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„The shape of things to come“ –Zur politischen Wirksamkeit neoliberaler Sozialpolitik in den Mittelschichten und Möglichkeiten progressiver Orientierungen

von Stefan Janson

Die Richtung der Mobilisierung der Mittelschichten wird die politische Agenda der nächsten Jahre bestimmen

In der linksliberalen Wochenzeitung „der Freitag“, die ihren Anspruch auf die Existenz eines „Meinungsmediums“ reduziert hat, war in der Ausgabe vom 12. November unter der Überschrift „Mitte ade...“ eine Leseprobe aus dem Buch „Die Ausplünderung der Mittelschicht“ von Marc Beise zu lesen.[1] Beise, der die Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung leitet, beschäftigt sich darin mit den unter Druck geratenen Mittelschichten: „Bei all den Problemen an den Rändern der Gesellschaft bleibt eine Diskussion auf der Strecke: Die gefährliche Erosion der Mittelschicht und der damit verbundene Wandel unseres Gemeinwesens.“ Beise gesteht ein, dass eine genaue Definition der Mittelschichten als soziologische Kategorie nicht recht gelingen will: die alten Milieus der Gewerbetreibenden und die neueren Milieus „der Unselbständigen, also der Angestellten“ sind von ihrer Genese und ihrer Stellung doch zu heterogen.

Beise macht denn die Mittelschicht auch eher ideologisch aus: der Kern mittelständischer Identität sei mit „harter Arbeit und solidem Leben“ bestimmt. Unabhängig davon, ob hier nicht ein gehöriges Stück Selbstverklärung mitspielt, scheint mir damit das Zentrum mittelständischer Ideologie richtig beschrieben zu sein. Bourdieu hat einmal ausgeführt, dass das Kleinbürgertum zur Einhaltung derjenigen Normen neigt, von denen es meint, dass dies die Normen der herrschenden Eliten seien – und dabei gar nicht bemerkt, dass diese damit höchstens spielerisch umgehen. Um so bitterer nun, selbst von dem Polarisierungsprozess betroffen zu sein, dessen Leitbilder man in den letzten Jahren politisch applaudiert hat: die autoritäre Restrukturierung sozialpolitischer Leistungen für das Prekariat und die Unterschichten hat in der „Neuen Mitte“ nur wenig Widerstand, wenn nicht Beifall gefunden.

Das Schrumpfen und Restrukturierung der Mittelschichten wird von Beise mit eindrucksvollen Zahlen belegt: die Einkommensmittelschicht mit 70 bis 150 Prozent des Medianeinkommens ist seit den 70er-Jahren von 64 auf 2007 noch 54 Prozent geschrumpft. Wichtig dürfte auch sein, dass die Schließungsprozesse im Bildungssystem zur Frustration dieser Schichten erheblich beitragen: das Vorankommen des Nachwuchses ist nicht mehr gesichert.

Aber was bedeutet das politisch? Beise beschreibt das Selbstbewusstsein der Mittelschichten wie folgt: „Aber die Mitte ist eben nicht nur statistisch zu definieren, sie ist auch ein Gefühl. Ein Gefühl, sich in Mentalität, Weltsicht und Wertvorstellungen von anderen Bevölkerungsgruppen zu unterscheiden – insbesondere hinsichtlich der Bildungs- und Leistungsorientierung, der Bereitschaft zu gesellschaftlichem Engagement, der Vorstellungen von einem ausgewogenen Verhältnis von staatlicher Fürsorge und Eigenverantwortung sowie des Sicherheitsbedürfnisses und der Risikobereitschaft. Konkret: In der so definierten Mitte will man typischerweise weder in der sozialen Hängematte baumeln, noch strebt man nach immer höheren Millioneneinkommen.“ Man könnte mit guten Argumenten in Frage stellen, wie denn diese Tugenden in der „mittelständischen“ Praxis umgesetzt werden. Wichtig ist aber hier das Selbstverständnis, welches Konstrukt vom richtigen und guten Leben hier aufscheint. Mir scheint, hier ist eine Ambivalenz spürbar, deren Bearbeitung für die sozialen Kämpfe der Zukunft von entscheidender Bedeutung sein können. Diese Ambivalenz besteht in der widersprüchlichen Haltung zu Freiheit und Selbstbestimmung. Einerseits ist ein starker Impuls zur eigenständigen Gestaltung des konventionellen Lebens sichtbar, andererseits wird dieser Impuls mit konformistischen Einstellungen zur Erwerbsarbeit verknüpft. Das „leistungslose“ Einkommen der Manager- und Finanzmarktkaste wird ebenso kritisch gesehen wie das „leistungslose“ Einkommen der Unterschichten – und nicht erkannt, dass die Produktivitätsentwicklung den alttestamentarischen Spruch „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ vollends obsolet macht. Solange und soweit die Mittelschichten diesen Widerspruch zwischen Leistungsideologie und ökonomischer Realität nicht zur Kenntnis nehmen, werden sie – in wachsendem Maße – sich politisch der FDP als der am Konsequentesten neoliberalen Partei zuwenden. In gewisser weise wirkt so eine Identifikation mit dem Aggressor, der unter rot-grüner Ägide die Angst der Mittelschichten vor dem Absturz mit der Errichtung des Armuts- und Kontrollregimes der Hartz IV-Regelungen gefüttert hat.

Die FDP ist – die vergangenen Landtagswahlen deuteten schon darauf hin – zum Sprachrohr jener geworden, die sich gegen „Umverteilung“ und für „Leistung“ positionieren und Sloterdijk, Clement und Sarrazin sind ihre aktuellen Ideologen. Es ist im übrigen kaum Zufall, dass prominente Sozialdemokraten sich zu Sprachrohren einer reaktionären Diffamierungskampagne gegen die Unterschichten machen – weil Sozial- und Freidemokraten in der Orientierung auf die oben beschriebene kleinbürgerliche Leistungsideologie weitgehende Übereinstimmungen zeigen und somit anschlussfähig für neoliberale Politikkonzepte sind.

Die Unterstützung der FDP ist damit nicht mehr nur als Votum arrivierter und materiell gesättigter Wählergruppen wie aus der Ärzteschaft zu verstehen. Die Stärke der FDP ist einerseits ein Votum jener Milieus der Mittelschichten, die in der Krise unter Druck geraten. Sie treffen sich andererseits mit jenen vermögenden Schichten, die darauf aus sind, ihre Position in den jetzt anstehenden Aufräumarbeiten der Krise zu verteidigen. Für beide Gruppen sind die Schlagworte von Steuersenkungen und Wettbewerb Anreiz genug, um Politik nach dem schlichten Weltbild des Neoliberalismus zu gestalten. Ihre ideologische Klammer ist die Ablehnung eines Staates, der im Zweifel für bürokratische Bevormundung und Unfreiheit steht. Die FDP ist damit nicht mehr jene Funktionspartei als Mehrheitsbeschafferin für eine der milieuübergreifenden Volksparteien für vergangene Tage. Ihre Stärke ist sozialer Ausdruck der Krise selbst. Sie ist ideologisch die eigentliche Partei eines „Klassenkampfs von oben“, auch wenn sie das organisierte große Kapital nur partiell repräsentiert. Sie steht gerade für jene Milieus, die versuchen, die von den politischen und ökonomischen Eliten präsentierten Rechnungen für die eigene Bereicherungs- und Raubzüge nach unten weiterzureichen. Und sie ist als Plattform für alle interessant, die den ökonomisch blamierten Glaubenssätzen nach wie vor anhängen. Insoweit hat die FDP eine Zukunft vor sich, möglicherweise auch einen Aufstieg zu weiterer Stärke: haben doch selbst Sektoren der gewerkschaftlich organisierten Lohnabhängigen sie gewählt.

Dilemmata und Reichweite der wohlfahrtstaatlich orientierten Opposition

Wesentlich in diesem Szenario ist Zentralität und Stärke der Leistungsideologie, der die Mittelschichten anhängen. Loic Waquant hat in seinem letzten Buch die herausragende Funktion dieses autoritären Moralismus herausgearbeitet.[2] Danach ist dieser ein wesentlicher Bestandteil des neoliberalen Staates, die Integrationsideologie, die sich eignet, die soziale Angst zu bearbeiten, die sich in Folge „der realen sozialen Unsicherheit der postindustriellen Arbeiterklasse, deren materielle Verhältnisse sich mit der Ausbreitung der instabilen und unterbezahlten, der üblichen ‚Sozialleistungen’ entkleideten Lohnarbeit verschlechtert haben, und in der subjektiven Unsicherheit der Mittelklassen, deren Aussichten auf reibungslose Reproduktion oder Aufwärtsmobilität sich in dem Maße getrübt haben, wie sich die Konkurrenz um wertvolle soziale Positionen verschärfte und der Staat ihre Versorgung mit öffentlichen Gütern reduzierte.“[3] Im Unterschied zu den USA allerdings ist die Funktion der strafenden Hand des Staates in Deutschland noch nicht in dem dort vorhandenen Maß ausgeprägt. Allerdings sind Strategien der Normung, Überwachung und Neutralisation der „besitzlosen und störenden Fraktionen des postindustriellen Proletariats“ auch hier erkennbar und werden ausgeweitet.[4] So sind denn auch die finanziellen Erleichterungen, die die neue Bundesregierung für die unter Druck geratenen Sektoren der Mittelschichten (Erbschaftssteuer, Kindergeld und –freibetrag, Schonvermögen) beschlossen hat gerade solche, die dem Prekariat nicht zu gute kommen (und auch nicht sollen).

Der FDP als politisch klarstem Ausdruck des Neoliberalismus steht mit der Partei „Die Linke“ der politisch klarste Ausdruck des etatistischen Wohlfahrtsstaatsmodells gegenüber. Sie werden für einige Zeit die wirklichen parlamentarischen Antagonisten der kommenden Legislaturperiode sein. Angesichts der ökologischen Gefährdungen wird diese Polarität mittelfristig abgelöst werden durch eine Konstellation, bei der die Grünen ihre Position als politische Distinktion längerfristiger gesellschaftlicher Interessen ausbauen kann. Kurzfristig wird die Linkspartei im Wesentlichen eine defensive Rolle zur Abwehr der gröbsten Zumutungen für die lohnabhängigen Schichten spielen müssen – von der SPD ist das unter dem Konstrukteur Steinmeier der „Agenda 2010“ und der „Rente mit 67“ beim besten Willen nicht zu erwarten, vielleicht mittelfristig unter der Voraussetzung seiner Ablösung etwas mehr. Auch nach dem Parteitag in Dresden ist für die Sozialdemokratie kein organisierendes politisches Projekt sichtbar. Die sich in Allgemeinplätzen ergehende Rede eines Erhard Eppler ersetzt nicht ein politisches Reformprojekt wie das der „sozialen Moderne“ einer Andrea Ypsilanti in Hessen.

Das Problem der gesellschaftlichen Linken ist, dass der etatistische Wohlfahrtsstaat als autoritäre und die Lebensstile normierende Gewalt selbst und zu Recht Angriffsziel der emanzipatorischen Bewegungen war, die mit der Chiffre „1968“ bezeichnet werden. Es war die Kunst des Neoliberalismus, die wachsenden Bedürfnisse nach Selbstbestimmung und -organisation für sich in Dienst zu nehmen und reaktionär zu wenden. Es wird daher in emanzipatorischer Absicht keine Rückkehr zu den bürokratischen Monstren geben dürfen, in denen sich Funktionäre eines autoritären Sozial- und Verwaltungsstaats zu Zensoren der Lebensbedürfnisse und Lebensweise der Lohnabhängigen und des Prekariats machen. Diese Perspektive wird nicht zu dem Differenzierungsprozess beitragen, der jetzt zur Neutralisierung eines Teils und progressiven Mobilisierung eines anderen teils der Mittelschichten anzugehen ist.

Die Partei „Die Linke“ ist keine Partei, die als Option für eine selbstverwaltete und –organisierte Gesellschaft wahrgenommen wird

Es ist mehr als fraglich, ob die Partei „Die Linke“ eine solche Perspektive entwickeln kann. Sie hat erstens das soziale Problem ihren größten Zuspruch in den Milieus der Arbeitslosen und Arbeiter, deren Wahlverhalten volatil ist, zu haben. Sie ist dagegen bei Angestellten und Beamten, also den sich zu den Mittelschichten zählenden Milieus unterrepräsentiert.

Zweitens ist sie keine Bewegungspartei, weder in den reformistisch geprägten Landesverbänden im Osten noch bei den stärker von den verbal stringenteren antikapitalistischen und sozialistischen Linken im Westen. Bei allen verbalen Auseinandersetzungen zwischen den Flügeln: beide Perspektiven sind reaktionär. Beide sind nur verschiedene Ausprägungen der alten etatistischen Mentalitäten aus dem historischen Fundus der organisierten deutschen Arbeiterbewegung.

Im Übrigen hat sie drittens in den Koalitionen mit der SPD in Berlin und jetzt Brandenburg ihre Regierungsbeteiligung in erheblichem Umfang über die Anliegen der sozialen Bewegungen und des Umweltschutzes (Braunkohleabbau) gestellt. Auch das ist keine wirklich mobilisierende Aussicht. Im Übrigen haben Regierungsbeteiligungen immer Integrationseffekte („Sachzwänge“), denen sich Parteiapparate und ihr Personal nicht entziehen können (und wollen), wie die sehr bescheidenen Ergebnisse linker Regierungsbeteiligung im Verhältnis zur vollmundigen Programmatik in Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gezeigt haben. Die demobilisierenden Folgen dieser Politik müssen bedacht werden.

Die für emanzipative Ansätze erforderliche Gewinnung bedeutender Milieus der Mittelschichten wird der Partei „Die Linke“ deshalb kaum gelingen.

Die Grünen sind als Orientierung von progressiven Mittelschichten attraktiv, wollen aber mit den „grünen Fraktionen“ des Kapitals gemeinsame Sache machen

Schließlich bietet sich als politische Orientierung für die Mittelschichten die Partei der Grünen an, die mit ihrem Projekt des „Green New Deal“ als Verknüpfung von Keynesianismus und Ökologie für die Mittelschichten attraktiv sein könnten. Sie können dabei in gewisser Weise an Erinnerungen aus dem Widerstand gegen die fordistische und postfordistische Produktionsregime anknüpfen und haben durch ihren Bezug aus der Friedens- und ökologischen Bewegung trotz Kosovokrieg, faulem Atomausstiegsdeal und Mittragen der Hartz IV-Sauereien für ein Segment der arrivierten Mittelschichten eine Anziehungskraft, die sich mit der Verschärfung der Klimakrise vergrößern könnte. Diese Anziehungskraft besteht nicht zuletzt darin, dass sie im Unterschied zur FDP kein durch die aktuelle Krise verbrauchtes ideologisches Konzept vertritt und die Unterstützung von Kapitalfraktionen hat, die in „Zukunftstechnologien“ und „Zukunftsmärkten“ denken. Durch die parlamentarische Zusammenarbeit mit der CDU in Hamburg und ihm Saarland beweisen sie zudem eine politische Flexibilität, die bei fortschreitendem Zerfall der CDU auch für autoritäre Milieus der Mittelschichten interessant sein könnte. Die krisenhafte Zuspitzung der Mensch-Umwelt-Beziehungen könnte zunächst auch verdecken, dass ein ökologisches Konzept, dass nicht mit den kapitalistischen Wachstumszwängen bricht, zum Scheitern verurteilt ist – wie die Kampagnen um Biotreibstoffe mit ihren Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion in den Ländern des Südens bereits jetzt aufscheinen lässt.

Was kann von den Gewerkschaften erwartet werden?

Die nach wie vor distanzierte Haltung in den Mittelschichten gegenüber den Gewerkschaften hat mit ihrer weitgehend dilletantischen Krisenpolitik zu tun. Wer die Aktivitäten gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung durch Abhalten eigener Veranstaltungen spaltet, wie im Frühjahr 2009 geschehen, wer einen Kongress zur Debatte über die Krise auf 500 Teilnehmer limitiert – zu dem dann der Vorsitzende der IG BCE nicht erscheint, weil er „antikapitalistische Debatten“ befürchtet –, sich nicht entblödet, der Bundeskanzlerin bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Schulter zu klopfen, der ist für niemanden so richtig als Bündnispartner zu gebrauchen. Und das spüren die Mittelschichten, nicht nur ihre kritischen Teile.

Der derzeitige gewerkschaftliche Mainstream unterliegt einer fatalen Fehleinschätzung der derzeitigen Regierungskoalition, weil er die moderaten Töne für bare Münze nehmen würde, die zur Zeit aus dem Bundeskanzleramt gegenüber den Gewerkschaften kommen. Gegenwärtig werden die Gewerkschaften als Co-Manager und alternative Krisenbewältiger gebraucht. Deshalb der moderate und beschwichtigende Auftritt der Kanzlerin beim letzten Gewerkschaftstag der IG BCE. Aber trotz aller „standing ovations“ durch geschichts- und funktionsvergessene Funktionäre: Wie das Beispiel Opel zeigt, führt der Glaube, man säße selbst am Steuerruder, weil man einige Zeit mehr in den Medien zitiert wird als der Vorstand selbst, in die Irre. Am Ende wurde mit nationalistischen Untertönen (gegen FIAT) mit Unterstützung der Betriebsräte und Gewerkschaften eine Lösung durchgepaukt, die sich nun als fadenscheinig herausgestellt hat und schwere Verwerfungen zwischen den Standortbelegschaften provozierte – wo doch transnationale Solidarität von Nöten ist! Das ganze setzt sich jetzt in antiamerikanischen Affekten gegen die GM-Zentrale in Detroit fort – als ob die Eigentümerstruktur nicht auch der IG Metall und der Mehrheit der Betriebsräte bekannt gewesen wäre!

Man sollte nicht verkennen: Das schwarz-gelbe Regierungsbündnis wird bei der mittelfristigen Krisenbewältigung versuchen, sich der Gewerkschaften zu bedienen. Mehr aber auch nicht. Wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan haben wird, bekommt er seinen Fußtritt. Attraktiver für die nach Lösungen suchende arbeitnehmerische Mitte wird man damit nicht.

Die gesellschaftliche Linke muss eine Perspektive der Selbstbestimmung und Selbstorganisation entwickeln und aufzeigen

Der Linken wird so nichts anderes übrig bleiben, als unabhängig von Partei und Gewerkschaftsführungen und -mehrheiten nach eigenen Wegen zur Ablösung der neoliberalen Orientierung in den Mittelschichten zu suchen. Das ist kein leichter Weg und ist aus einer ziemlichen Minderheitenposition anzugehen. Dazu ist zu fragen, welche Verhaltensmuster und –dispositionen in welchen Milieus der ausdifferenzierten Arbeitnehmerschaft im Sinne einer „emanzipativen Radikalisierung“ genutzt werden können.[5]

Nach Befunden der kritischen Sozialforschung könnte es lohnenswert sein, diejenigen modernisierten Arbeitnehmermilieus anzusprechen, die zum Beispiel den Gewerkschaften nicht deshalb fernbleiben, weil sie aus ihrer Sicht zu sehr, sondern viel zu wenig emanzipatorisch agieren.[6] Insoweit ist jede Initiative zu gewerkschaftlicher Basisarbeit in diesem Sinne eine Beitrag zu einer Spaltung der Mittelschichten und zur Beförderung produktiver Krisenausgänge.

Eine solche Arbeit kann sich auf folgende Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung beziehen: Die Mitgliederpotenziale der Gewerkschaften wachsen. Aber sie werden nicht erschlossen. Es hat keine Abnahme, sondern ein Gestaltwandel des Interessenbewusstseins stattgefunden. Der Strukturwandel führt zu einer Differenzierung und Vergrößerung der qualifizierten Arbeitnehmermilieus, diese verlieren ihre früheren privilegierten und gesicherten Stellungen in den Unternehmen. Dieser Prozess bereitet den Boden für den Kampf gegen die Ab- und Entwertung ihrer Arbeitskraft. Deshalb sind Initiativen, die versuchen, Arbeitnehmermilieus innnerhalb und außerhalb der Betriebe zu solidarisieren, von großer Wichtigkeit und Perspektive.

Eine neue Form des industriellen Konflikts gewinnt an Bedeutung: neoliberale Strategien einer „Verbetriebswissenschaftlichung“ werden als Angriffe auf das Fachkönnen, das Bedürfnis nach vermehrter Selbstbestimmung am Arbeitsplatz und „vernetzter Kooperation“ verstanden. „Es ist unübersehbar, dass das Interesse an mehr Kompetenz, Autonomie und Kooperation auf Augenhöhe sich nicht nur an die Unternehmensleitungen, sondern auch an die Gewerkschaften richtet.“[7] Ansprechbar für eine solche Neuausrichtung progressiver Gewinnungsstrategien sind im wesentlichen große Teilmilieus der neuen Arbeitnehmermilieus, die in der Studie als „gebremste technische Experten“, „Autodidakten der IT-Branche“, „Organisierer und Problemlöser“ und „Spezialisierte Facharbeiter“ eingeordnet werden.[8] Hier bietet sich für die Linke an den Fachhochschulen und Universitäten gemeinsam mit der Betriebs- und Gewerkschaftslinken ein Arbeitsfeld. Hier können auch weiterführende Perspektiven hin zu Diskussionen um Arbeitszeitverkürzung organisiert werden, wie das von der attac-Gruppe „Arbeit fairteilen“ bereits angegangen worden ist.

Ob sich daraus eine Perspektive für die betriebliche gewerkschaftliche Organisierung dieser arbeitnehmerischen Mitte ergibt, kann hier nicht abgeschätzt werden. Bedeutsam sind daneben aber Projekte, in denen die Basisgewerkschafter vor Ort eigenständig Initiativen zur Sicherung elementarer Lebensbedürfnisse der Unterklassen und zur Armutsbekämpfung ergreifen. Sie können hierbei die Kritik der Leistungsideologie führen, indem sie sich mit den wachsenden Unterstützerkreisen für ein bedingungsloses Grundeinkommen auseinandersetzen. Zudem können lokal alle Initiativen gefördert werden, in denen Ansätze von Selbstorganisation Jugendlicher, Arbeitsloser, Migranten usw. eine andere Perspektive aufweisen als den der gnadenloses Konkurrenz und der rücksichtslosen meritokratischen Verhaltensweisen, die in den Mittelschichten zu Hause sind. Insoweit scheint mir das Spektrum der attac-Debatten als ein außerordentlich wichtiges Arbeitsfeld für die Gewinnung von progressiven Mittelschichten zu sein. Dies auch deshalb, weil attac wegen seiner binnenorganisatorischen Demokratie, Hierarchieresistenz und geringen Funktionärsdichte für die Ideen der Selbstorganisation und –verwaltung ein geeignetes Demonstrationsfeld für eine „andere Politik“ zu sein scheint.

Ein wirklicher neuer linker Aufbruch wird nur gelingen, wenn die neuen Arbeitnehmermilieus sich mit einer emanzipatorische Bewegung von Unten treffen, die glaubhaft und sichtbar selbst basisdemokratisch, theoretisch neugierig und offen und aktivistisch, auf Selbsttätigkeit und -organisation setzt und in so weit ganz die Einsicht verkörpert, „dass unser persönliches und sozial vernetztes Glück und Wohlergehen voraussetzt, dass es auch allen anderen Menschen gut geht.“[9]

Anmerkungen

[1]Der Freitag, Nr. 46 vom 12.11.2009; S. 24f

[2]Loic Waquant, Bestrafen der Armen – Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, Verlag Barbara Budrich, Opladen & Farmington Hills (USA) 2009; S. 313

[3] aaO; S. 303

[4] aaO; S. 292

[5] Vgl. von Oertzen, Neue Soziale Bewegungen und Arbeiterbewegung, in: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover 2004, S. 354ff, insb. S. 371ff.

[6] vgl. Michael Vester/Christel Teiwes-Kügler/Andrea Lange-Vester: Die neuen Arbeitnehmer; Zunehmende Kompetenzen – wachsende Unsicherheit; Vorwort von Berthold Huber; VSA-Verlag Hamburg 2007; S. 13

[7] aaO; S.97

[8] aaO; S. 105ff.

[9] Karl-Heinz Roth, Die Intelligenz und die „soziale Frage“, Vortrag Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen, 11.2.2006; Ms.; S. 13

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sopos 11/2009