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Vaudou - Von der Befreiungskultur zur letzten Zuflucht

Der Petro-Kult auf Haiti

von Utz Anhalt



"Daß Glaube etwas ganz anderes sei als Aberglaube, ist unter allen Aberglauben der größte."

Karlheinz Deschner


Das Zombie-Konzept spiegelt die Sklaverei-Erfahrung wider.
Das Zombie-Konzept spiegelt die Sklaverei-Erfahrung wider.

Vaudou bedeutet Erkenntnis und Wissen, vau heißt übersetzt "Hineinsehen" und dou "In das Unbekannte". Seinem Wesen nach ist er Offenbarung, die von den Eingeweihten in einer mystischen Stadt in der Nähe von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti, erfahren werden kann. Orthodoxe Anhänger des Vaudou vermuten diese Stadt dagegen in Nigeria: Der Vaudou ist eine Sonnenreligion, seine Archetypen entstammen der Sonne. Wie jede Sonnen- und Feuerreligion hat sie ihre antiken Wurzeln in Afrika.

Die haitianische Kultur des Vaudou wird in Europa und den USA noch heute verzerrt durch die Ideologie der ehemaligen Sklavenhalter wahrgenommen. Bis heute werden mit Haiti blutsaufende Diktatoren, materielles Elend, irrationale Ekstase und ständig wechselnde korrupte Regierungen assoziiert. Vaudou (oft als Voodoo bezeichnet) gilt dem "westlichen" Blickwinkel als Inbegriff von schwarzer Magie, Schadenszauber, Zombies und der Vernichtung von Menschen durch das Spicken von Puppen mit Nadeln. Ignoriert wird dabei, daß es kaum eine Bevölkerung auf der Welt gibt, die sich von ihren Diktaturen immer wieder so selbstbewußt und militant befreit hat wie die haitianische. Die dunkelmagischen Praktiken sind grausige Randphänomene des Vaudou und werden von der haitianischen Bevölkerung als schadenbringend bekämpft. Die Kultur der haitianischen Bevölkerung wird in der euroamerikanischen Wahrnehmung mit den Handlungen der Feinde der haitianischen Unterschichten gleichgesetzt.

Der Vaudou ermöglichte geschlossene Widerstandsstrukturen der Schwarzen in der Kolonie und somit Selbstbewußtsein und eine eigene kollektive Identität, die der französischen Herrenklasse nicht zugänglich war.

Diese Umkehrung der kulturellen Wirklichkeit ist erklärbar durch die reale Bedrohung, die im 18. Jahrhundert für die französisch-katholischen Sklavenhalter von der Befreiungskultur der schwarzen Sklaven ausging. Der Vaudou ermöglichte geschlossene Widerstandsstrukturen der Schwarzen in der Kolonie und somit Selbstbewußtsein und eine eigene kollektive Identität, die der französischen Herrenklasse nicht zugänglich war. Soziale Bezugssysteme wurden religiös definiert, da gemeinsame gesellschaftliche Definitionen zu bestimmen waren von Individuen, die sich nur durch ihren sozialen Status (Sklaven), ihre Hautfarbe und teilweise ihre Herkunft (Westafrika) als Gruppe erfahren konnten. Als Sklaven fehlten ihnen elementare Identitätsdefinitionen wie politische Organisation, Rechts- und Eigentumsordnungen und sprachliche Zusammengehörigkeit. In den Riten des Vaudou manifestierte sich ein für die französischen Plantagenbesitzer nicht durchschaubares System, in dem sich die Sklaven eine eigene Organisation aufbauten, welche von den herrschenden Formen gesellschaftlicher Sicherheit abstrahiert war. Noch heute ist der Vaudou die Religion der haitianischen Unterschichten, während sich die (schwarzen und farbigen) Mittel- und Oberschichten fast ausschließlich zum römischen Katholizismus bekennen.

Die historischen Hintergründe des Vaudou

Haiti liegt im westlichen Drittel der zweitgrößen Insel der großten Antillen. Bis 1804 war Haiti französische Kolonie. Das Wirtschaftssystem beruhte auf der Ausbeutung afrikanischer Sklaven, die mit fast 90% einen höheren Anteil der Bevölkerung stellten als in jedem anderen lateinamerikanischen Land. Nach der Unabhängigkeit wurde die Landwirtschaft verstaatlicht. Diese Agrarreform revidierten Militärs und Staatschefs bereits wieder in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Deren Feudalregime geriet nach 1883 zunehmend in eine Krise, verbunden mit Rebellionen der landlosen Bauern. 1915 bis 1934 hielten die USA das Land besetzt und leiteten eine Modernisierung ein, die Herrschaft der Militäroligarchie blieb jedoch unangetastet. Heute stehen dieser hauptsächlich aus Mulatten bestehenden Oligarchie ca. 90% Bauern, Landlose und Marginalisierte gegenüber - es existiert keine nennenswerte Mittelschicht. 80% der Bevölkerung sind Schwarze, 15-20% Mulatten, einige Tausend sind weiße Amerikaner. Die französischen Plantagenbesitzer wurden nach der Revolution von 1804 fast gänzlich aus dem Land gejagt, die Oberschicht spricht jedoch weiterhin Französisch, achtet auf "französische" Lebensart und Kultur und sieht sich selbst in der Rolle der von Nyere beschriebenen "schwarzen Weißen", also Schwarzen (und Mulatten), die die Kolonialstruktur nach der Unabhängigkeit zu ihrem Nutzen weiter aufrechterhalten. Abgesehen von einer kurzen Periode von Dezember 1990 bis Oktober 1991, als der Befreiungstheologe Jean-Bertrand Aristide zum Staatspräsidenten gewählt wurde, waren die Herrscher Haitis Plünderer, selbsternannte "Kaiser", größenwahnsinnige Diktatoren und Tyrannen, die die Bevölkerung bis zum sozialen Bankrott des Landes ausbluten ließen.

Die Zersplitterung der einzelnen Stämme in Haiti wurde von den französischen Sklavenhaltern gezielt betrieben, um massenhafte gesellschaftliche Organisation der Sklaven und somit Widerstand zu verhindern.

Die schwarzen Sklaven im vorrevolutionären Haiti stammten aus unterschiedlichen westafrikanischen Ethnien und Staaten, aus Yoruba, Dahomey, Loango, Aschanti und Mandingo. Diese hatten alle eigene Glaubensvorstellungen, Namen für ihre Orte, ihre Tänze, Rituale, ihre Sprache. Die Zersplitterung der einzelnen Stämme in Haiti wurde von den französischen Sklavenhaltern gezielt betrieben, um massenhafte gesellschaftliche Organisation der Sklaven und somit Widerstand zu verhindern. Bestimmte Glaubensvorstellungen waren in Westafrika jedoch allgemein verständlich. Dazu gehörte die Ahnenverehrung, ritualisierter Tanz, Trommeln und die Besessenheit von Gläubigen durch Götter. Aus der Vielfalt der einzelnen Stammesgottheiten fand eine Integration von deren Hauptgöttern in eine Gesamtreligion statt.

Während die Gottheiten in Westafrika einen defensiven und bewahrenden Charakter hatten, wurden die Glaubensvorstellungen der Karibik, bedingt durch die auseinandergebrochenen und zerrissenen sozialen Strukturen härter, aktiver und kriegerischer. In dieses religiöse Bezugssystem flossen, neben animistischen Elementen westafrikanischer Kulturen, katholische und indianische Symbolwelten ein. Der Kern der Riten und Glaubensvorstellungen des Vaudou blieb jedoch afrikanisch. Der physische Körper eines jeden Menschen wird von seinem esprit oder gros bon ange beseelt, der der Seele, dem Geist oder der Psyche entspricht. Diese Seele kann in verschiedenen Stufen den Stand eines Archetyps bin hin zu einer Gottheit (eines Loas) erlangen.

Diese Loas können den gros bon ange eines menschlichen Individuums verdrängen und dessen Körper beherrschen. Die Besessenheit, im Westen als exotistisch-unheimliches Faszinosum[1] phänomenologisch aus dem Zusammenhang gerissen, ist Teil der religiös-kulturellen Alltagsrealität der haitianischen Armutsbevölkerung und in strengste religiöse Rituale eingebunden. Die Loas sind weniger abstrakte Gottheiten im Sinne des Christentums oder Islams, sondern vielmehr Verkörperung von Kräften wie Liebe, Wut, Trauer oder Haß, mit denen das Individuum in der Phase der Besessenheit eins wird. Loa kommt vom französischen lois, Gesetz, und bezieht sich auf die Schöpfungsgesetze. Der gros bon ange ist Ausdruck der nicht-sichtbaren Eigenschaften eines Menschen, seines Lebensprinzips, seines "Charakters". Im Unterschied zum Christentum oder Islam ist die Praxis des Hougan, des Priesters, nicht zentralistisch oder hierarchisch organisiert. Zu den Aufgaben eines Hougan in Haiti zählt neben dem religiösen Ritual auch die Medizin. Der Hougan ist kein Gläubiger, sondern ein Wissender, der Zusammenhänge kennt.

Der Vaudou ermöglichte die Geschlossenheit der Sklaven, durch die deren siegreiche Revolte 1791 und die Unabhängigkeit des schwarzen Haitis von Frankreich 1804 möglich wurden - der Sklavenaufstand begann mit einer Vaudou-Zeremonie am 14.08.1791.

Der Vaudou ist in zwei Richtungen geteilt, den auf der afrikanischen Tradition basierenden Rada-Kult, der hauptsächlich in den Städten praktiziert wird und den Petro-Kult, der aggressiver und gewalttätiger ist. Im Petro-Kult wird das indianische Erbe deutlicher. Da es in diesem Artikel vorrangig um die Befreiung der Sklaven geht, steht der Petro-Kult im Mittelpunkt. Dieser ist nicht bösartig, sondern die Antwort auf die Deportation in die Sklaverei und die Peitsche des Sklavenhalters. Die Wut im Petro-Kult zeigt auch dessen Ersatzfunktion für die verlorene afrikanische Heimat, die Sehnsucht nach Rache und die Hoffnung auf ein besseres Leben als aggressiven Ersatz für die geraubte Geschichte. Der Vaudou ermöglichte die Geschlossenheit der Sklaven, durch die deren siegreiche Revolte 1791 und die Unabhängigkeit des schwarzen Haitis von Frankreich 1804 möglich wurden - der Sklavenaufstand begann mit einer Vaudou-Zeremonie am 14.08.1791.

Ein Antrieb der Revolution war die Ansicht, daß die Seelen der Gefallenen nach Afrika zurückkehren würden. Hier gibt es Überschneidungen des Vaudou mit der Rastafarikultur in Jamaika. Die afrikanischen Elemente des Vaudou breiteten sich in ganz Amerika aus; Spielarten sind neben Haiti am stärksten auf Kuba und in Brasilien ausgebildet. Der Petro-Kult des Vaudou stellte sowohl die Organisationsstruktur als auch die moralische Stärke der haitianischen Revolution. Eine Loa, die Marinette-Bois-Chéche gilt als die unsichtbare Kraft, die die Kanonen auf die Franzosen abfeuern ließ. Dessalines, der Revolutionsgeneral und spätere Kaiser von Haiti soll von einem ogoun, einem Geistwesen, besessen gewesen sein. Nicht das mystische Element des Vaudou, sondern dessen weltliche Basis: ein einheitliches Bestreben nach Befreiung von Herrschaft war ausschlaggebend dafür, daß Haiti nach den USA als zweite Kolonie unabhängig wurde. Da das Bestreben nach Befreiung niemals eingelöst wurde, ist der Vaudou noch heute als Kultur der haitianischen Unterschichten höchst lebendig.

Noch heute ist das "Vive la liberte" Lied der Revolution neben dem Bad in Coca-Cola Bestandteil der Vaudou-Zeremonien.

Die westafrikanischen Religionen wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Haiti mit indianischen Glaubensvorstellungen verbunden. Entflohene schwarze Sklaven vermischten sich in den Wäldern und Bergen mit Indianern, die sich in diese Gebiete aus Angst vor den Massakern des weißen Mannes zurückgezogen hatten.[2] Zudem waren die indianischen und afrikanischen Religionen sich in ihren Grundaussagen sehr ähnlich. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur wurde bei beiden durch eine metaphysische Gestaltveränderung (Tiermenschen) ermöglicht, beide hatten Ahnenkulte und verehrten die Elemente. Bei beiden wurden die metaphysischen Kräfte äußerlich im Rahmen von Ritualen und nicht innerlich durch Meditation beschworen. Beide Religionssysteme vertraten keinen Absolutheitsanspruch, waren undogmatisch und reizten zur gegenseitigen Verschmelzung. Durch das indianische Element, dessen Symbolwelten in der Karibik verankert waren, wurde der Vaudou zu einer amerikanischen Kultur, dessen revolutionäres und gewalttätiges Moment eine andere Dynamik zu entfesseln erlaubte als die Religionen der westafrikanischen Monarchien. Der Schamanismus der karibischen Indianergesellschaften, im Vergleich zum Zentralismus der westafrikanischen Staaten die primitivere Kultur, bot die für die Befreiung vom "Weißen Mann" notwendige dezentrale Struktur. Die westafrikanischen Religionen waren auf Stabilität und Kontinuität aufgebaut, auf Passivität, die von der Kriegergesellschaft der Azteken beeinflußten karibischen Indianerreligionen auf Lebendigkeit und Aggressivität, auf Krieg, auf Aktivität und Handlung. Letzteres entsprach den Bedürfnissen der schwarzen Sklaven auf Haiti. Indianer und Schwarze, deren Kulturen sich in den Bergen Haitis miteinander vermischten, waren sich einig in ihrem Haß auf die weißen Kolonialherren. Durch das magische Element des indianischen Schamanismus war die Möglichkeit zum Handeln in der materiellen Welt gegeben.[3] Noch heute ist das "Vive la liberte" Lied der Revolution neben dem Bad in Coca-Cola Bestandteil der Vaudou-Zeremonien.

Auch biblische und katholische Traditionen flossen in den haitianischen Vaudou ein, unter anderem die Bezeichnung von Geistwesen mit den Namen von christlichen Heiligen und Elemente der christlichen Messen. Die französischen Sklavenhalter konnten keine katholischen Gottesdienste verbieten.

Der Vaudou als Befreiungskultur ist in der eigenen spirituellen Gesellschaft keinesfalls hierarchielos. Loahierarchien gründen sich als Abbild der irdischen Gesellschaft um Priester, symbolisierte Kaiser und Kaiserinnen, die in den diktatorischen Perioden durch Präsidenten, Generäle, Minister, Senatoren etc. ersetzt wurden. Inwieweit sich hier eine Anerkennung weltlicher Hierarchien abbildet oder eine Art "spirituelles Theater" stattfindet, kann schwer aus europäischen Wirklichkeitsbegriffen heraus erklärt werden. Der hougan übt allerdings als irdischer Richter eine enorme Macht auch in weltlichen Fragen aus.

Schwarzmagier und Zombies: Ausbeuter und Ausgebeutete

Zombies, als europäischer Inbegriff des Vaudou und aus verschiedensten Horrorfilmen u.a. von George Romero bekannt, sind das Resultat einer physischen oder psychischen Methode der Persönlichkeitszerstörung. Der Begriff Zombie leitet sich ab vom indianischen Wort Zemi, was in der indianischen Religion sowohl den seelenlosen Lebenden und den Geist des Toten bezeichnete, als auch einen Talisman, der nötig war, um Zauber zu wirken. Die physische Methode besteht in der Verabreichung von Giften, durch die ein Mensch in einen katatonischen Zustand versetzt und, für die Allgemeinheit als tot geltend, begraben und heimlich aus dem Grab zurückgeholt wird. Da auch nach dem Erwachen aus der körperlichen Starre die geistigen Funktionen zerstört bleiben, dienen diese "seelenlosen Menschen" dem Giftmischer als körperlich aktive, aber willenlose Arbeitssklaven.

Der als Bocor bezeichnete Schwarzmagier ist demnach ein Ausbeuter, ein Sklavenhalter, der der Voltaireschen Definition des Vampirs[4] als ökonomischen Parasiten sehr ähnlich ist. Der Zombie ist ein psychisch zerstörter Mensch. Im Unterschied zur Spiritualisierung des Sozialdarwinsmus in bestimmten Spielarten des amerikanischen und europäischen New Age gilt der Bokor nicht als Heros und schöpferischer Zerstörer, sondern als Feind der Menschen, dessen Verbrechen mit Mord identisch sind. Diese Vorstellung von Zombies ist nicht unbedingt mystisch, sondern sehr rational und der Verfolgung eines Verbrechens geschuldet, das in der Leidenserfahrung einer Bevölkerung, die aus den Nachfahren von Sklaven besteht, tiefe Wurzeln hat.

Im Gegensatz zur christlichen Herrschaftsreligion war die Vernichtung Andersdenkender, Inquisition, Hexenverfolgung und Ausrottung der Ungläubigen niemals Element des Vaudou.

Im Gegensatz zur christlichen Herrschaftsreligion war die Vernichtung Andersdenkender, Inquisition, Hexenverfolgung und Ausrottung der Ungläubigen niemals Element des Vaudou. Während die Verfolgung von Hexen und Magiern durch die Herrschaftsträger der katholischen und protestantischen Kirche sich gegen die Volkskultur richtete, ist der Bokor ein Herrschaftsträger, der gegen die Bevölkerung handelt. Das Prinzip des Vaudou bedeutet, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden und Ausbeutung zu verhindern, wohingegen die europäischen Hexenprozesse zum Ziel hatten, Ausbeutung effizienter gestalten zu können. Die Bokors in Haiti waren nicht nur die weißen Sklavenhalter vor der Revolution, sondern auch die schwarzen Diktatoren und Massenmörder, deren Terrorherrschaft sich bis heute wie ein endloser Blutstrom durch die postkoloniale Geschichte Haitis reißt. Die Schlächter Duvalier, Papa und Baby Doc, stellten sich bewußt in die Tradition der Bokors und der dem Tode verbundenen Gottheiten des Vaudou. Die Schergen der Geheimpolizei der Duvaliers wurden in Haiti als tontons macoute, als "Onkel Menschenfresser" bezeichnet und als Schwarzmagier betrachtet. Der Antikommunist Francois Duvalier, der 1957 durch die USA in Haiti an die Macht gebracht wurde, orientierte sich an Hitler und identifizierte sich mit der Gottheit des "Baron Samedi", dem Herren der Friedhöfe.[5] Baby Doc ließ später das Mausoleum seines Vaters von einem der "Menschenfresser" rund um die Uhr bewachen, aus Furcht vor magischer Rache der hougans.

Eine andere Variante der Zombies sind von Schwarzmagiern beherrschte Seelen von Toten, die nur für den Magier sichtbar sind. Da die haitianische Gesellschaftsstruktur nach wie vor feudal-cliquenkapitalistisch organisiert ist und sich die Abhängigkeitsverhältnisse von 90% der Bevölkerung von denen der Sklaven kaum unterscheiden, ist die Furcht der haitianischen Unterschichten vor den Erschaffern von Zombies sehr verständlich. Ebenso nachvollziehbar ist, daß die Militärs, Herrscher und Tyrannen der Oberschicht Mittel und Wege suchten, um Zombies zu erschaffen.

Der Vaudou im Haiti des Jahres 2001

Solange es für die überwältigende Mehrheit der haitianischen Bevölkerung keinen Ausweg aus materiellem Elend und terroristischer Herrschaft gibt, wird die moralische Kraft des Vaudou zur sozialen Emanzipation, die immer mit weltlichen Freiheitsforderungen verbunden war, auch weiterhin das Leben der Armen auf der Karibikinsel bestimmen.

Die Haitianer sind aufgrund ihrer erbärmlichen Lebensbedingungen (die Arbeitslosigkeit beträgt laut GEO 12/2000 80%, die Lebenserwartung liegt bei 38 Jahren, das Pro-Kopf-Einkommen beträgt 270 US-$ jährlich) notwendigerweise sehr realistische Menschen. Der Lebensstandard in Haiti ist vergleichbar mit dem in den ärmsten Ländern Schwarzafrikas. Auf makabre Art hat sich so die Rückkehr nach Afrika erfüllt. Als Test für die Wirksamkeit metaphysischer Kräfte dienen pragmatische Erfolgserlebnisse. So ist die Symbolwelt des Vaudou auf Beobachtungen und faßbaren Tatsachen aufgebaut. Glauben ist eng an Denken, an folgerichtige Ereignisse geknüpft. Die Loas werden nicht verehrt, sondern mit ihnen wird verhandelt, wenn das Ergebnis negativ ausfällt, liegt das an Meinungsverschiedenheiten mit den Loas oder daran, den eigenen Standpunkt nicht überzeugend genug vertreten zu haben.

Als Sonnenreligion steht die Lebensbejahung im Zentrum des Vaudou. In diesem in Bruchstücke zersplitterten Land, in dem ähnlich wie in Liberia, dem anderen Hoffnungsträger der afrikanischen Sklaven, der Versuch der Selbstbestimmung nach einer gelungenen Revolution scheiterte, ist der Gesang der hougans oft die einzige Form verbindlicher sozialer Organisation. Während die Intellektuellen, Schriftsteller, Maler und Musiker im Chaos der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nach dem Sturz von Baby Doc das Land Richtung USA verließen und auch Aristide sich primär am Machterhalt interessiert zeigte, pflügen die Bauern im verlassenen Land weiterhin ihre kümmerlichen Felder mit Holzstöcken, sehen die herrschenden Familien Haiti nach wie vor als Plündergut an, existiert eine Infastruktur nicht auch nur ansatzweise. Im Unterschied zur Periode der französischen Sklaverei gibt es heute für eine Sozialrevolte kaum Angriffsflächen und auch keine Alternativvorstellungen. Auch wenn die Reichen heute aus dem Land gejagt würden, gäbe es in dem ausgehungerten Land kaum mehr etwas zu holen. So bleibt nur noch der Vaudou, der das irdische Elend der meisten Haitianer nicht erlösen, aber zumindest Hoffnung auf dessen Überwindung geben kann. Vielleicht irgendwann einmal.

Haiti ist eine tickende Zeitbombe.


Literaturhinweise

Maya Dere: Der Tanz des Himmels mit der Erde. New York, 1951.

Steffi Steigmann: Geheimgesellschaften und Geheimbünde. Macht und Bedeutung der Geheimgesellschaften, Düsseldorf 1979.


Anmerkungen

[1] Siehe dazu zum Beispiel den Film Angel Heart mit Mickey Rourke.

[2] Indianer leben heute auf Haiti nur noch in winzigen Restgruppen.

[3] Religion ist ein kollektiver Prozeß, um universale Kräfte wohlgesonnen zu stimmen. Magie wird individuell betrieben, um diese Kräfte anzuzapfen, in eine bestimmte Richtung zu kanalisieren und auf ein persönliches Ziel zu konzentrieren. Die magischen Praktiken nehmen im Vaudou eine isolierte Stellung ein, ohne die allerdings die haitianische Revolution nicht erklärbar ist. Im Unterschied zur Religion übt der Mensch die Magie aus, nicht die Götter.

[4] "Ich gestehe, daß es (...) Börsenspekulanten, Händler, Geschäftsleute gibt, die eine Menge Blut aus dem Volk heraussaugen, aber diese Herren sind überhaupt nicht tot, allerdings ziemlich angefault. Diese wahren Sauger wohnen nicht auf Friedhöfen, sondern in wesentlich angenehmeren Palästen." (Voltaire, Dictionnaire Philosophique.)

[5] Ein Zeugnis für die religiöse Assimilationskraft des Vaudou ist das Fort Dimanche. Die Folterkammer der Duvaliers in Port-au-Prince trägt heute in der Bevölkerung den Namen Nirwana. - Baron Samedi hat den gleichen Ursprung wie Zombie.

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https://sopos.org/aufsaetze/3ad77f8015838/1.html