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Alternativen zu Hartz IV gibt es!

Erinnerung an die Idee eines Sozialeinkommens

von Marcus Hawel

"Hartz IV" weist den Weg in eine völlig falsche Richtung. Nicht nur werden statt der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen bekämpft, sondern diesen wird nun ein Leben auf Armutsniveau aufgezwungen. Letztes ist die zynische Wahrheit des "Fordern und Fördern". "Hartz IV" wird die Zahl der Armen von jetzt ca. 2,8 Millionen auf ca. 4,5 Millionen ansteigen lassen. Daß hier ein sozialer Sprengstoff entsteht, ist nicht von der Hand zu weisen - man kann nur hoffen, daß er sich politisch nach links, nicht nach rechts entlädt.

Der Sozialstaat, wie er von der rot-grünen Regierung abgeschafft wird, war gleichwohl nicht das non plus ultra, da er auf ungerechten Prinzipien beruhte, die Ungleichheit in der Klassengesellschaft zementierte. An dieser Stelle seien en passant nur einige benannt:

1.) Das Prinzip der Leistung. Nur wer etwas leistet, ist auch etwas wert. Wer mehr leistet, ist auch mehr wert. Wer nichts geleistet hat, dem wird gerade das zugestanden, was seine Bedürftigkeit auf minimalem Niveau gewährleistet, damit er sich gezwungen sieht, was zu leisten. - Angesichts strukturell bedingter Massenarbeitslosigkeit ist dieses Prinzip schlicht menschenverachtend.

2.) Das Prinzip des Statuserhalts. Kopfarbeit wird besser entlohnt als Handarbeit. Das Arbeitslosengeld sicherte den Status des Betroffenen und den Verbleib in der Schicht, aus der er oder sie kommt. Jemand, der ein Jahr als Abteilungsleiter in einem mittelständischen Betrieb gearbeitet hat, erhielt demzufolge mehr Arbeitslosengeld als jemand, der 20 Jahre als Maurer auf Baustellen gearbeitet hat. - Das Leistungsprinzip stand hier im Widerspruch zum Statusprinzip. Sozialhilfeempfänger, die gar nicht die Chance hatten, wenigstens ein Jahr lang einen Job auszuüben und in die Sozialversicherung hineinzukommen, müssen mit einem Betrag leben, der faktisch unterhalb der Armutsgrenze und des Existenzminimums liegt. Auch das ist ungerecht angesichts der Tatsache, daß gar nicht genügend bezahlte Arbeit vorhanden ist, wenn es bei dem bisherigen Maß der Arbeitszeit bleibt, diese sogar wieder auf 40 Stunden pro Woche erhöht wird.

3.) Das patriarchale Prinzip. Männerarbeit wurde in der Regel besser entlohnt als Frauenarbeit. Dementsprechend erhielten Männer auch mehr Arbeitslosengeld als Frauen, wenn sie arbeitslos wurden.

Allein um gegen diese drei Prinzipien mehr Gerechtigkeit in der sozialstaatlichen Fürsorge zu behaupten, hätte diese längst reformiert werden müssen. Aber nicht so, wie es nun geschieht. Es ist grundlegend falsch, heute noch zu behaupten, Leistung müsse sich lohnen, und dementsprechend müsse eine deutliche qualitative Differenz zwischen dem Leben ohne und dem Leben mit bezahlter Arbeit existieren. Es ist ein fataler Irrtum, an der Vorstellung festzuhalten, es sei möglich, auf Basis von Vollzeitbeschäftigung die Arbeitslosigkeit bis zur Vollbeschäftigung bekämpfen zu können und dabei gleichzeitig zu ignorieren, daß die Massenarbeitslosigkeit kein individuelles Problem der Arbeitslosen ist, die sich aufgrund allzu großzügiger staatlicher Versorgung in ihrer "sozialen Hängematte" ausruhten. Die Massenarbeitslosigkeit ist ein strukturelles, d.h. objektives Problem, denn es wird immer weniger lebendige Arbeit im maschinellen, automatisierten und computerisierten Produktionsprozeß benötigt. Die große Industrie hat es bewirkt, daß der Arbeiter neben den Produktionsprozeß getreten ist und nicht mehr sein Hauptagent ist. Das sah Marx voraus: "Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert (das Maß) des Gebrauchswerts."[1]

Vom Standpunkt gesellschaftlicher Vernunft ist es demzufolge ein absoluter Irrsinn, die Arbeitszeit auf dem vorhandenen Maße zu belassen oder gar, wie es jetzt die Tendenz annimmt, zur 40-Stunden-Woche zurückzukehren. Das verschafft den Kapitalverwaltern lediglich höhere Profite, weil sie damit keine Mehrarbeit in Form von Überstunden mehr höher zu entlohnen hätten; sie sind damit auch imstande zusätzliche Arbeiter zu entlassen und Arbeitskosten generell zu verringern. Aber dem Staat entstehen dadurch in jedem Fall höhere Belastungen aufgrund weiter steigender Arbeitslosigkeit; mit "Hartz IV" mogelt sich dieser wiederum aus der Verantwortung und überantwortet die Last den einzelnen Arbeitslosen, bei denen sich diese in nacktes Elend verwandelt. Arbeitslosengeld auf Höhe des Sozialhilfeniveaus ist vermutlich gerade mal so viel, um nicht kollektiv zu rebellieren, aber zu wenig, um in Würde leben zu können.

Richtig und vernünftig wäre es, die Arbeitszeit radikal zu verkürzen und die vorhandene Arbeit auf alle gleichermaßen und angemessen zu verteilen. Nur so läßt sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Industrieländern dieser Welt vorbildlich die Arbeitslosigkeit bekämpfen. In diesem Zusammenhang hat André Gorz Anfang der Achtziger die Idee einer Abkoppelung des Rechts auf Einkommen von dem Recht auf Arbeit entworfen, an die heute dringend zu erinnern ist. Das Recht auf Arbeit, auf einen Arbeitsplatz sowie auf Einkommen seien allzu lange als eine Identität, d.h. als dasselbe angesehen worden. Dabei könne es nicht mehr bleiben, forderte Gorz schon damals. Die Arbeitslosenunterstützung in der Form, wie sie nun durch "Hartz IV" abgeschafft wird, hatte bereits, wenn auch in verschleierter Form, anerkannt, daß es bei dieser Identität nicht mehr bleiben könne. Insofern war sie ein Fortschritt in politisch-ökonomischer, aber auch gesamtgesellschaftlicher Hinsicht. "Wenn den Arbeitslosen in den nordeuropäischen Ländern für unbegrenzte Zeit 70% ihres früheren Lohns ausgezahlt werden oder wenn Arbeiter, die das 55. Lebensjahr, in einigen Krisensektoren das 50. Lebensjahr überschritten haben, mit 70 bis 90% ihres Lohns pensioniert werden, ist faktisch das Recht auf Einkommen bereits vom Besitz eines Arbeitsplatzes abgekoppelt worden."[2]

Die Abkoppelung des Rechts auf Einkommen von dem Recht auf Arbeit wurde allerdings in verschleierter Form praktiziert, so daß es sich mitnichten als ein linkes, d.h. fortschrittliches Moment präsentierte. Denn das Eingeständnis, daß es keine Vollzeitbeschäftigung für alle mehr geben kann, wurde von den Herrschenden, leider auch von den Gewerkschaften tunlichst vermieden. Massenarbeitslosigkeit ist aber kein vorrübergehendes, konjunkturelles Phänomen oder ein individuelles Problem, so daß es gerechtfertigt wäre Arbeitslosen- oder Sozialhilfe als Almosen, jedenfalls nicht als ein Recht zu begreifen: als Entschädigung dafür, gesellschaftlich an den Rand gedrängt, d.h. marginalisiert zu sein. "Arbeitslosigkeit und Arbeitslose werden behandelt, als ob die ständige Vollzeitbeschäftigung die Regel und die Norm wäre und bleiben müsse: man ist entweder vollbeschäftigt oder Arbeitsloser, der als Gegenleistung für seine Unterstützung auf jede, auch unbezahlte Tätigkeit verzichten muß. Die Alternative Vollzeitarbeit oder vollständige Arbeitslosigkeit leugnet implizit die faktische Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und verteilt diese Verringerung auf die unegalitärste Weise: sie bestraft und marginalisiert diejenigen, die dem Leistungsdruck enthoben sind (die Arbeitslosen), um die Norm der Vollzeitbeschäftigung und damit die Natur der sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bewahren."[3]

Die Norm der Vollzeitbeschäftigung dient dem Zwecke der Aufrechterhaltung der "auf der Leistungsethik beruhenden Herrschaftsbeziehungen", schreibt Gorz. Es werde eine Zweiteilung der erwerbstätigen Bevölkerung geschaffen: Auf der einen Seite steht eine Elite von vollbeschäftigten und geschützten Arbeitern und Angestellten, die die herkömmliche Arbeitsgesellschaft repräsentieren, an ihrer Arbeit hängen und das traditionelle Klientel der Gewerkschaften ausmachen. Auf der anderen Seite strauchelt ein Heer von Arbeitslosen und ungelernten oder nicht-qualifizierten Hilfskräften - ohne Status und nicht geschützt, die zu wechselnden und immer häufiger zu unwürdigen Arbeiten auch unter Zwang herangezogen werden. Marx nannte diese Zweiteilung noch Proletariat und Lumpenproletariat. Während er dieses nur mit halbverächtlichen Attributen belegte, erhoffte er sich von jenem das nötige Klassenbewußtsein, damit es zur Arbeiterrevolution komme.

André Gorz sprach bereits in seinem Buch Abschied vom Proletariat von einer neuen Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter, die zunehmend der Klasse der Arbeiter gegenüberstehe und dieses als revolutionäres Subjekt ablösen könnte. Der Klasse der regelmäßig Arbeitenden komme jedenfalls zunehmend "die konservative Rolle der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung" zu. Gorz nannte das Arbeiterkonservativismus. "Dagegen ist die Masse der ›gegen die Arbeit Gleichgültigen‹ das mögliche gesellschaftliche Subjekt des Kampfes um die Aufteilung der Arbeit, die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, die tendenzielle Abschaffung der Lohnabhängigkeit durch Ausweitung der Eigenproduktion sowie ein allen garantiertes Lebenseinkommen."[4]

Die Gewerkschaften haben traditionell das Recht auf Arbeit verteidigt. Ihr Kampf war auf die maßvolle Verringerung der Arbeitszeit und auf stetige Lohnerhöhungen ausgerichtet; beides glaubten sie ausloten zu müssen, um nicht durch darauffolgende Massenentlassungen ihre Basis zu verlieren. Für Arbeitslose haben sich die Gewerkschaften per definitionem nie interessiert. - Angesichts strukturell bedingter Massenarbeitslosigkeit kehrt sich das Verhältnis zu den Gewerkschaften nunmehr um: ihnen droht das Schicksal reaktionären Daseins, wenn sie nicht ihre Zwecke und Ziele ausweiten, d.h. sich der drop outs zuwenden. Für Arbeitszeitverkürzung darf nicht maßvoll, sondern muß maßlos, d.h. radikal gekämpft werden - das können sie jedoch nur mit Unterstützung der Arbeitslosen.[5]

Mit radikaler Arbeitszeitverkürzung allein wäre das Problem der Massenarbeitslosigkeit allerdings noch nicht umfassend gelöst, da die Produktion des Notwendigen ein so geringes Quantum an individueller Arbeit erforderlich macht, daß niemand davon leben könnte, wenn er oder sie allein für die tatsächliche Arbeitszeit bezahlt werden würde. Darum muß der Lohn von der Arbeit abgekoppelt werden und sich nach den beiden Kriterien der Bedürftigkeit und eines würdevollen Lebens richten. Die linke Konzeption eines vom Arbeitsplatz unabhängigen Sozialeinkommens, wie es u.a. Gorz entworfen hat, macht aus der Fürsorge kein Almosen, sondern sie ist das jedem zukommende Recht, "auf sein ganzes Leben verteilt das Produkt des nicht weiter reduzierbaren Quantums an gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu erhalten, die er im Laufe seines Lebens zu erbringen hat."[6]

Das notwendige Maß an zu verrichtender Arbeitszeit errechnete Gorz 1983 auf 20.000 Stunden, die jedem auf einem Zeitkonto angerechnet werden könnten und die jeder im Laufe seines Lebens abarbeiten müßte, so daß jeder selbst entscheidet, auf welche Weise, d.h. wo, wann, in welchem Rhythmus und wie er arbeitet. Als Gegenleistung gibt es ein auf Lebenszeit garantiertes Minimaleinkommen. Eine negative Einkommensteuer könnte zusätzlich das staatliche Fürsorge- und Steuersystem radikal vereinfachen: "oberhalb einer bestimmten Einkommensgrenze zahlt man dem Fiskus Steuern, unterhalb dieser Grenze wird man vom Fiskus bezahlt."[7]

Die Herrschenden sind für so viel Vernunft nicht empfänglich, da sie Klasseninteressen goutieren. Auch fehlt ihnen der Mut für ein radikales Umdenken, solange die neuen Ideen nicht mehrheitsfähig sind. Aber nicht nur über Krieg und Frieden im Ausland kann auf europäischen Straßen entschieden werden.

Anmerkungen:

[1] Karl Marx: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Rohentwurf (1857-1858), Berlin 1953, S. 593.

[2] André Gorz: Wege ins Paradies. Thesen zur Krise, Automation und Zukunft der Arbeit, Berlin 1983, S. 56f.

[3] Ebd., S. 57.

[4] Ebd., S. 58.

[5] "In dem Maße, wie die Gewerkschaft sich mit der Elite der ständig beschäftigten und geschützten Arbeiter identifiziert, um die Aufteilung der Arbeit, die Selbstverwaltung und die Lockerung der Arbeitszeitordnung sowie die Verlagerung des Schwerpunktes des Lebens auf selbstbestimmte und nicht lohnabhängige Tätigkeiten abzulehnen, wird sie zu einer konservativen und gegebenenfalls reaktionären Kraft. Sie kann dieses Abgleiten nur dann vermeiden, wenn es ihr gelingt , den Kampf der ›gegen die Arbeit Gleichgültigen‹ (die ich in Abschied vom Proletariat die ›Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter‹ genannt habe) zu organisieren oder mindestens zu unterstützen, was voraussetzt, daß er nicht nur in den Unternehmen verankert ist und der Organisation nach Industriezweig oder Berufsgruppe nicht den Vorrang gibt vor der territorialen Organisation." - Ebd., S. 58, Fn. 10.

[6] Ebd., S. 68.

[7] Ebd., S. 67.

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sopos 8/2004