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[Rassismus]

Der Kampfbegriff

Vom Elend des Multikulturalismus und der Kritik an ihm

von Serhat Karakayali[1]

Wie kann eine Politik gemacht werden, die das Recht auf Differenz verkündet, diese aber auch überwinden will bzw. in der Differenzen nicht zum Ausschluß führen?

Der mittlerweile verbreitete Gebrauch des Begriffs Rassismus spielt eine ambivalente Rolle. Einerseits kann es als Erfolg betrachtet werden, daß heute in Deutschland überhaupt von Rassismus gesprochen wird. Erst in den 90er Jahren gelang es, diesen in der Linken als politischen Begriff zur Beschreibung hiesiger Verhältnisse einzuführen. Bis Anfang der 80er Jahre wurde Rassismus allenfalls im Kontext des Apartheidregimes in Südafrika verwendet oder zur Beschreibung der »Rassenunruhen« in den USA. Rassistische Praktiken und Ideologien in der BRD hingegen wurden in der Regel mit dem Begriff Ausländerfeindlichkeit bezeichnet. Während Ausländerfeindlichkeit mehr mit einer diffusen und irrationalen Einstellung der Subjekte zu tun zu haben schien, versprach »Rassismus« immerhin andeutungsweise die systematische Auseinandersetzung mit diskriminierenden, rassifizierenden Praktiken als Teil staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Gleichzeitig war der Ausdruck Rassismus in der Nachkriegszeit zumindest in Europa stark mit der völkisch- rassistischen Politik des Nationalsozialismus verknüpft, so daß das ganze politische Gewicht, das mit dessen Ächtung durch die westlichen Liberaldemokratien einher ging, auch im Begriff des Rassismus mitschwang. Vor diesem Hintergrund war der Vorwurf des Rassismus eine nicht zu unterschätzende politische Waffe.

Gleichzeitig ist aber die universalisierende Verwendung des Rassismusbegriffs Teil des Problems antirassistischer Theorie und Praxis. Anstatt den Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis zu analysieren, wird nach diskursiven Einzelaussagen gesucht, die es ermöglichen, bestimmte Diskurse »dem Rassismus« zuzuordnen. So wurde der Multikulturalismus zuweilen mit der segregationistischen Apartheidspolitik Südafrikas verglichen, weil beide mit kulturalisierenden Zuschreibungen arbeiten. Die Elemente der identitären Konstruktion haben zwar in beiden Fällen je unterschiedliche Bedeutung, werden aber aus dem jeweiligen Kontext entfernt und auf den anderen übertragen. So geraten die konkreten Verhältnisse aus dem Blick und damit auch die Widerstandspraktiken der Unterworfenen, die stets Teil des rassistischen Dispositivs sind und ohne die es den permanenten Prozess der Transformation des Rassismus nicht gäbe.

Im Multikulturalismus »den Rassismus« aufzuspüren und ihn so als in einer linearen Kontinuität mit anderen Formen rassistischer Praktiken stehend zu bestimmen, führt zu einer letztlich metaphysischen Theorie des Rassismus. Rassismus wird so zu einem unveränderlichen »Wesen«, das sich in unterschiedliche Formen verwandelt, sich in ihnen manifestiert, aber immer das Gleiche bleibt. Es sollte jedoch eher darum gehen, unter Rassismus eine Bezeichnung zu verstehen, die man jedem Herrschaftsverhältnis gibt, in dem die Rassekonstruktion einen zentralen Bestandteil bildet. Das Gemeinsame aller historischen Rassismen ist die zugrundegelegte imaginäre Rassekonstruktion, Identifikation des Selbst und Spaltung von den »Anderen«. Diese ideologische Unterscheidung geht dem Rassismus jedoch nur »logisch« voraus, ist also nicht der gleichbleibende Kern als Ursache des Rassismus im Sinne einer Wesen- Erscheinung-Relation (vgl. Müller 1990).

Die Umdrehung des Antirassismus

Die Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus hat unter anderem mit seiner Stellung im antirassistischen Diskurs zu tun. Jede antirassistische Praxis entwickelt sich zunächst gegen die jeweils dominierende Form rassistischer Herrschaft. So positioniert sich der universalistische Antirassismus gegen einen Rassismus, der vor allem segregationistisch strukturiert ist und auf der rechtlichen, sozialen und politischen Ebene Ausschlüsse entlang der Rassekonstruktion produziert. Der universalistische Antirassismus behauptet somit vor allem die Gleichheit der Menschen und die Notwendigkeit, die Differenzen, die der Diskriminierung dienen, zu ignorieren. Nun gibt es aber auch einen Universalismus, in dem die rassistische Unterdrückung eingeschrieben ist. Ein Universalismus, nach dem etwa all diejenigen Franzosen sind, die in Frankreich geboren werden, sich dann aber einen »französischen Namen« zulegen müssen; wo die Kultur der universellen Menschenrechte französisch, mindestens jedoch europäisch ist. Als Reaktion auf den im Kontext des Kolonialismus entstandenen Assimilationsterror entwickelte sich so das »Recht auf Differenz«. Die antikolonialistischen Kämpfe wurden selbst entlang der Differenzmarkierungen ausgefochten. Diese Gegenidentifikation der »Anderen« steht spiegelbildlich zur eurozentristischen Konstruktion des Selbst. Dieser Mechanismus der »Identifikation und Gegenidentifikation gehorcht der kulturalistischen Ideologie der Herrschenden« (Müller 1991: 39) und führt mithin dazu, daß der Antirassismus zwischen Assimilation und Differenz gefangen bleibt.

Wie kann nun eine Politik gemacht werden, die das Recht auf Differenz verkündet, diese aber auch überwinden will bzw. in der Differenzen nicht zum Ausschluß führen? Der Multikulturalismus schien in den 80er Jahren die Antwort auf dieses Problem darzustellen. Er versprach ein Konzept zu sein, das auf Anerkennung der Differenz und der Ablehnung von Assimilationszwang beruht und das dennoch die Möglichkeit politischer Gleichstellung eröffnet.

Die problematische Doppelstellung eines differentialistisch argumentierenden Antirassismus wurde spätestens deutlich, als die Neue Rechte auf verschiedene Weise in den Diskurs um Multikulturalismus intervenierte. Zum einen geschah dies durch die von Taguieff »Retorsion« genannte Umdrehung der politischen Bedeutung von Begriffen. Alle Redeweisen, die einmal dazu gedient hatten, im antikolonialistischen Kampf die Unterwerfung unter das koloniale System anzugreifen, wurden nun kurzerhand gegen Migranten[2] gewandt. Zum anderen gab es die Denunziation differenzialistischer Politiken im Namen des Universalismus, die beispielsweise gegen Anti-Diskriminierungsvorschriften und affirmative- action-Programme gerichtet waren. Die Konservative Partei in Großbritannien warb etwa mit dem Slogan: »Für Labour ist es ein Schwarzer, für die Tories ist er Brite!« (Carrington 2000).

Der Retorsionseffekt durch die Politik der Neuen Rechten bestand wesentlich in einer Kulturalisierung der Differenz. Kulturen werden darin als unüberwindliche Schranken angesehen – was jede Politik zugunsten ihrer Aufhebung unmöglich macht (vgl. Müller 1991: 38). In der Strategie des Multikulturalismus als Antirassismus reproduziert sich diese kulturalistische Falle auf eine ähnliche Weise. Die positiv besetzte Vielfalt der Kulturen soll zwar deren rassistische Stigmatisierung ablösen. Das Problem ist jedoch, daß die Bedingungen der Trennung zwischen der »eigenen« und der »fremden« Kultur darin nicht zur Disposition stehen. Denn die sozialen Verhältnisse, unter denen die vielen Kulturen in einer Gesellschaft koexistieren sollen, werden durch das Migrationsregime festgelegt.

Das Migrationsregime ist das institutionelle Gefüge, innerhalb dessen sich staatliche Praktiken der ethnisierenden Schichtung von Migranten artikulieren. Kämpfe um soziale Rechte, die sich auf die Verteidigung nationalstaatlicher Errungenschaften derart richten, daß sie den Arbeitsmarkt gegen Migranten abschotten wollen, finden darin ebenso Niederschlag, wie die Kämpfe der Migranten selbst oder das Kontrollinteresse der Staatsapparate. Will man den Rassismus nicht als ein Phänomen deuten, das gleichsam von Außen kommt, sei es in der Gestalt »irrationaler« Handlungen Einzelner oder durch ein abstraktes, als manipulatorisch vorgestelltes Herrschaftsinteresse »des Staates«, dann gilt es, Staatlichkeit, Rassismus, Ökonomie und deren wechselseitige Artikulation in Begriffen sozialer Verhältnisse zu analysieren.

Mültikültüralizm in Almanya

Das Konzept des Multikulturalismus war in der Bundesrepublik Deutschland hauptsächlich ein politischer Kampfbegriff, der von deutschen Intellektuellen ausgearbeitet und verallgemeinert wurde. Er ist somit vor allem ein von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft ausgearbeitetes Konzept zum Umgang mit den »Nicht-Deutschen« und diente als Gegenmodell zu konservativen und völkischen Strategien. Die aufkommende alternativ-linke Zivilgesellschaft grenzte sich damit gegen die etablierten Volksparteien ab, auch gegen die SPD. Aus deren Reihen war nicht selten zu hören, die »Gastarbeiter« sollten in Krisenzeiten deutschen Arbeitskräften Platz machen und wieder »nach Hause« gehen – auch in den 80ern noch, als viele der »Gäste« bereits 15-20 Jahre in Deutschland lebten.

Dennoch beginnt in dieser Zeit die Rede vom »Gastarbeiter« in Frage gestellt zu werden – sowohl von Teilen der linken Sozialdemokratie, der Alternativszene und kirchlichen Kreisen, als auch von organisierten Migranten selbst. Es wurde immer deutlicher, daß ein großer Teil der Arbeitsmigranten Deutschland nicht verlassen würde. Die Rotationsmodelle, die genau das verhindern sollten, waren abgeschafft, und es gab relativ weitgehende Regelungen für den Familiennachzug, der zur paradoxen Situation einer de-facto-Einwanderung beitrug: Zwar wurde damit anerkannt, daß die Arbeitsmigranten dauerhaft hier lebten, als Ausländer sollten sie aber weiterhin den Status von Gästen innehaben und keine politischen Rechte genießen.

Zunächst also stand der Begriff des Multikulturalismus auch dafür, überhaupt anzuerkennen, daß die vielen Gäste gar keine waren. Daß dies keinesfalls selbstverständlich war, zeigten nicht zuletzt die massiven Kampagnen gegen Migranten Anfang der 80er Jahre. Regierung und Opposition begannen die Anwesenheit der Arbeitsmigranten und Flüchtlinge auf verschiedene Weise grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Regierung Kohl erklärte 1983 gar die Ausländerfrage zu einem der vier Schwerpunkte ihres »Dringlichkeitsprogramms«.

Während Kohl und Innenminister Zimmermann das ehrgeizige Ziel verfolgten, eine Million Ausländer »rückzuführen«, wie das damals hieß, formierte sich gegen diese Politik ein breiter Widerstand, der von Teilen der Sozialdemokratie über Gewerkschaften und Kirchen bis zu den Grünen ging. Weil die Auszahlung der Arbeitslosenversicherung oder gar der eingezahlten Rentenbeiträge (selbstverständlich nur die der Arbeitnehmer) an die »Rückkehrer« nicht finanzierbar war, reduzierte man die Zahl schnell. Und so bekamen die wenigen, die wohl ohnehin gehen wollten, ein paar tausend Mark bezahlt. Für die Migranten hatte der Multikulturalismus ambivalente Effekte: So konnten mit dem Rekurs auf Multikulturalismus auch die Forderungen nach Assimilation in die deutsche Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen werden. Auf kommunaler Ebene hatte der Multikulturalismus unter anderem die Auswirkung, daß vielen Migrantinnen und Migranten sich nun die Möglichkeit bot, am politischen, sozialen und kulturellen Leben in Deutschland zu partizipieren. Hatten doch Ausländergesetz und -politik jahrelang die politische Betätigung der Migranten verhindert und diejenigen Strömungen gestärkt, die heimatorientierte »Kulturpflege« betrieben hatten.

Einflußlose Vorzeigekanaken

Die Verschiebungen durch den Multikulturalismus haben jedoch auch zu einer Depolitisierung beigetragen – etwa durch die kulturalistischen (Fremd- )Zuschreibungen, die die Migranten nun auch zu erfüllen hatten, denn der Multikulturalismus sollte Deutschland ja »bereichern«. Die Multikulturalisten hatten die clevere Idee, dem Bedrohungsszenario der Einwanderungsgegner eine Gegenrechnung zu präsentieren. Die Migranten seien nicht nur ein Problem, sondern brächten ja auch was mit, Pizza oder Döner nämlich. Also mußte man Tee servieren und Folklore tanzen, sich in der »eigenen Kultur« auskennen wie sonst kein Kulturwissenschaftler, und wenn jemand Gülden oder Yugomir hieß, aber kein türkisch oder serbokroatisch sprach, dann fand man das »echt kraß, daß du deine eigene Sprache nicht sprechen kannst«.

Nur wer das Multikulturalismus-Paradigma akzeptierte, durfte in den zahlreichen Institutionen des multikulturellen Dialogs mitmachen, sei es in den Ausschüssen von Parteien und Gewerkschaften[3] oder kommunalen Büros, die einige rot-grün regierte Städte eingerichtet hatten. Das waren dann in der Regel jene Vorzeige- Kanaken der mittlerweile entstandenen kanakischen Mittelschicht, die allenfalls einige lobbyistische Forderungen formulieren durften, die freilich im Dienste des multikulturalistischen Miteinanders zu stehen hatten. Die Repräsentation von Migranten im Multikulturalismus war somit ein Fake, denn wenn die »sozialen Verhältnisse nicht thematisiert werden, laufen die Repräsentations-Bemühungen von Migranten ins Leere. [...] Repräsentation im Sinne öffentlicher Sichtbarkeit und Repräsentation im politischen Sinne einer Interessenvertretung werden oftmals verwechselt« (Ayata 1999).

Vor dem Hintergrund der politisch-rechtlichen Ausgrenzung haben die repräsentationspolitischen Bemühungen von Migranten im Kulturapparat einen doppelten Effekt. Sie organisieren zwar die Sichtbarkeit der Migranten im Staatsapparat, dies geschieht jedoch unter den vorgefundenen Bedingungen der Rechtlosigkeit. Dies verstärkt somit das Integrationsdispositiv, mit dem zunehmend seit den 80er Jahren ein neuer Modus der ausschließenden Inklusion etabliert werden konnte. Wer sich anpaßt und die – stets vage bleibenden – Kriterien für eine gelungene Integration erfüllt, bekommt politische Rechte. Die Integrationsunwilligen dagegen müssen draußen bleiben. Die Präsenz eines Teils der Migranten im Staatsapparat hat jedenfalls nicht zu einem Angriff gegen den wirklichen Skandal, die Entrechtung der Migranten, geführt.

Am Beispiel des Frankfurter Amts für multikulturelle Angelegenheiten (AMKA), dem einzigen dieser Art bundesweit, läßt sich diese Entwicklung verdeutlichen. Die meisten bekanntgewordenen Fälle, in denen das AMKA politisch in Aktion getreten ist, stellen ambivalente Praktiken des Konfliktmanagements dar. Sie zeigen, daß die postulierte Rolle als Lobby der Frankfurter ohne deutschen Paß (Mestre Vives 1998, 93) durch die Realität der Ausländergesetze permanent in Frage gestellt war. Gleichzeitig hatte es, das zeigen Beispiele wie die Intervention des AMKA in den Konflikt um den sogenannten Polenmarkt, häufig die Funktion, die Interessen von Deutschen zu vertreten, die sich durch die Präsenz der Migranten gestört fühlten.[4]

Darüber hinaus können bis heute nur diejenigen Gruppen, die in irgendeiner Weise organisiert sind, ihre Interessen gegenüber dem AMKA überhaupt artikulieren und eventuell auch durchsetzen. So tragen Institutionen wie das AMKA, indem sie von den Migranten institutionalisierte Ansprechstellen erwarten, dazu bei, daß sich Organisationen herausbilden bzw. bestehende Organisationen einen Teil ihrer Arbeit auf solche lokalen Politiken ausrichten. Welche Stimmen gehört werden und Eingang in den Prozeß der politischen Willensbildung finden, hängt somit von den Bedingungen ab, die die Staatsapparate mehr oder weniger diktieren. Wer keinen Verein gründen und entsprechende Funktionäre stellen kann, existiert bestenfalls als behördliches Problem.

Unsichtbarkeit durch Ignoranz

Die unterordnende Einbindung von Teilen der Migranten wird organisiert vor dem Hintergrund einer vollständigen Ausblendung der sozialen und politischen Verhältnisse, in denen Migranten in Deutschland leben. Deutsche und Migranten sollen sich gegenseitig respektieren und tolerieren, was stets mit einer besonderen Aufforderung an die Migranten verknüpft ist. Gerade sie müßten lernen, auch die kulturellen Sitten der Deutschen zu achten. Auffällig ist dabei, daß solche Aussagen vornehmlich an die Mehrheitsbevölkerung adressiert sind, der die Anwesenheit der Migranten auf jede erdenkliche Weise schmackhaft gemacht werden soll. Möglich ist dies durch die Aufrechterhaltung der kulturalistischen Dichotomie zwischen dem Selbst und den Anderen, die die sozialen Konflikte in kulturelle transformiert und dabei immer mit einer sekundären Essentialisierung arbeitet. Die Kultur der anderen hat die Funktion dessen, was im biologistischen Rassismus die unüberwindbare Barriere zwischen den angeblichen Rassen war. Die so als Kulturen einander gegenübergestellten gesellschaftlichen Widersprüche – es geht mithin um die Folgen der rassistischen Entrechtung der Migranten – sind damit nicht mehr verhandel- oder umkämpfbar, sondern liegen den Migranten eben doch im Blut.

In den 90ern wurde der Multikulturalismus vor allem mit Argumenten kritisiert, die dem universalistischen Antirassismus zuzuordnen sind. Der universalistische Antirassismus war jedoch nicht nur zu allgemein gedacht, er sah auch nicht, daß die Probleme, auf die die Gegenidentifikation etwa der Migranten antwortet, nicht einfach ignoriert und idealistisch wegdefiniert werden können. Das Unsichtbarmachen der realen, durch den Rassismus in die Welt gesetzten Differenzen kann mithin genauso problematisch sein, wie permanent auf sie zu rekurrieren. In den USA ist das durch die affirmative-action-Programme noch viel deutlicher als in Deutschland.

Die ganze Debatte um Multikulturalismus und universalistischen Antirassismus ist selbst einem identitätspolitischen Dispositiv verhaftet. Auch Hybridität[5] und Identitätsguerilla stellen darin bloß abstrakte Antworten dar, die die sozialen Kämpfe gegen den Rassismus ignorieren und häufig genug durch den Vorwurf der Identitätspolitik der Klärung wichtiger Fragen aus dem Weg gehen. So kann die Ambivalenz von minoritären Strategien, die auf zugeschriebenen und einverleibten identitären Markierungen basieren, gar nicht erst erkannt werden (Bojadzijev/ Tsianos 2000). Ihre Gleichsetzung mit hegemonialen Identitätspolitiken fußt auf einem formalistischen Verständnis des Politischen und gipfelt meist im Vorwurf der Selbstethnisierung oder des sogenannten »umgekehrten Rassismus«. Entscheidend für die politische Einschätzung identitärer Elemente im antirassistischen Kampf ist daher stets ihre Einordnung in die Analyse der konkreten Situation.

Den Multikulturalismus anzugreifen kann also nicht heißen, den Prozeß der Kulturalisierung selbst anzugreifen. »An sich« nämlich haben die verschiedenen Elemente keine politische Bedeutung, sei es die identitäre Markierung oder der Rekurs auf eine differente Kultur. Wenn Kanakinnen und Kanaken in Alltagssituationen identitäre Selbstzuschreibungen (wie z.B. den Begriff Kanake) einsetzen, um sich gegen rassistische Diskriminierung zu behaupten, dann besteht darin eben nur eine formale Ähnlichkeit mit dem, was das AMKA systematisch betreibt.

Aus der Erfahrung der Retorsion, aus der Umdrehung und Besetzung emanzipatorischer Inhalte durch die Neue Rechte die Schlußfolgerung zu ziehen, das Terrain sei damit verloren, hat sich als kaum fruchtbarer Weg erwiesen. Auch die Haltung, derzufolge jeder Retorsionsprozeß den Beweis führe, daß die retordierte Position von Anfang an falsch gewesen sein muß, begünstigte nur die fatale Suche nach der endgültig richtigen Politik, die niemals umdrehbar sein würde. So befindet sich die linke Diskussion um Rassismus und Antirassismus derzeit gefangen zwischen zwei Resultaten dieser Suche: Identitätsguerilla und radikale Identitätskritik.

Statt dessen müßte es heute darum gehen, einen Antirassismus zu entwickeln, in dem die im Kampf gegen den Rassismus erworbenen Identitäten historisch und gesellschaftlich kontextualisiert anstatt pauschal zurückgewiesen oder schlicht abgefeiert werden. Unter anderem dafür steht das Projekt Kanak Attak. Die Kriterien dafür, welche Politiken nützlich sind im Kampf gegen Rassismus, lassen sich aber keiner »Theorie des Widerstands« entnehmen. Die Kämpfe gegen rassistische Verhältnisse verändern sich nicht nur, weil »der Rassismus« sich immer erneut modernisiert, sondern auch weil der Kampf gegen »ihn« eigene Dynamiken enthält, die auch die Gruppe der Migrantinnen und Migranten historisch immer neu konstituiert. Weil rassistische Verhältnisse die Ethnifizierten nicht nur als Opfer des Rassismus hervorbringen, sondern auch als vielfältige Subjekte mit vielerlei Praktiken gegen ihn, ist es die Geschichte der Migrantinnen und Migranten selbst, die aufgenommen und transformiert werden muß.



Anmerkungen:

[1] Dank geht an meine Brüder und Schwestern von Kanak Attak, ohne die dieser Text nicht geschrieben worden wäre.

[2] Unter Migranten verstehe ich hier auch Menschen, die dem rechtlichen Status nach Flüchtlinge sind. Zum einen ist das Asylrecht häufig die einzige Möglichkeit, überhaupt in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen bzw. einzuwandern. Zum anderen führt das langwierige Anerkennungsverfahren bei vielen, die vielleicht mit der Absicht kamen, nur kurz zu bleiben, zu einer de- facto-Einwanderung, da es nach langem Aufenthalt häufig unrealistisch wird, den Lebensmittelpunkt noch einmal zu ändern.

[3] Das entsprechende Gremium heißt beispielsweise in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) heute noch »Ausschuß für multikulturelle Angelegenheiten«

[4] Als es in diesem konkreten Fall zu einem runden Tisch kam, waren alle beteiligten Parteien, auch die polnische Kirchengemeinde, vertreten. Nur die Anwohner, die ja die Intervention durch ihre Beschwerden ausgelöst hatten, waren nicht mit am Tisch, so daß das AMKA deren Interessen vertrat.

[5] Ab Mitte der Achtziger kam außerdem das Konzept der Identitätspolitik auf, besonders in Großbritannien. Sie sollte eine nicht-essentialistische Form der Identität organisieren und eher auf die Brüche und Querverbindungen der Lebenswelten von Migranten, aber auch der gesellschaftlichen Realität rekurrieren – mithin auf Hybridität.



Literatur:

Müller, Jost 1990: »Rassismus und die Fallstricke des gewöhnlichen Antirassismus.« In: Die freundliche Zivilgesellschaft (Hg.: Redaktion diskus) Berlin 1990. Edition ID Archiv. S. 25-44.

Demirovic, Alex 1990: »Vom Vorurteil zum Neo-Rassismus. Das Objekt ‘Rassismus’ in Ideologiekritik und Ideologietheorie.« In: Die freundliche Zivilgesellschaft (Hg.: Redaktion diskus) Berlin 1990. Edition ID Archiv. S. 73-94.

Bojadzijev, Manuela/Tsianos, Vassilis 2000: »Mit den besten Absichten. Spuren des migrantischen Widerstands.« In: iz3w 244.

Terkessidis, Mark 2000: Migranten. Berlin. Rotbuch

Ayata, Imran 1999: »Heute die Gesichter, morgen die Ärsche.« In: Spex 11/99.

Mestre Vives, Laura 1998: Wer, wie über wen? Eine Untersuchung über das Amt für multikulturelle Angelegenheiten. Pfaffenweiler. Centaurus Verlag.

Carrington, Ben 2000: »Double Consciousness and the Black British Athlete«. In: Owusu, K. (Hg.) Black British Culture and Society. London. Routledge.



Serhat Karakayali ist bei Kanak Attak aktiv. Der Text beruht auf einem Beitrag für das Internet-Magazin Com.une.farce.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 263 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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https://sopos.org/aufsaetze/3d78f861ce335/1.phtml

sopos 9/2002