, sich nicht in einer sich im Aufbau befindlichen, sondern bereits in einer "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" zu leben.[5] Und zu ihrer Bemerkung, Reisefreiheit gehöre zu den Grundlagen eines Staates, ist zu bemerken, dass dies ja keineswegs zu den selbstverständlichen Grundlagen auch bürgerlicher Staaten gehört. Im Zeitalter von Elektrozäunen zwischen Nord- und Mittelamerika, von Schengen und Visumspflichten rund um die Welt schon eine eigenartig verkürzte Position. Insoweit sind die Ausführungen sogar anbiedernd.

Schließlich: was meint Pia-Beate Zimmermann mit sozialistischem Staat, für den sie die DDR offenbar hält? Wir erfahren es aus dieser kurzen Rede nicht. Leider, denn genau dies ist das politische Problem, über das sich die deutsche Linke 20 Jahre nach dem Ende der Diktatur im Osten Deutschlands endlich Klarheit schaffen muss.

Um es ungeschminkt zu sagen: solange und soweit die niedersächsische Partei "Die Linke", in deren Vertretung diese Rede ja immerhin gehalten wurde, sich solche Beiträge leistet, wird es dem bürgerlichen Lager immer wieder gelingen, sich antikommunistisch aufzuplustern und ihren absoluten Bankrott, was Vorstellungen von einer humanen und demokratischen Zukunft dieser Gesellschaft angeht, zu kaschieren. Und es wird immer wieder Gelegenheit haben, nicht über die Verbrechen reden zu müssen, die im Namen von "Freiheit und Demokratie" begangen wurden und werden. Nicht über die Massenmorde, nicht über die Intoleranz und grausamsten Fundamentalismus, die über Hunderte von Jahren im Namen des Christentums verübt wurden, nicht über die ökonomischen und physischen Verbrechen, die den Völkern des Südens im Zeichen des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus angetan wurden.

Die politische Linke muss sich endlich von der Vorstellung, irgendwo im Osten habe es Sozialismus gegeben oder gebe ihn gar noch – so bei Freunden der VR China –, verabschieden. Sie muss sich von diesem Ballast befreien und Abstand davon nehmen, etwas zu verteidigen, was nicht zu verteidigen ist. Am 9. November 1989 ist endgültig eine Elendsgeschichte zu Ende gegangen, die am 30. Januar 1933 begann – die Wechselspiele von Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus[6], die wechselseitige Legitimation von Restriktion und Unterdrückung im Osten und auch im Westen Deutschlands.

Der Prozess hin zur staatskapitalistischen Diktatur begann mit der Zerschlagung selbständiger antifaschistischer Basisinitiativen durch die Ulbricht-Gruppe 1945, führte zur Abschaffung der Betriebsräte 1948 als Organisationskerne proletarischer Interessen gegen Parteiapparate und Fabrikleitungen in der DDR und setzte sich mit dem Arbeiteraufstand 1953 fort.

Spätestens am 9. November 1989 ist offenbar geworden, dass alle Legitimationsreserven der kommunistischen Partei aus Widerstand und Wiederaufbau restlos aufgezehrt waren. Auch war spätestens in diesem Herbst klar, dass die Organisation von Produktion und Leben in der DDR in keiner Weise als Kontrapunkt zur kapitalistischen BRD verstanden wurde. Es ist Fakt, dass die Werktätigen der DDR bis zum 3. Oktober 1990 nicht einen der "volkseigenen Betriebe" als ihr Eigentum verteidigt haben. Dieser völlige Bankrott ist allein den 40 Jahren staatskapitalistischer Herrschaft zuzuschreiben. Daran ist nichts zu beschönigen, so bitter die anschließende Inbesitznahme und Plünderung des Landes durch eine kapitalistische Meute aus dem Westen auch war – im Übrigen häufig unter tätiger Mithilfe der bis dahin in der SED organisierten Betriebsleitungen. Aber so wenig daran zu beschönigen ist, so wenig ist unter emanzipatorischer Perspektive an der Herrschaft der SED und der DDR irgendetwas zu verteidigen. Die jetzt oft ins Feld geführte soziale Sicherheit und Alimentierung der DDR-Bevölkerung war im Grunde nicht viel anderes als Befriedungspolitik, die Herausbildung einer sich selbst reproduzierenden Staatsbürokratie, mehr oder minder abgeschlossen und gegen Unten abgedichtet. Dieses staatskapitalistische Modell konnte zu keinem Zeitpunkt Initiative und Selbstorganisation "von Unten" ertragen, nicht einmal in dem minimalen Umfang, in dem dies im Rahmen der fordistischen und neoliberalen Gouvernementalität im Westen zugelassen wird.

Was sollte uns daran hindern, sich demgegenüber der (wenigen) Beispiele von Demokratie in der Produktion in Deutschland, von freiheitlichen Organisationsversuchen in der Arbeiterbewegung – in der Rätebewegung 1918/19, der Märzrevolution 1920, den Versuchen selbständiger proletarischer Organisation nach 1945 – zu versichern und in die Genealogie einer an Befreiung und Selbstverwirklichung interessierten Linken aufzunehmen? Hierin liegt die Aufgabe der Linken, nicht in halbherzigen Versuchen, eine Elendsgeschichte zu affirmieren.

Anmerkungen

[1] Antrag der Fraktionen der CDU und FDP vom 17.11.2009; LT-Drucksache 16/1853; Entschließungsanträge sollen zu besonders wichtigen Themen eine Meinungsäußerung der Legislative abgeben

[2] Verfassungsentwurf der Deutschen Demokratischen Republik vom 4. April 1990, Arbeitsgruppe "Neue Verfassung der DDR" des Zentralen Runden Tisches; in: Fischer (Hrsg.); Verfassungen in der DDR, Baden-Baden 1990; S. 15ff.

[3] Artikel 23: Recht auf soziale Sicherung; Artikel 24: Recht auf Bildung; Artikel 25: Recht auf angemessenen Wohnraum; Artikel 27: Recht auf Arbeit; Artikel 39: Recht auf gewerkschaftliche Organisierung

[4] Stenographisches Protokoll der 53. Plenarsitzung des Nds. Landtages vom 26. November 2009; S. 6733

[5] vgl. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED (Hrsg.); Sozialismus in der DDR – Gesellschaftsstrategie mit dem Blick auf das Jahr 2000; Berlin 1988

[6] Nicht ohne jede Berechtigung versuchen orthodoxe Stalinisten, den Hitler-Stalin-Pakt als Reaktion auf die Appeasement-Politik Frankreichs und Großbritanniens gegenüber Hitler zu rechtfertigen.

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sopos 3/2010