Zur normalen Fassung

„Als Architekt Hitlers wäre mir nach einem verlorenen Krieg nichts geschehen, noch nicht einmal ein ernsthaftes Verfahren durch die deutschen Entnazifierungsbehörden hätte mir bevorgestanden. Niemand hätte einen Architekten vor Gericht gestellt.“[1]
„Was ging das alles mich an?“[2]
(Albert Speer)


Der „gute Nazi[3]“ – Zur Dekonstruktion von Albert Speer durch die Berliner Judenpolitik von 1938–1945

von Torben Ehlers

Man muss nicht Joachim Fest[4] und seine Ausführungen über Speer studiert haben, um mit Besorgnis zu beobachten, wie ein schleichender Prozess kontinuierlicher Verleugnung von gesellschaftlicher Partizipation in Deutschland im NS-System zu konstatieren ist. Hier stellt sich jedoch einer der renommiertesten deutschen Historiker so klar wie kein anderer in die Verdrängungstradition und erlebt ungewöhnlich spät, leise und wenig Widerspruch. Schon die Mitscherlichs[5] haben 1968 den Deutschen die Unfähigkeit zu trauern ausgesprochen, woraus damals und besonders heute wieder eine Affektuierung und Projektion von Tätern zu Opfern geworden ist. Albert Speer als guter Nazi ist das prominenteste Beispiel für Tradierung von Geschichtsbewusstsein. Albert Speer als „der“ gute Nazi... gab es gute Nazis?...

Albert Speer gilt bis heute im Geschichtsbild als unpolitischer, „guter“ Nazi (zynisch von: Van De Vaat 1997), der eher unglücklich in die Verbrechen von 1933 bis 1945 hineingezogen wurde, als selbst in dem totalitären System des Nationalsozialismus Hand angelegt zu haben. Dieses Bild hat Joachim Fest Zeit seines Lebens als „der“ Speer-Biograph versucht aufrecht zu erhalten. Speer galt durch Fests Arbeiten bis zu den Gegendarstellungen von Sereny, Heer, Willems oder Van De Vaat[6] als unpolitischer und eher technokratisch denn ideologisch orientierter Nationalsozialist. Das ist in sich schon ein Widerspruch, wie Van de Vaat richtig resümiert, denn Nationalsozialismus ist ohne seine menschenverachtende Ideologie nicht denkbar. Fest schreibt, dass in jenen Momenten, wo eine Verbindung zwischen Speer und den Verbrechen der Nationalsozialisten drohte, solche Fragen durch Speer nicht zu beantworten wären[7], da dieser den eigentlichen Tätern nicht nahe genug stand bzw. mit diesen keinen guten Kontakt pflegte. Dies gilt etwa bei Fragen, wie Speer die Reichspogromnacht 1938 in Berlin erlebt hatte oder gegenüber dem mörderischen Vorgehen gegen die Berliner Juden durch Speer bis 1942. Die vier genannten Autoren entlarven Speers angebliche Distanz zu den "eigentlichen" Tätern als offene Lüge.

Nachdem die Sozialwissenschaft Nazi-Größen wie Hitler, Goebbels, Himmler oder Göring einschlägig analysierte und Diskussionen über „sekundäre“ Nazi-Größen abebben – auch angeregt durch Hannah Arendts[8] Gerichtsbericht über die Gefangennahmen Adolf Eichmanns durch den israelischen Geheimdienst – , richtet sich seit ungefähr 15 Jahren der Blick auf die nur scheinbar ambivalente Persönlichkeit von Albert Speer als „unglückliche“ Persönlichkeit im Nationalsozialismus. Das Politische in der Darstellung von öffentlicher Retrospektive wurde ihm nicht zugesprochen, von ihm ferngehalten und ein Mythos des unpolitischen NS-Mitläufers kreiert[9], um wenigstens eine positive Nazi-Prominenz innerhalb des Führungskaders als Held verehren zu können. Die ebenfalls verehrten Wehrmachtsgeneräle von Stauffenberg und Rommel gehörten diesem "inneren Zirkel" nicht an. Diese Heldenverehrung dient dazu, dass die Deutschen die Trauer über den zweiten verlorenen Krieg nicht auf-, sondern nacharbeiten können: die Vergangenheit ist nicht in der Gegenwart angekommen, sondern wird als gewünschtes Konstrukt erschaffen – wie Speer zeigt.

„Die Ersetzung der Trauer durch Identifikation mit dem unschuldigen Opfer geschieht häufig; sie ist vor allem eine konsequente Abwehr von Schuld, die dadurch verstärkt wird, daß man sich auf Gehorsamsbindung beruft, eine Bindung, die in dieser übertriebenen Form wiederum eine Abwehr der durch starke kindliche Ambivalenz ausgelösten Vergeltungs- und Trennungsängste darstellt. Im Bewußtsein stellt sich die Vergangenheit dann folgendermaßen dar: Man hat viele Opfer gebracht, hat den Krieg erlitten, ist danach lange diskriminiert gewesen, was einem jetzt vorgeworfen wird“[10].

Albert Speer war ein Nationalsozialist! Er trat bereits 1931 in die NSDAP ein[11], verfolgte rigoros und mit kaltem Kalkül seine Karriere in genau diesem System und störte sich nicht, im wahrsten Sinne des Wortes daran, „über Leichen zu gehen“. Bei seiner V2-Inspektion in Mittelbau-Dora 1944 (die von ihm geschaffene, größte unterirdische Rüstungsfabrik des 2. Weltkrieges) musste er bspw. über zahllose Zwangsarbeiterleichen, die überall neben den Produktionsstätten verteilt lagen, hinwegsteigen[12]. Dass schon beim Bau in den Stollen tausende Zwangsarbeiter krepiert waren, erweckte bei ihm kein Interesse[13].

Doch wie wurde der Senior von einem gescheiterten Architekturstudenten zum Reichsrüstungsminister? Wie wurde ein verschmähter Mannheimer Sohn der 3. Architektengeneration großbürgerlicher Herkunft zum „Liebling[14]“ von Adolf Hitler?

Bis zur Ernennung zum Reichsrüstungsminister 1942 (nach dem Tod von Fritz Todt durch einen Flugzeugabsturz) war Speers Hauptaufgabe seit 1938 die Neugestaltung der zukünftigen kontinental-imperialen[15] Hauptstadt für das deutsche „1000-jährige Reich“ gewesen. Speer hatte sich schon frühzeitig (z.B. durch seine Anbiederung, an Goebbels und dessen Ausbau-Aufträge vor 1938, in diesen Jahren auch durch die Vollführung der Reichskanzlei in Berlin) der NS-Führung angeboten. Während der Nürnberger Prozesse stützte sich seine Hauptverteidigungsstrategie (die ihm immerhin das Leben retten und nur 20 Jahre Haft in Spandau einbringen sollte) zum einen auf die Lüge, dass er bis 1942 als Architekt völlig unpolitisch gewirkt hätte, zum anderen auf die unfassbare Behauptung, versucht zu haben in mehreren Funktionen (erst als leitender Architekt, dann als Neugestalter von Berlin, schließlich als Rüstungsminister) Widerstand gegen Hitler und Goebbels betrieben zu haben. Er habe versucht, so Speer, als Stadtplaner sowohl die nahezu 80.000 Berliner Juden vor der Deportation zu bewahren, als auch später die Rüstungsproduktion zu behindern[16]. Zumindest im ersten Punkt soll hier dem determinierenden – jedoch wie im Falle des Historikers Joachim Fest[17] in vielerlei Hinsicht noch in den Köpfen vieler Wissenschaftler existierenden Irrealismus der Nährboden entzogen werden.

„Speer symbolisiert die Figur einer – Anfang der 1930er Jahre – gescheiterten deutschen Elite, deren Zugehörigkeit zur Weimarer Republik nicht durch politische, sondern durch nationale Zugehörigkeit gekennzeichnet war. Als ‚Ausgestoßener’ der Klassengesellschaft sah er in der nationalsozialistischen Bewegung die Aufstiegsmöglichkeit zu einer renommierten Position, ohne jedoch die Ziele bewusst zu verfolgen, diese aber begrüßend nutzend. Speer kann somit als ‚typischer’ Vertreter einer segmentierten Elite in Deutschland nach 1918 im Arendt’schen Sinne bejaht werden, die als NS-Paria zur Restauration ihrer gesellschaftlichen Stellung alle Verbrechensverlautbarungen der Nazis bedingungslos unterstützten. Die spezifische Anziehungskraft der NS-Bewegung gegenüber der deutschen Elite lag also in der erhofften Erneuerung von Machtstrukturen, die der Elite Ansehen und Profit bescheren sollten“[18].

Speer übernahm die Planung für den Neubau der damaligen Berliner Innenstadt 1938 (Projektübergabe: 1937) mit einer ihm eigens gegründeten Neugestaltungsbehörde. Schon zu dieser Zeit herrschten Mängel technischer, menschlicher wie organisatorischer Art vor: (a) der Mangel an Arbeitskräften, (b) an Baumaterial und (c) diesem Mangel folgend, ausreichend genügend Ersatzwohnungen für die auszuquartierenden deutschen „Reichsbürger“ (für die, ob der Mängel a und b, keine Alternativen geschaffen werden konnten). Ob seine meta-architektorischen Planungen den realen Umsetzungsbedingen entsprechend überhaupt jemals hätten realisierbar sein können, war für ihn nie eine Gegenstandsfrage (die ökonomische Fragestellung blieb unrelevant). Speer bediente sich der verbrecherischen, mit Gewalt, Terror und militärischer Aggression zu vollführenden Mittel des totalitären Systems wie Vertreibung, Deportation oder Zwangsrekrutierung (insbesondere nach dem Überfall souveräner Staaten wie der Tschechoslowakei) um seinem Ziel näher zu kommen[19]: Hitler eine repräsentative Darstellung seines Größenwahnsinns zu geben und sich selbst in die Geschichtsbücher einzuschreiben. Dies vollführte er gerade in dem Wissen, dass das Quantum an Ressourcen wie Menschen und Baustoffe nicht einmal im Ansatz durch die Geheimpolizei, den Sicherheitsdienst und später durch die SS[20] zu „beschaffen“ sei. Für letztere wurde „der Architekt“ zum ersten und wichtigsten Auftraggeber: Zwar war Speer nicht direkt abhängig von der SS – diese aber durchaus von ihm[21].

Die Architektur von Speer war (als erster und oberster Neugestalter des nationalsozialistischen Regimes) nicht nur in kunsthistorischer Sichtweise ein „Ornament der Gewalt“. Die Planungen seit 1938 für den neuen Hauptstadtbau „Germania“ in Berlin beinhalteten in vielerlei Hinsicht die gleiche verbrecherische Handschrift wie die des gesamten Systems[22]. Speer handelte hierbei ohne Zwang durch die Obrigkeit[23], entgegen vor allem Joachim Fests Darstellungen: Speer bediente sich von vornherein kalkulierend z.B. bei der Steinproduktion für seine Bauten am Konzentrationslagersystem (für welche er mit der SS Lieferverträge für über zehn Jahre abschloss) wobei und womit er das KZ-System dauerhaft ausbauen wollte, durch den Einsatz berufsfremder Hilfsarbeiter aus der zerschlagenen Tschechoslowakei und unterstützte damit wissentlich die Stabilisierung der militärisch gesicherten Gewaltverhältnisse der nationalsozialistischen Kriegspolitik oder auch durch die Enteignung und Vertreibung zehntausender Juden aus ihren Berliner Wohnungen, um Raum für ausquartierten „Reichsbürger“ zu schaffen, mit eingeplanten, folgenden Deportationen und massenhaften Tötungen dieser Juden in den östlichen Vernichtungslagern (Auschwitz, Treblinka, Sobibor...), womit eine billigend in Kauf genommene Forcierung der Judenverfolgung im NS-Vernichtungsapparat einherging[24].

Schon 1938 beschloss Speer auf Kosten der Berliner Juden sein Hauptstadt-Projekt zu beginnen, da, abgesehen von den nicht zu erbringenden Ersatzwohnungen (die sich auf über 100.000 beziffern lässt[25]), der jüdische Lebensraum in Berlin – durch die 1933 erfolgte Entrechtung und Enteignung aller deutschen Juden (und wohnungsspezifisch durch das Gesetz vom 30. April 1939) – den kleinsten, ökonomisch „neu“ zu erbringenden Engpass für sein Projekt bedeutete. Nach anfänglicher Zusammenpferchung in einem, von der jüdischen Gemeinde zu finanzierenden Konzentrationsgebiet innerhalb Berlins (dem sog. „Schachtelraum“[26]), richtete sich das Interesse Speers und dessen leitender Mitarbeiter ab September 1940 auf die zu planende Massendeportationen (auch, weil durch den Kriegsausbruch keine erzwingbare Emigration jüdischer Zwangsenteigneter mehr möglich war). Diese ließ sich jedoch erst von Speer und Heydrich im Oktober 1941 mittels direkter Einwilligung Hitlers (und durch die Einbindung von Goebbels ab Januar 1941) bewerkstelligen. Ausführendes Organ, der von seiner Behörde erstellten Listen zur Deportation in den Osten frei gegebenen Juden war die Gestapo, die SS übernahm dann die Transporte.

Bereits Anfang 1941 hatte die Behörde von Speer die Wohnungsberatungsstelle der jüdischen Kultusvereinigung als Puffermittel für ihre Willkür eingebunden, um nicht in direkte Konfrontation bzw. Verbindung zu den Opfern gebracht zu werden, die durch den Terror der Räumung entstand. Die Wohnungsberatungsstelle musste für die Gestapo die bürokratischen Deportationsvorbereitungen bewerkstelligen, wobei die Berliner Juden in deren Vorfeld kontinuierlich in eine Verelendung getrieben werden sollten. Somit gab es von der Speer’schen Behörde zur Deportation keine wahrnehmbare Verbindung. Die Wohnungsberatungsstelle konnte nur in einigen Fällen Deportationszurückstellungen erwirken, die jüdische Binnensolidarität stärken und begrenzt helfen, die Lebensbedingungen „erträglich“ zu halten. Die Verelendung und Deportation konnte sie nicht verhindern. Wie rigoros Speer und seine Untergebenen dabei vorgingen, zeigte sich während der sog. „dritten Aktion“ der Deportation im Januar 1942 – zu dieser Zeit war er noch nicht Rüstungsminister –, als selbst das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt eine Blockade gegen Speer einlegte, weil es befürchtete, dass durch den Abtransport dieser Juden die Wehrmachtsaufträge der Berliner Rüstungsfirmen nicht mehr erfüllbar wären.

Damit stand Speer nun zwischen zwei Interessenlagern und war selbst ein Drittes: erstens brauchten die Berliner Rüstungsbetriebe die Berliner Juden als Zwangsarbeiter, zweitens bestand die SS darauf, diese Juden in die östlichen Konzentrationslager zu deportieren um ihrerseits nicht in eine ökonomische Abseitslage zu geraten – zum einen aus ideologischen Gründen, zum anderen zwecks Lagerausbau von Ausschwitz-Birkenau und den vorgegeben Vernichtungs-Soll-Zahlen... Die SS hatte schlichtweg zu wenig „Material“ zur Vergasung. Drittens war es Speers Interesse, neuen Raum in Berlin zu schaffen, um seine Umbaumaßnahmen fortführen zu können.

Speer entwickelte in den folgenden Monaten – nun in der Funktion des Rüstungsministers[27] – ein Programm, in welchem er alle drei Interessen miteinander verband: die Deportationen sollten ab Mai 1942 wieder aufgenommen werden, um seinen Plänen und den deckungsgleichen der SS genüge zu tun. Gleichzeitig sollten die jüdischen Zwangsarbeiter und deren Angehörige schrittweise durch ausländische Zwangsarbeiter (in dieser Zeit aus Frankreich und der Slowakei kommend) ausgetauscht werden. Dabei seien rüstungsrelevante Berliner Juden von den Deportationen ausgenommen, wobei sich Speer den Zeitpunkt dieser Deportation vorbehielt. Somit konnte parallel zu Himmlers wachsenden „Konzentrationslagerimperium“ (Willems), die Rüstungsproduktion erhöht werden – was der Wirtschaft entgegen kam – und Berlin „judenfrei“ gemacht werden, um Speers eigene Pläne fortzuführen. Gleichzeitig verknüpfte Speer noch die Interessen Himmlers mit denen der Wirtschaft in einer zweiten Hinsicht, indem er der Rüstungsindustrie vorschlug, Produktionsstätten in die Konzentrationslager zu verlegen, was jedoch nur einzelne Betriebe als interessant ansahen. Im September 1942 bot er der Wirtschaft an, umgekehrt, Konzentrationslager in der Nähe ihrer Produktionsstätten aufzubauen, und für angeforderte Zwangsarbeiter zu sorgen. Der SS gab Speer weiter die Zusage, eigene Produktionsstätten in leeren Werkskomplexen und zu errichtenden Neubauten aufzubauen, und diese durch arbeitsfähige Juden betreiben zu lassen.

Mit diesem „Speer-Programm“ konnte die Industrie die vorgegebenen Soll-Zahlen für die Deportation nach Auschwitz erreichen, da für die Zwangsarbeit nur die Arbeitsfähigen signifikant waren – alle anderen wurden vergast und Auschwitz zum Koordinationszentrum der europäischen Sklavenarbeit[28] gemacht.

Ankläger Jackson am 26. Juli 1946 in seinem Abschlussplädoyer bei den Nürnberger Prozessen:

„(...) Wenn wir nun die Erzählungen der vorderen Reihe der Angeklagten zusammenstellen, so bekommen wir folgendes lächerliches Gesamtbild von Hitlers Regierung; sie setzte sich zusammen aus: einem Mann Nr.2, der nichts von den Ausschreitungen der von ihm selbst eingerichteten Gestapo wusste und nie etwas vermutete von dem Ausrottungsprogramm gegen die Juden, obwohl er der Unterzeichner von über 20 Erlassen war, die die Verfolgung dieser Rasse ins Werk setzten; einem Mann Nr.3, der nur ein unschuldiger Mittelsmann war, der Hitlers Befehl weitergab, ohne sie überhaupt zu lesen, wie ein Briefträger oder Botenjunge; einem Außenminister, der von auswärtigen Angelegenheiten wenig und von der auswärtigen Politik gar nichts wusste; einem Feldmarschall, der der Wehrmacht Befehle erteilte, jedoch keine Ahnung hatte, zu welchen praktischen Ergebnissen diese führen würden; einem Chef des Sicherheitswesens, der unter dem Eindruck war, dass die polizeiliche Tätigkeit seiner Gestapo und des SD im wesentlichen derjenigen der Verkehrspolizei gleichkam; (...) und einem Bevollmächtigten für die Kriegswirtschaft, der geheim die ganze Wirtschaft für Rüstungszwecke leitete, jedoch keine Ahnung hatte, dass dies irgend etwas mit Krieg zu tun hätte. Wenn sie diesen Männern sagen sollten, dass sie nicht schuldig seien, so wäre es ebenso wahr zu sagen, dass es keinen Krieg gegeben habe, dass niemand erschlagen und kein Verbrechen begangen worden sei“[29].

Speer sollte heute, neben Eichmann, als „das erschreckende Symbol des gewissenhaften Bürokraten“ unter immer neuem Druck in Deutschland verstanden werden, der vermeintliche Zwangslagen durch immer neuere und radikalere Lösungsstrategien zu überwinden versuchte – eine Einstellung, die sich bis heute in der Bürokratie erschreckend oft wiederfindet. Dieser Ansatz wird unter anderem von Joachim Fest komplett ausgeblendet[30]. Hannes Heer geht insofern sogar so weit, dass er Fest damit konstatiert, sich in „Hitlers Hof“ eingeschrieben zu haben. Hitlers Hof hat bei den Nürnberger Prozessen jegliche Mitschuld an den Verbrechen gegen die europäischen Juden (wozu auch das Mitwissen zu zählen ist) bestritten. Diese Unwissenheit wurde von Fest in seinen Büchern über Speer manifestiert. Das Bewusstsein von Geschichte als tradierendes Produkt menschlicher Einstellung erweist sich immer noch als stark, wenn unhinterfragt Halbwahrheiten als komplettierendes Abbild der Geschichte akzeptiert werden. In Deutschland gab es Widerstand gegen die Nationalsozialisten, aber es war kein Volk von Widerstandskämpfern, die sich gegen eine kleine Gruppe von Machthabern nicht hat wehren können. So weiter geführt von Fests Schüler Guido Knopp und seinen verkürzt dargestellten Dokumentationen über die NS-Herrschaft „der wenigen“ gegen das Volk. Von 6497 Angeklagten gegen NS-Gewaltverbrechen sind lediglich 166 zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt worden (bei definitiven Vorliegen der Täterschaft). Der Schutz der Rechtsgüter (Freiheit, Leben, individuelle Rechtssicherheit) wurde im Nachkriegs-Westdeutschland durch die Auflösung des Täterbegriffs stark begrenzt. 91,6 Prozent der Täter wurden als bloße Gehilfen höchstens zu geringen Gefängnisstrafen abgeurteilt, die keine eigenen Taten begannen, sondern „eine fremde Tat begingen“[31].

Werden die Arbeiten des Speer’schen Sohnes in seinem Architekturbüro Speer und Partner analysiert, so ist die Handschrift zum Erreichen der persönlichen Ziele in totalitären Systemen ähnlich denen des Vaters erschreckend[32]. Auch der Junior behauptet von sich, nur unpolitischer Architekt zu sein, der von einem totalitären System in China nichts zu wissen meint[33]. Während der Senior an seinem Germania-Projekt scheiterte, führt sein Sohn heute genau jene Pläne mit Hilfe der kommunistischen Partei in China fort und konstruiert dort „neue Wunderstädte“ für Millionen von Menschen, ganz wie der Vater diese durch Berlin und in Osteuropa konzipierte[34]. Zwar kann dem Junior nicht unterstellt werden, sich an der chinesischen Politik oder direkt der Tradition des Vaters zu beteiligen. Der Umgang mit menschenverachtender Politik trägt jedoch klar die Handschrift des Seniors und der deutschen Elite...

Torben Ehlers ist Diplom-Sozialwissenschaftler und Doktorand der Philosophie an der Universität Hannover.

Anmerkungen

[1] Albert Speer über seine Benennung als Rüstungsminister (in: Susanne Willems [2002, Berlin]: „Der entsiedelte Jude“, S. 419).

[2] Albert Speer über die korrupte Verderbtheit der „Naziprominenz“ nach der Reichspogromnacht in seinen „Erinnerungen“ (Berlin 1969; in: Hannes Heer [2005, Berlin]: „Hitler war’s“, S. 80).

[3] Zum Mythos des „guten Nazi“, siehe Dan Van De Vaat (1997, Berlin): „Der gute Nazi“.

[4] Joachim Fest (1999, Berlin): „Speer – Eine Biographie“: Obwohl schon Matthias Schmidt 1982 („Albert Speer – Das Ende eines Mythos“, München) Speers Verbrechen im dritten Reich ansatzweise offengelegte, überging Fest diese fundierten Tatsachen einfach und verschwieg sie. Sie passten nicht zu dem von ihm kreierten Speer-Bild des „Gentleman-Nazis“.

[5] Alexander und Margerete Mitscherlich (1968, Memmingen): „Die Unfähigkeit zu Trauern“.

[6] Vgl. Gitta Sereny (1995, München): „Das Ringen mit der Wahrheit – Albert Speer und das deutsche Trauma“, u.a. Prozessbeobachterin in Nürnberg 1946; Susanne Willems (2002, Berlin); Hannes Heer (2005, Berlin).

[7] Siehe Joachim Fest (2005, Reinbeck bei Hamburg): „Die unbeantwortbaren Fragen“.

[8] Vgl. Hannah Arendt (2008, München): „Eichmann in Jerusalem“.

[9] So wird Speer in allen TV-Dokumentationen (vgl. bspw. die vierteilige Dokumentation „Speer und Er“, Buch und Regie: Heinrich Breloer, 2004) und auch im Film „Der Untergang“ (Vorlage: Joachim Fest, Buch: Bernd Eichinger, 2004) bei seinem letzten Besuch im Führerbunker im April 1945 noch als Hitlers Architekt bezeichnet, obwohl er zu dieser Zeit schon seit über drei Jahren Rüstungsminister gewesen ist und die Kriegsproduktion auf immer neue Rekordzahlen durch Sklavenarbeit hochschraubte (vgl. auch Heer [2005, Berlin]).

[10] Alexander und Margerete Mitscherlich (1968, Memmingen): „Die Unfähigkeit zu Trauern“.

[11] Nach eigenem Bekunden erwachte Speers Interesse am Nationalsozialismus im Dezember 1930 nach dem Besuch einer politischen Kundgebung in der Berliner Hasenheide, bei der Hitler als Redner auftrat. Einige Wochen später, am 1. März 1931, trat er in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 474 481). Im selben Jahr wurde er Mitglied der SA, wechselte aber 1932 von der SA zur Motor-SS.

[12] Bei seinem Besuch in der Ukraine 1942 fuhr er über Leichenfelder zehntausender vor Verwesung die Erde aufwühlender Juden.

[13] Siehe in der Gedenkausstellung für die Opfer auf dem ehemaligen KZ-Gelände in Mittelbau Dora.

[14] Alexander Mitscherlich in der FAZ: „’Auf seine Weise liebte Adolf Hitler Albert Speer, und auf seine Weise liebt Albert Speer... Hitler...’ Mitscherlich beschreibt die Beziehung als ein unendlich komplexes, nicht- sexuelles >homoerotisches< Verhältnis auf der Grundlage von Bedürfnissen, die nur Hitler und Speer hätten einander erfüllen können. (...) Der, junge, schöne und reine Speer habe für Hitler einen Traum seiner selbst verkörpert; und für Speer sei Hitler nicht nur das Instrument zur Verwirklichung all seiner Phantasien gewesen (...), sondern der Held, der starke und mächtige Beschützer, den er seit seiner Kindheit gesucht habe“ (siehe dafür: Gitta Sereny [2004], S. 277f.).

[15] Vgl. Hannah Arendt (2000, München): „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“.

[16] Wobei bewiesen ist, dass Speer die Kriegsproduktionen durch das Sklavenarbeiter- und Konzentrationslagersystem der SS bis Kriegsende auf immer höhere Stückgüterzahlen treiben konnte und maßgeblich daran beteiligt gewesen ist, dass der Krieg somit um Monate, wenn nicht mindestens weit über ein Jahr verlängert worden ist (vgl.: Susanne Willems [2002, Berlin], S. 441).

[17] Joachim Fest hat Zeit seines Lebens versucht, Speer als „unpolitischen Künstler-Techniker“ darzustellen, der dem Typus nach technokratisch-amoralisch gehandelt habe und somit zwar zum Komplizen Hitlers, nicht aber zum Verbrecher wurde. Fest erklärt dies schlichtweg mit mangelndem „Empathievermögen“ Speers gegenüber einer eigenen Sichtweise für die Verantwortung des Ganzen vor den Nürnberger Prozessen. Speer hätte als Architekt lediglich aufgabenspezifisch gedacht, womit ihm ein Denken in größeren sozialen Zusammenhängen nicht inhärent gewesen sei (was bei einem Rüstungsminister im Krieg für mehr als drei Jahre schlichtweg undenkbar erscheint; abgesehen davon, dass Speer mit der Hauptstadtplanung sehr wohl „Sozial" gedacht hat, nur im Größenwahnsinn der NS-Idiosynkratie); eine Implikation, von der (wie Heer richtig schreibt) Fest Zeit seines Lebens nicht mehr losgekommen ist. Darüber hinaus hat Fest immer versucht, die Beweise der Täuschung von Seiten Speers zu entkräften (vgl. Hannes Heer [2005, Berlin], S. 78ff).

[18] Vgl. Torben Ehlers (2009, Hannover): „Die Arendt’schen Begriffe des Parias (sowie Parvenue), Idealist und Fanatiker anhand der Beispiele von Albert Speer und Adolf Eichmann gegenüber psychologischen Verdrängungsleistungen der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland“.

[19] Nach Siemens und der Reichsbahn war der GBI (die Generalbauinspektionsbehörde von Speer) 1942/43 drittgrößter Betreiber von Zwangsarbeiterlagern im Großraum Berlin.

[20] Ab 1936 reorganisierte die SS die Konzentrationslager insofern, als das sie als zukünftige „Sklavenhalterfirma“ (Willems) und Beschaffer von Baumaterial am Bauboom profitieren könne.

[21] Mit Heinrich Himmler vereinbarte Speer die Herstellung und Lieferung von Baumaterial durch KZ-Häftlinge. Das Kapital für die von der SS gegründete Firma „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DEST)“ wurde aus dem Haushalt Speers finanziert. Das Geld floss direkt in den Aufbau des KZ-Systems. Der zinslose Kredit für die SS-Totenkopfverbände war rückzahlbar an Speers Behörde in Form von Steinen. Deshalb wurden fast alle KZs zwischen 1937 und 1942 in der Nähe von Tongruben oder Steinbrüchen gebaut. Für die Lager in Groß-Rosen in Schlesien und Natzweiler-Struthof im Elsass hat Speer 1940 die Standorte wegen der dortigen Granitvorkommen selbst festgelegt.

[22] „Die Architekturhistoriker Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers konnten nachweisen, dass Speer schon am 14. September 1938 bei einem Treffen mit Vertretern des städtischen Planungsamtes vorgeschlagen hatte, die als Ersatz für den Abriss benötigten ‚Großwohnungen durch zwangsweise Ausmietung von Juden freizumachen’. Bevor man damit beginne, müsse Speer allerdings ‚zunächst die Auffassung des Führers erkunden [...]. Danach würden die erforderlichen gesetzlichen Handhabungen zu schaffen sein.’ Diese Handhabungen besorgte die Pogromnacht des 9. November 1938“ (in: Hannes Heer [2005, Berlin], S. 90).

[23] Aufgrund der Aktenlage lässt sich heute beweisen, dass die Deportationslisten zwischen Oktober 1941 und März 1943 von Speers Mitarbeitern zusammen mit der Gestapo erstellt wurden. Speer hat die Kenntnis davon bis zu seinem Tode bestritten. Gleichwohl schrieb er in einem Brief vom 13. Dezember 1941 an Martin Bormann, dass die „Aktion in vollem Gange“ sei, und beschwerte sich darüber, dass Bormann „Judenwohnungen“ ausgebombten Berlinern bereitstellen wolle, obwohl doch diese ihm (Speer) zustünden.

[24] Vgl. Susanne Willems (2002, Berlin): „Der entsiedelte Jude“, S. 422f.

[25] Vgl. Hannes Heer (2005, Berlin), S. 87.

[26] „Das Gesetz vom 30. April 1939, das es Vermietern erlaubte, Juden zu kündigen, löste in Deutschland eine umfangreiche Umzugsbewegung aus, deren Steuerung den Wohnungsämtern oblag. In Berlin sicherte sich Speers Generalbauinspektion, weil sie davon profitierte, diese Zuständigkeit. Ein Referat (...) befasste sich (...) mit der Aufgabe, alle 23.000 Wohnungen mit ihren 82.000 jüdischen Bewohnern zu erfassen und die Räumung in Zusammenarbeit mit der Gestapo einzuleiten. Die jüdische Gemeinde wurde verpflichtet, für die Unterbringung der Ausgesiedelten Sorge zu tragen“ (in: Hannes Heer [2005, Berlin], S. 88).

[27] Spätestens zu diesem Zeitpunkt gehörte Speer zum engsten Kreis der nationalsozialistischen Machthaber. Er war in seiner neuen Position auch verantwortlich für die Zuteilung von Baumaterial an die Konzentrationslager. Der Name des Speer-Ministeriums wurde aufgrund der gewachsenen Aufgabenzahl 1943 in Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion (RuK) geändert. Albert Speer gelang eine massive Erhöhung der Rüstungsproduktion durch den Einsatz von Millionen von Zwangsarbeitern, die vor allem von Fritz Sauckel und SS-Gruppenführer Dr.-Ing. Hans Kammler rekrutiert wurden und die unter anderem die zur Wehrmacht eingezogenen Arbeiter ersetzten. Das Konzept der „Selbstverantwortung der Industrie“ wurde von Speer umgesetzt und die handwerkliche Fertigung von Rüstungsgütern in den ersten Kriegsjahren wurde durch einen industriellen Fertigungsprozess abgelöst.

[28] Der Ausbau von Auschwitz- Birkenau kostete 13,7 Millionen Reichsmark. Es war exakt jene Summe die Speer bewilligt hatte, welche Himmler zuvor angefordert hatte (auch zum Ausbau von zwei provisorischen Gaskammern und Krematorien auf nun 4 „perfektionierte“ Massentötungskammern, Großkrematorien, Verwesungshallen, usw.). Der Ausbau der Vernichtungsstruktur von Auschwitz war also elementarer Bestandteil des „Speer- Programms“.

[29] Gustave M. Gilbert (1962, Frankfurt am Main): „Nürnberger Tagebücher“.

[30] Als Hitlers Rüstungsminister forderte er ebenfalls in steigendem Maße Zwangsarbeiter an, die ihm Heinrich Himmler und Fritz Sauckel verschafften. Die Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter waren für Speer nicht von Bedeutung. In einem Fernseh-Interview nach seiner Freilassung 1966 behauptete Speer, nichts von der massenhaften Ermordung der Juden und anderer Minderheiten während der deutschen Besatzung gewusst zu haben. Speer war jedoch am 6. Oktober 1943 in Posen bei den Reichs- und Gauleitern und hielt dort eine Rede. Dann sprach Himmler von 17:30 bis 19:00 Uhr in der zweiten seiner „Posener Reden“ offen über den Holocaust. Speers Einlassung, er sei zuvor abgereist und habe auch von befreundeten Teilnehmern nie etwas davon erfahren, wird von Gitta Sereny (1995, München) als „schlicht unmöglich“ bezeichnet. Neu aufgefundene Dokumente legen nahe, dass Speer den Ausbau des Zwangsarbeits- und Vernichtungslagers Auschwitz nicht nur kannte, sondern auch aktiv vorantrieb. Die Selektion der Häftlinge in Arbeitsfähige für die Rüstungsindustrie und in für die Vernichtung bestimmte Alte, Kranke und Kinder entsprach seinen Interessen. Als Rüstungsminister brauchte er Zwangsarbeiter und als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt hatte er für die Neugestaltung Berlins die Massendeportation der Berliner Juden betrieben. Die Recherchen und ihre Bewertung durch die Historiker sind auch auf diesen Gebieten noch nicht abgeschlossen.

[31] Siehe Joachim Perels (2004, Hannover): „Entsorgung der NS-Herrschaft? – Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime“), S. 20ff.

[32] 2001 wurde ein Büro in Shanghai eröffnet, um bei den Planungen vor Ort agieren und reagieren zu können. Dieses „Representative Office“ ist seit Frühjahr 2007 eine chinesische Firma, die zu 100 % AS&P (Albert Speer und Partner) gehört. Im Büro arbeiten gegenwärtig (2009) mehr als 100 Mitarbeiter. Im Januar 2006 konnte sich das Büro bei einem Designwettbewerb gegen Architekturbüros aus Japan, China und den USA durchsetzen. Das Büro übernimmt die Planungen für eine riesige, 120 km² große Automobilstadt mit 300.000 Einwohnern bei der chinesischen Industriemetropole Changchun.

[33] Vgl. die Dokumentation „Albert Speer“, Phönix.

[34] Bereits 1940/41 waren eine Vielzahl von Fachpublikationen zum Wiederaufbau vorgelegt worden. Ab 1943 richtete Speer einen zentralen „Arbeitsstab Wiederaufbau zerstörter Städte“ unter seiner Leitung ein. Die hier vertretenen Architekten und ihre planerischen und baulichen Überlegungen spielten - mit Ausnahme von Speer selbst - noch Jahrzehnte nach Kriegsende eine wichtige Rolle. Ihre modernistischen Planungen kamen unter Verzicht auf die NS-Symbolik fast ausnahmslos zum Tragen.

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sopos 11/2009