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Techno ist das Extasy der Jugend

Thesen zur Loveparade

von Marcus Hawel (sopos)

Wahre Liebe hat etwas Kommunikatives zugleich und Stilles. Aber Techno ist weder still noch kommunikativ.

Techno ist eine entpolitisierte, aber eine Jugendbewegung: Jugendliche bewegen nichts gesellschaftspolitisch, aber sie bewegen sich nach Musik. Kann man angesichts dessen überhaupt von einer Jugendbewegung sprechen? Was ist dieses Phänomen: Techno?

Vier Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, am 1. Juli 1989, fand auf Initiative einiger Berliner Szene-DJs aus dem Umfeld des legendären Dr. Motte auf dem Kurfürstendamm (Berlin-West) eine sogenannte "House-Musik-Demonstration für Toleranz, Respekt und Verständigung zwischen den Nationen" statt. Auf große Reden und Pamphlete wollte man bewußt verzichten - statt dessen setzte man auf Musik, denn Musik kenne keine Nationalitäten, keine Grenzen und könne von jedem verstanden werden.

Rückblickend habe es sich hierbei um die erste Loveparade gehandelt, die noch im halb privaten Kreis stattfand und die Teilnehmerzahl von ca. 150 Freunden nicht überschritt. Aber schon bald geriet die Loveparade, jedes Jahr im Sommer veranstaltet, zu einem offenen Forum für die internationale elektronische Musik-Szene. Die Teilnehmerzahlen überschritten 1997 erstmals die Einmillionenmarke; damit war die Loveparade längst zu einem Mega-Event geworden. 1999 erreichte die Loveparade mit 1,5 Millionen Ravern ihren Höhepunkt. 2002 waren es schließlich nur noch 750.000, und in diesem Jahr waren es nur noch ein Drittel der Raver, die 1999 nach Berlin gekommen waren, um an der Loveparade teilzunehmen.

Sinkende Teilnehmerzahlen dieser Größenordnung sind aber noch lange kein Indiz dafür, daß sich das Phänomen Techno und Loveparade bald erledigt habe. Im Gegenteil: Seit 2000 finden auch in anderen Ländern - etwa in Österreich, England, Israel und Süd-Afrika - Loveparaden statt.

Das Wort Musik ist von dem lateinischen ars musica bzw. von dem altgriechischen mousike téchne entlehnt und bedeutet: Tonkunst oder auch feine Bildung. Auch die Muse steckt in der Musik. Mousa war eine der neun antik-griechischen Schutzgöttinnen der Künste: sie begeistert künstlerisch, sie beflügelt und inspiriert. Das Wort Ton stammt von dem lateinischen tonus bzw. dem griechischen teinein ab und heißt so viel wie: spannen, anspannen oder dehnen der Saiten, im moderneren Sinne: Klang, Laut, Hall oder Akzent.

Unbestreitbar handelt es sich beim Techno um Töne im modernen Sinne; auch wenn es keine Saiten mehr sind, die gespannt werden und Schwingungen erzeugen (die wir als Töne wahrnehmen), sondern um computerisierte Geräusche, die in unserer Wahrnehmung nach dem blanken Schema betont-unbetont funktionieren, so daß wir einen Rhythmus hören und es sich mithin um Töne handeln muß.

Auf den Technoparties dröhnt der Ware-Geld-Rhythmus: und im Schweigen reden sie über das Nichts, das sie sich zu sagen haben.

Im Techno ist das Ende des Rhythmus' in zweierlei Hinsicht angelegt: Erstens folgt ein computerisierter Klang formalen Prinzipien der Mathematik. Im Techno kommt die Mathematik wieder zu sich selbst. Zweitens ist in der immer schneller werdenden Abfolge der Töne das Ende des Rhythmus' dort angelegt, wo ein gleichbleibender Ton nichts mehr als Tönen vernehmen läßt: nichts als Rauschen.

Wo mathematisch der Rhythmus durch simples formales betont-unbetont (binäres System: 0/1) errechenbar ist, nimmt Inspiration keinen Raum mehr ein. Techno ist keine Kunst. Techno begeistert nicht. Techno setzt keine Akzente.

Musik und allgemein Kunst hatte einmal den Raum der Muße eingenommen. Hat Techno etwas mit Muße zu tun? Die gestalterische, schöpferische Kraft des Menschen, die Marx in den Grundrissen als lebendiges und gestaltendes Feuer beschreibt und im materialistischen Sinne als lebendige Arbeit bezeichnet,[1] erleidet in der kapitalistischen Produktionsweise den Verlust ihrer schöpferischen Freude. Entwicklung, Entfaltung und Ausbeutung der Produktivkraft lebendiger Arbeit funktioniert qua Zurichtung jener dionysischen Potentiale des Menschen.[2] Euphemistisch wird es Disziplinierung genannt. Dahinter steht aber ein Gewaltverhältnis, vermöge dessen die Menschen ihre Phantasie verlieren: die wilden Energien der lebendigen Arbeit werden gebändigt, das zugerichtete Arbeitsvermögen, jetzt verwertbar, d.h. ausbeutbar, wird in den Arbeitsprozeß eingespannt.[3]

Solch durch den Arbeitsprozeß zugerichtetes Vermögen kann tendenziell nur außerstande sein, Kunst zu produzieren bzw. zu konsumieren. Daher nimmt Kunst auch nur den allergeringsten Raum in unserer vom Kapitalismus bzw. Spätkapitalismus geprägten Zeit ein. Dasselbe gilt auch für die Muße. Wir haben längst einen passenderen Begriff für das gefunden, was einst den Raum der Muße eingenommen hat: Freizeit. Freizeit soll freie Zeit sein, in der die Menschen die Möglichkeit haben, ihre Arbeitskraft zu reproduzieren. "Auf der einen Seite soll man bei der Arbeit konzentriert sein", schreibt Adorno in seinem Aufsatz zur Freizeit, "nicht sich zerstreuen, keine Allotria treiben; darauf beruhte einst die Lohnarbeit, und ihre Gebote haben sich verinnerlicht. Andererseits soll die Freizeit, vermutlich damit man danach um so besser arbeiten kann, in nichts an die Arbeit erinnern. Das ist der Grund des Schwachsinns vieler Freizeitbeschäftigungen."[4] Organisierte Freizeit erhält den Charakter des Zwanghaften und verhält sich zur Arbeit als bloßes Anhängsel.

Es ist nicht weiter verwunderlich, daß die durch den Produktionsprozeß disziplinierten Menschen in ihrer freien Zeit nichts anderes zu tun imstande sind, als den Arbeitsrhythmus fortzusetzen. "Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus", schreiben Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung, "Es wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement."[5] - Im Techno ist dieser Mechanismus auf die Spitze getrieben: unterscheidet Techno-Rhythmus sich noch von dem Rhythmus der Maschinen, zu deren Anhängsel die Menschen schon lange Zeit vorher wurden?

Es geht um Leistung und Leistungssteigerung. Extasy, die Droge des Techno, steigert die Leistung der bis zur völligen Erschöpfung sich in Bewegung befindlichen arbeitenden Körper. Von solcher Hyperaktivität hätte jeder Frühkapitalist nicht zu träumen gewagt; die Kapitalverwalter heutiger Zeit, träumen diesen Wahnsinn nicht nur, sondern sie vermarkten ihn auch. Techno ist das Resultat totaler Verdinglichung und Entfremdung.

Wenn Techno nichtig wäre, ließe es sich ganz leicht ignorieren. Aber zu der love parade in Berlin kamen auf ihrem Höhepunkt 1,5 Millionen Jugendliche zusammen und tanzten nach den Klängen des Techno durch die Straßen. Es kann sich beim Techno also nicht um Nichts handeln. Techno ergreift die Massen.

Techno wird als Kommunikation verkauft. Es wird behauptet, es ginge um Liebe, Frieden und Glücksempfinden, zu der die Menschen zurückfänden. Darin ist Techno hochgradig ideologisch: was als kommunikativ verkauft wird, ist warenförmig und bis in den Kern hinein antikommunikativ. Tanzende, lebendige Schaufensterpuppen, die ihren Körper und die neuste Jugend-Mode zur Schau stellen. Die Modeindustrie ist dankbar. Das falsche Bewußtsein spricht allenthalben von freier Liebe, von Gleichheit und Frieden. - Aber die Straße ist der Laufsteg, die Liebe ist auf das Körperliche reduziert, der Körper bloßes Objekt; die Menschen sind nicht gleich, sondern konformistisch, - gleichgeschaltet.

Wahre Liebe hat etwas Kommunikatives zugleich und Stilles. Aber Techno ist weder still noch kommunikativ. Auf den Technoparties dröhnt der Ware-Geld-Rhythmus: und im Schweigen reden sie über das Nichts, das sie sich zu sagen haben.

Mehr Liebe ist nicht das Mittel für eine freiere Gesellschaft, sondern ihr Zweck. Nur wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse es zulassen, daß wir als Menschen sein können, vermag wahre Liebe sich einzufinden. Solch telos läßt sich nicht vorwegnehmen, ohne daß es affirmativen Charakter gegenüber dem Bestehenden erhielte. Marx schreibt, daß die materielle Gewalt nur durch materielle Gewalt zu stürzen sei.[6] Wenn es bei ihm heißt, "man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!"[7], so war keineswegs damit gemeint, man müsse selbst so tanzen, sich mimetisch zu diesen steinernen Verhältnissen verhalten. Darin aber kommt die ganze Perversion der Techno-Bewegung zum Ausdruck.

Die Hoffnung, eines Tages werde die Techno-Bewegung sich politisieren, und dann stünden das nächste Mal eine Million Jugendliche auf der Straße und betrieben bestimmte Negation des Bestehenden in der Praxis, ist illusionär und zudem: contradictio in adjecto: die Massen sind, durch Techno vermittelt, als Abbild des Bestehenden überhaupt erst zu Massen geworden. Diese zu politisieren hätte die Negation des Techno zur Voraussetzung; dann ginge aber das konstituens und movens dieser Massen verloren, und sie hörten auf Massen zu sein.

Die Techno-Jugendbewegung kann nicht kritisch sein; ihrem Wesen nach ist sie affirmativ und apologetisch gegenüber dem Bestehenden.

Trotzdem läßt sich behaupten, daß Techno nicht nur als Tranquilizer, sondern auch als unbewußte Protestation funktioniert. Techno ist das Extasy der Jugend. In diesem Sinne ist es Religionsersatz oder Alltagsreligion. "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends", schreibt Marx, "und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist."[8] - Geistlose Zustände: das Subjekt seiner Subjektivität beraubt, das Denkvermögen warenförmig zugerichtet.

Bereits Horkheimer/Adorno haben in der Dialektik der Aufklärung von der Kulturindustrie als von einem Zirkel gesprochen, in dem Manipulation und rückwirkendes Bedürfnis miteinander korellieren. - "Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft."[9]

Techno, wie Kulturindustrie allgemein, gewährt keine Sublimierung, sondern unterdrückt. "Indem [Kulturindustrie; M.H.] das Begehrte immer wieder exponiert, den Busen im Sweater und den nackten Oberkörper des sportlichen Helden [oder den Busen im top und den nackten Oberkörper der tanzenden Techno-Fans; M.H.], stachelt sie bloß die unsublimierte Vorlust auf, die durch die Gewohnheit der Versagung längst zur masochistischen verstümmelt ist. Keine erotische Situation, die nicht mit Anspielung und Aufreizung den bestimmten Hinweis vereinigte, daß es nie und nimmer so weit kommen darf. [...] Kunstwerke sind asketisch und schamlos, Kulturindustrie ist pornographisch und prüde."[10]

Techno ist die Repression einer repressiven Gesellschaft, - sicher nicht die Vorbotschaft einer wiederkehrenden Barbarei, aber ein Abziehbild des Kapitalismus - und dieser trägt barbarische Züge.


Überarbeitete Fassung des Essays "Das Ende der Musik - Thesen zum Techno", in: position - Zeitschrift am Fachbereich Sozialwissenschaften, Nr. 3, Jg. 1997, Hannover, S. 20-21.


Anmerkungen:

[1] Vgl. MEW 42, S. 278.

[2] Dionysos gilt hier als schöpferische und nicht als bloße triebhafte Kraft. Das gewalthafte, zerstörerische Potential des Triebhaften hat mit dem Dionysischen wenig zu tun.

[3] Vgl. Antonio Negri und Michael Hardt: Die Arbeit des Dionysos. Materialistische Staatskritik in der Postmoderne. Berlin, Amsterdam: ID-Archiv 1997, S. 5.

[4] Th. W. Adorno: Freizeit. In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 59.

[5] Max Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Fischer 1969, S. 145.

[6] MEW 1, S. 385.

[7] MEW 1, S. 381.

[8] MEW 1, S. 378.

[9] Horkheimer/Adorno, a.a.O., S. 129.

[10] Horkheimer/Adorno, a.a.O., S. 148.

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sopos 7/2003