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Die Gewaltunternehmer

Neoliberale Globalisierung schafft private Kriegsökonomien

von Peter Lock

Kindersoldaten gibt es nicht nur in den zerfallenden Staaten Schwarzafrikas...

Bei Berichten und Bildern über Kindersoldaten und deren offensichtlicher Bestialität vermuten wir spontan einen Zustand vollständiger Ordnungslosigkeit. Die Gewalt erscheint willkürlich und sinnlos. Eine Sozialisation, die Gewalthemmung vermittelt, scheint in den jeweiligen Gesellschaften nicht mehr zu existieren. Aber ebenso wie die weltweit wachsende soziale Ungleichheit oft aus dem Kontext systemischer Verursachung herausgelöst und als Armut isoliert wird, werden auch die strukturellen Ursachen der Instrumentalisierung von Kindern als Soldaten übersehen.

Kindersoldaten gibt es nicht nur in den zerfallenden Staaten Schwarzafrikas. Auch in unmittelbarer Nachbarschaft der Wohlstandsinseln in den Megastädten des Südens werden Minderjährige als Gewaltakteure rekrutiert. In einer Situation allgemeiner Perspektivlosigkeit erlangen sie eine gesellschaftliche Rolle und einen Zipfel Wohlstand, indem sie sich als Gewaltproduzenten verdingen. Gut belegt ist dies am Beispiel der bewaffneten Konflikte um die territoriale Kontrolle der Drogenmärkte in Rio de Janeiro. Dort rekrutieren die kriminellen Netzwerke Kinder als mordbereite Grenzschutztruppen.[1] Die Zahl der Opfer ist so hoch wie bei manchen Kriegen in Westafrika.

Investition in Kindersoldaten

Begrifflich sind Kindersoldaten dem Krieg zugeordnet. Diese Spezies mißbrauchter Gewaltakteure ist jedoch weiter verbreitet als die gesellschaftlichen Zustände, denen das Völkerrecht und die internationale Öffentlichkeit das Attribut "Krieg" zuschreibt. Vor der Verwandlung eines Jungen zum willfährigen Gewaltakteur steht eine lange Kette wirtschaftlicher Transaktionen und unternehmerischer Entscheidungen. Die Ausstattung - ein automatisches Gewehr, Munition und nicht selten Drogen - erfordert mindestens ein durchschnittliches Jahreseinkommen in ihren Heimatländern. Daher muß es immer einen Unternehmer geben, der sich von der Bereitstellung des tödlichen Arbeitsgeräts und dem Einsatz dieser Gewaltakteure einen höheren Gewinn verspricht als von alternativen Anlagemöglichkeiten seines Kapitals. Diese "Investition" setzt zudem ein vorangegangenes devisenbringendes Geschäft voraus, denn auf den legalen und illegalen Waffenmärkten dieser Welt sind US-Dollars das obligatorische Tauschmedium.

Voraussetzung für einen andauernden innergesellschaftlichen bewaffneten Konflikt ist eine wirtschaftliche Einbindung in Weltmarktprozesse der Konfliktparteien. Denn anders als zur Zeit des Kalten Krieges, als kriegführende Parteien in der Regel auf Patronage vom Ostblock oder von NATO-Staaten rechnen konnten, müssen sie sich heute weitgehend eigenständig reproduzieren.[2] Will man wirksame Strategien der Eindämmung von Gewalt entwickeln, muß die ökonomische Zirkulation im Umfeld bewaffneter Konflikte beleuchtet werden, um mögliche Hebel der Einhegung des Kriegsgeschehens zu identifizieren. Legale und vor allem illegale Tauschprozesse mit weltwirtschaftlicher Dimension bilden den Kern der jeweiligen Kriegsökonomien. Daher waren Embargobeschlüsse der Vereinten Nationen als Sanktion gegen Krieg nur folgerichtig. Sie sind der Versuch, Kriegen durch Entzug ihrer wirtschaftlichen Grundlage Einhalt zu bieten. Die Ergebnisse derartiger Maßnahmen sind jedoch bescheiden und haben sich häufig als kontraproduktiv erwiesen. Dies liegt vor allem an den Ausweichmöglichkeiten, die sich den Gewaltunternehmern in Form von schattenökonomischen Netzwerken bieten. Diese schleusen über Umwege die zu tauschenden Produkte in die reguläre Zirkulation auf den Weltmärkten.

Das Bruttokriminalprodukt

Längst wird nicht mehr bestritten, daß der neoliberale Globalismus die soziale Polarisierung sowohl innerhalb der als auch zwischen den Staaten verschärft. Das schlägt sich nieder im Ausschluß von mindestens der Hälfte der Weltbevölkerung aus der regulären Ökonomie, also jener Sphäre, in der der Tausch im rechtsstaatlichen Rahmen erfolgt und der Staat das Monopol legitimer Gewalt innehat. Beschäftigungspolitisch sind die angekündigten (und oft ausbleibenden) hohen Wachstumsraten, die als Folge neoliberaler Strukturprogramme und Marktöffnung oft vergeblich erwartet werden, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Den globalen Trend sich ständig verschärfender sozialer Ungleichheit können sie nicht umkehren. Versuche, eine nachholende Entwicklung mittels geschützter nationaler Märkte, wie sie die asiatischen "Tigerstaaten" durchlaufen haben, zu wiederholen, stoßen heute auf hartnäckigen Widerstand des IWF und der internationalen Finanzmärkte. Der weltweit erzwungene Modernisierungsschub entwertet traditionale ländliche Strukturen und führt zu Konzentration und sozialer Segmentierung der Gesellschaften in Megastädten.

So wird die gesellschaftliche Wirklichkeit in sehr vielen Ländern vom massenhaften Ausschluß der nachwachsenden Generationen von der regulären Ökonomie geprägt bleiben. Sie müssen ihr Überleben im Dickicht der Städte organisieren, in den Armutsgürteln der Ballungsräume jenseits staatlicher Ordnungsstrukturen, in denen Gewaltunternehmer das Sagen haben. Kleinräumige private Gewaltmonopole führen zu rechtsfreien Räumen, ermöglichen Schutzgelderpressung und erzwingen eine Binnenloyalität zur Ausgrenzung staatlicher Organe. Dieser Zerfall geregelter gesellschaftlicher Strukturen und der damit verbundene Ausschluß von öffentlichen Gütern trifft Kinder und Jugendliche in besonderem Maße. Diese zunehmende intergenerationale Ungleichheit erweist sich als ein verdrängtes, gleichwohl aber systemisches Merkmal des neoliberalen Globalismus. Massen junger Menschen haben keine politische Repräsentation, öffentlich wahrgenommen werden sie meist nur als Kriminalitätsrisiko. Die immer geringer werdenden sozialen Mobilitätschancen führen bei den Jugendlichen zu wachsender Bitterkeit und einer beängstigenden Offenheit für individuelle Lebensentwürfe, die sich auf Gewaltanwendung als ein zentrales Moment gründen.

... Auch in unmittelbarer Nachbarschaft der Wohlstandsinseln in den Megastädten des Südens werden Minderjährige als Gewaltakteure rekrutiert.

Für das Überleben in diesen informellen Strukturen ist Sicherheit ein zentrales Problem. Die konkurrierenden, manchmal symbiotischen Instrumente, mit denen Sicherheit geschaffen wird, sind Vertrauen und Gewalt. Ihr jeweiliges Mischungsverhältnis bestimmt die konkreten netzwerkartigen Vergesellschaftungsformen, innerhalb derer das Überleben organisiert wird. Mitglieder solcher Netzwerke können einander vertrauen, zugleich grenzen sie sich aber strikt nach außen ab. Informelle und kriminelle Netzwerke organisieren sich unabhängig von staatlicher Territorialität und expandieren in transnationale Räume, weil schattenwirtschaftliche Transaktionen über Grenzen hinweg sich zusätzlich rentieren. Es überrascht daher nicht, daß mindestens die Hälfte des innerafrikanischen Handels außerhalb der formellen Ökonomie abgewickelt wird. Die Sphären schattenwirtschaftlicher Aktivitäten bilden mittlerweile wahrscheinlich die Lebenswelt der Hälfte der Weltbevölkerung. Und das auf kriminellen Aktivitäten beruhende "Bruttokriminalprodukt" wird inzwischen auf 1.500 Milliarden US-Dollar geschätzt; es übersteigt das Bruttosozialprodukt des gesamten afrikanischen Kontinentes um ein Vielfaches. Vielleicht die Hälfte davon wird im Drogensektor erwirtschaftet.

Netzwerke der Schattenglobalisierung

Der unterschiedliche sozio-ökonomische Status von Staaten wird durch das jeweilige Mischungsverhältnis regulärer, informeller und krimineller Sphären bestimmt. Das Zusammenwirken dieser drei Sphären ist durch asymmetrische Tauschbeziehungen gekennzeichnet, zugleich bestimmt das Mischungsverhältnis die soziale Topographie und die Organisation von individueller und kollektiver Sicherheit der jeweiligen Gesellschaften. Darüber hinaus sind diese drei Sektoren der nationalen Volkswirtschaften in jeweils eigenständige globale Zirkulationssphären integriert. Dabei sind die informelle und kriminelle Ökonomie der logische Schatten der gegenwärtig die Globalisierung prägenden neoliberalen Regulationsdoktrin der formellen Ökonomie. Angesichts der dynamischen Transnationalität informeller und krimineller Netzwerke, allen voran der Drogenökonomie, werden diese Lebenswelten mit dem Begriff Schattenglobalisierung angemessen beschrieben.

In der Kriegsursachenforschung ist es inzwischen ein gesicherter Befund, daß die Einbindung der jeweiligen Kriegsökonomien in schattenwirtschaftliche Handelsströme eine notwendige Voraussetzung für längere bewaffnete Konflikte ist. Der Charakter der kriegerischen Gewalt wird dabei auch von der Tatsache bestimmt, daß die Kriegsparteien gleichzeitig unternehmerischen Kalkülen unterworfen sind. Sie können bei lange andauernden Kriegen so dominant werden, daß Kriege geradezu zu einer eigenständigen Produktionsweise mutieren. Daher werden die Erscheinungsformen gegenwärtiger Kriege zunehmend diffuser, Beginn und Ende markieren im Hinblick auf das Gewaltgeschehen und Tauschprozesse häufig keine wirklichen Zäsuren.

Kriminelle Netzwerke an der Schnittstelle zwischen formeller und informeller Ökonomie begehen inzwischen Gewalthandlungen in einem Umfang, der den mancher Kriege übertrifft. Nigeria, Brasilien oder Südafrika müßten angesichts der dort herrschenden Gewaltverhältnisse längst in den Auflistungen bewaffneter Konflikte auftauchen. Zudem ist es den gewalt- und schattenunternehmerischen Fähigkeiten heutiger Kriegsparteien geschuldet, daß humanitäre Hilfe immer häufiger in eine Kriegsressource transformiert wird. Humanitäre Organisationen müssen daher beinahe regelmäßig als Zugangsvoraussetzung ihren Neutralitätsprinzipien abschwören und eine der Kriegsparteien zumindest indirekt materiell unterstützen.

Daher stellt sich die Frage, ob die Dichotomie Krieg versus Nicht-Krieg überhaupt noch geeignet ist, jene Gewalt angemessen zu analysieren, die sich in der Sphäre der Schattenglobalisierung aus der Logik krimineller Netzwerke transnational entfaltet, unabhängig davon, ob der Handlungsort die Signatur Krieg trägt oder nicht. Mithin dürfte es realitätstüchtiger sein, bei der Untersuchung gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse im Zeitalter von Globalisierung und Schattenglobalisierung mit der Kategorie "regulative Gewalt" zu arbeiten, um so besser die Gewaltlogiken entschlüsseln können, die für das dynamische Fungieren der Schattenglobalisierung unabhängig von der Kategorie Krieg konstitutiv sind. Unter regulativer Gewalt wird hierbei die Androhung und der Einsatz von physischer Gewalt zur Durchsetzung von ungleichen Tauschverhältnissen und Aneignung verstanden. Der an deutschen Postschaltern angebrachte zehnsprachige Hinweis für gewaltbereite Bankräuber aus "einschlägigen Ländern", daß das Personal keinen Einfluß auf die elektronische Sicherung des Tresors habe, symbolisiert mitten in unserem Alltag die Durchdringung von regulärer und krimineller Ökonomie, von Globalisierung und Schattenglobalisierung.

Private Gewaltmonopole

Die Privatisierung von Sicherheit ist ein Spiegelbild des Zustandes von Staatlichkeit. Das öffentliche Gut Sicherheit wird weltweit immer mehr zur Ware, über deren Erwerb die individuelle Kaufkraft entscheidet. Armut bedeutet meist auch Unsicherheit. Wenn es zu einer umfassenden Aneignung des Staatsapparates durch eine einzelne Gruppe kommt, bedeutet dies meist eine faktische Privatisierung von Sicherheit. Trotz der Fassade von Staatlichkeit entsteht ein Zustand allgemeiner Unsicherheit, der bewirkt, daß sich auch die auf Vertrauen gegründeten zivilgesellschaftlichen Regelsysteme auflösen. An ihre Stelle treten Gruppen, die ihre Identität über den Ausschluß anderer definieren und Gewaltakteure, die ein tributpflichtiges territoriales Gewaltmonopol etablieren.

Der herrschenden neoliberalen Regulierungsdoktrin, als Washingtoner Konsens von den großen Industrienationen Anfang der neunziger Jahre abgesegnet, sind letztlich die legale und illegale Privatisierung der Sicherheit, die Minderung der Reichweite staatlicher Ordnungsfunktionen und die expandierende Informalisierung und Kriminalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten geschuldet. Dem gepriesenen schlanken Staat fehlt das Steueraufkommen, um die zur Entwicklung benötigten, öffentlichen Güter wie Sicherheit und Erziehung bereitzustellen. Die Folge ist eine dramatische Expansion gewaltoffener Räume in allen Gesellschaften, in denen beim geringsten Anzeichen von Wohlstand und Prosperität unter Androhung von Gewalt abkassiert wird. Jede Entwicklung wird auf diese Weise blockiert. Daher dürften all jene Ideologien zum Scheitern verurteilt sein, die auf alternative emanzipatorische Vergesellschaftungsformen setzen, deren Entstehung im informellen Sektor erwartet wird.

Eine weitere Folge gewaltökonomischer Regulierung ist regelmäßig die massive illegale Migration, auch ohne den Kontext des Krieges. In der Emigration, die meist illegale Immigration bedeutet, grenzen das staatliche Gewaltmonopol und die rechtsstaatlichen Instanzen des Gastlandes die Lebenssphären illegaler Migranten weitgehend aus. Dies macht diese Minderheiten sehr anfällig für eine Usurpation durch transnationale kriminelle Netzwerke. Gleichzeitig gilt, daß diese Netzwerke sich so organisieren müssen, daß sie die Existenz der regulären Märkte nicht gefährden. Denn nur wenn das Einschleusen in letztere gelingt, können sie die Erträge ihres kriminellen Tuns realisieren. Dies macht die Symbiose der beiden Globalisierungsprozesse aus. Insgesamt zeichnet sich eine Entterritorialisierung der vorherrschenden Gewaltlogiken ab, was zur Transformation von innergesellschaftlichen Kriegen in diffusere, aber nicht weniger brutale Gewaltformen führen dürfte.


Anmerkungen:

[1] Luke Dowdney: Child combatants in organised armed violence, Rio de Janeiro (ISER/ Viva Rio) 2002, verfügbar unter www.desarme.org.

[2] Jean/Rufin (Hg.): Ökonomie der Bürgerkriege, Hamburg (Hamburger Edition) 1999, (frz. Original 1996).


Peter Lock ist Konfliktforscher in Hamburg.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 270 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3f241747b9a80/1.phtml

sopos 7/2003