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Zur Perspektivlosigkeit (materialistischer) Menschenrechtspolitik

von Simon Birnbaum

Alle sind für Menschenrechte - von Merkel[1] über Ahmadinedschad[2] bis hin zu materialistischen Theoretikern[3]. Auch der Autor dieses Artikels macht da keine Ausnahme. Erstaunlich nur, daß es sich beim Einsatz für Menschenrechte trotzdem um eine Sisyphos-Arbeit handelt. Der Grund dafür dürfte sein, daß die Menschenrechtsinhalte, vor allem aber ihre Rechtsform auf gesellschaftlichen Verhältnissen basieren, die ohne Unterlaß das Gegenteil von menschenrechtskonformen Zuständen hervorbringen. Insofern sind die Menschenrechte schon für Abwehrkämpfe nur das beste unter den schlechten Mitteln, taugen aber erst Recht nicht für eine emanzipatorische Perspektive.

Es ist nicht erstaunlich, daß die Durchsetzung der zentralen Menschenrechtsinhalte - Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit - in der Glorious Revolution in England und der Französischen Revolution einher ging mit der Entwicklung des Kapitalismus etwa durch Entstehung des freien Unternehmertums und des doppelt freien Lohnarbeiters. Das Zentrum der Reproduktion des Kapitalismus, das Kapital, die "Selbstverwertung des Werts", setzt Kerninhalte der Menschenrechte voraus. Zumindest ein Minimum von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind unabdingbar. Zentrale handgreifliche Ausprägungen sind Vertragsfreiheit, formale Chancengleichheit und gerechte Preisbildung auf der Grundlage von Wert, Angebot und Nachfrage.

Doch die Folgen des Verwertungszwangs, etwa in Gestalt des Konkurrenzkampfs, verursacht nicht nur permanent Ungleichheit und Unfreiheit, sondern auch die Gefahr der Gegenemanzipation - unvermittelte Gewaltherrschaft und repressive Vergemeinschaftung. Um den inneren Widersprüchen der bürgerlichen Gesellschaft und der Gegenemanzipation zumindest eine Grenze zu setzen, bedarf es der Durchsetzung: der Menschenrechte. Kein Wunder also, wie die Kerninhalte der Menschenrechte genau besehen aussehen: Die menschenrechtliche Freiheit muß dort aufhören, wo die Ellenbogen der Anderen anfangen. Die menschenrechtliche Gleichheit bedeutet, Verschiedenes zwanghaft gleich zu machen und reale Ungleichheiten unter dem Deckmantel von Gleichheit vor dem Gesetz zu akzeptieren. Und zu guter Letzt: Die menschenrechtliche Gerechtigkeit setzt eine Bewertung als Maßstab voraus.

Freiheit, Gleichheit, Zaunpfahl

Die angedeutete inhaltliche Verbindung zwischen Menschenrechten und kapitalistischen Verhältnissen kann auch schon eine erste Idee davon geben, warum der Einsatz für Menschenrechte - trotz und wegen der Verbindung - eine Sisyphosarbeit ist: Indem er sich ein Element des Kapitalismus zu eigen macht, nimmt er es damit zugleich mit den menschenrechtswidrigen Kräften der kapitalistischen Verhältnisse auf. Freiheitsschutz ist entsprechend geplagt vom ständigen Einreißen der Schutzzäune, etwa durch Konkurrenten. Die Forderung nach Gleichheit muß gegen die Ungleichheit in Konkurrenz- und unter Klassenherrschaft erhoben werden. Und Gerechtigkeit wird auf der Grundlage einer Bewertung verlangt, die zu einer Produktions- und Verteilungsweise gehört, der Solidarität grundsätzlich fremd ist.

Aber das angedeutete Menschenrechtsminimum bedeutet natürlich noch nicht sehr viel an menschenrechtlichem Schutz; klar, was nützt Vertragsfreiheit, wenn man wegen der falschen politischen Ideen im Gefängnis landet? Und wie sieht es mit den Teilhaberechten, etwa dem Recht auf Ernährung aus?

Doch wer meint, mit anderen oder neuen Menschenrechtsinhalten wäre das Problem gelöst, irrt. Die kapitalistische Vergesellschaftungsform in Gestalt der Rechtsform steht dem entgegen. Worum geht es dabei? Zentrales Element der kapitalistischen Vergesellschaftungsform ist die zwanghafte, verselbständigte Vermittlung konkreter Vielheit durch Abstraktion. Eine wichtige Emanation der Kapitalform ist die Rechtsform, die als Norm, als deren Erlaß oder Auslegung erscheint. Es handelt sich dabei um die Vermittlung des konkreten, außerrechtlichen Gesellschaftlichen durch die Abstraktion der Begriffe Rechtssubjekt und -objekt. Das spezifisch Kapitalistische ist zunächst die Universalisierung dieser Vermittlung und damit der Rechtssubjektivität - anders als etwa im antiken römischen Recht die Bindung des Rechts an bestimmte Gruppen, wie die der Bürger Roms. Damit zusammenhängend gibt es aber auch eine qualitative Besonderheit: Die Vermittlung vollzieht sich grundsätzlich rein relational, also nicht mit inhaltlichen Bezügen - wie noch in der Antike auf bestimmte Gruppen - sondern mit Bezug auf eine Art transzendentales Rechtssubjekt.

Herrschaft durch Vermittlung

Im Zusammenhang mit anderen Emanationen der kapitalistischen Form - der Warenform, der Logikform etc. - stellt sich wegen der Universalisierung und grundsätzlichen Loslösung von den Inhalten der zentrale Charakterzug der kapitalistischen Vergesellschaftungsform dar: Totalisierte Herrschaft durch Vermittlung oder totalisierte abstrakte Herrschaft - die zentrale Herrschaftsweise des Kapitalismus.

Garant dieser Herrschaft ist eine Zwangsgewalt: der Staat, oder auf internationaler Ebene, internationale Organisationen, die staatenähnlich sein müssen. Andernfalls funktioniert - wie bisher auf internationaler Ebene noch oft - die Durchsetzung der kapitalistischen Form im Allgemeinen sowie der Menschenrechte im Besonderen nicht. Daß der Staat gerade auch eine zentrale Instanz für unvermittelte Herrschaft ist, zeigt nochmals, wem und was der Einsatz für Menschenrechte auch dient.

Im Namen des Rechts

Die Form der Vermittlung muß sich widersprüchlich vollziehen - es handelt sich hier lediglich um eine weitergehende Bestimmung der, bisher nur losgelöst von der Form, oben dargestellten Widersprüche: Der Herrschaftscharakter der Form resultiert nämlich auch daraus, daß die rechtliche Subsumtion wie die Kapitalverwertung nicht von selbst vonstatten gehen, sondern ständige Reibereien an der Tagesordnung sind. Das ist letztlich banal: Viele Menschen arbeiten nicht gerne oder wollen den Grenzzaun nicht zugunsten des Nachbarn versetzen. Daß die Rechtsform der Menschenrechte Emanation einer Vergesellschaftungsform ist, die sich zwanghaft, widersprüchlich und totalisiert vollzieht, deutet also weitergehend die Antwort auf die Frage nach dem Sisyphos-Charakter des Einsatzes für Menschenrechte an. Kurz: Wer Ja zu Menschenrechten sagt, muß Herrschaft mitdenken. Darüber hinaus ist natürlich zu berücksichtigen, daß sich durch gezielte Auswahl der Menschenrechtsverletzungen, denen man sich politisch widmet, Macht- und Ressentimentpolitik im Namen der Menschenrechte machen läßt. Merkel ist dafür ein Beispiel, etwa im Hinblick auf China, Ahmadinedschad sicherlich ein noch viel besseres im Hinblick auf die USA und Israel.

Die fehlende emanzipatorische Perspektive ist damit angedeutet: Die Menschenrechte formulieren zwar Ansprüche, die auf das emanzipatorische Ziel der möglichst weitgehenden individuellen Entfaltung in freier Assoziation verweisen. Dafür ist aber eine herrschaftsfreie gesellschaftliche Vermittlung notwendig, die man nur durch Überwindung der kapitalistischen Vergesellschaftungsform erreichen kann. Das zielt aber nicht nur auf gesellschaftliche Vermittlung ohne Recht, sondern damit auch auf Vermittlung ohne Menschenrechte. Dabei gilt: Soweit von nichtkapitalistischem Recht, etwa dem so genannten traditionellen Recht in Afrika die Rede ist - was auf eine andere Form des Rechts zielen könnte - hat man es zwangsläufig entweder mit ähnlichen Arten zwanghafter Vermittlung durch Abstraktion zu tun, oder es handelt sich in Wirklichkeit nicht um Recht, sondern um unvermittelte Herrschaft und Vergemeinschaftung.

Anmerkungen:

[1] Bekanntlich ständig, z. B. am 15. 4. 2008 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.

[2] Z. B. vor der UNO-Generalversammlung am 25. 9. 2007.

[3] Vgl. Markus Wissen u. a.: Perspektiven einer materialistischen Menschenrechtspolitik, ak, 21.3.2008, S. 15-16.

Simon Birnbaum arbeitet als Menschenrechtsanwender in Berlin.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 307.

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sopos 8/2008