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You are watching Big Brother

von Sven Ehlers

"Krieg bedeutet Frieden
Freiheit ist Sklaverei
Unwissenheit ist Stärke"

"Gedankenverbrechen konnte man auf Dauer nicht geheimhalten."

GEORGE ORWELL IN "1984"

I.

Die alte Welt geht unter, ein letztes und endgültiges Mal. Was uns die Herrschaft durch Technik all die Jahre angekündigt hat, macht sie wahr: Von der vergangenen Welt ist bald nichts mehr zu sehen, während die neue Welt noch nicht fertig ist. Wir sind im Übergang und gehen, wie von Gottes Hand geführt, starr und laut in den totalen neuen Markt. Das Ziel fest aus den Augen verloren, marschieren wir in die neue Welt hinein, jenseits der muffigen Privatsphäre der Plüschsofas. Wir sind Online zum Marktgott, handybestückt um verfügbar zu sein und führen wieder Krieg gegen alles, was sich ausschließt und nicht fügt; drinnen und draußen, denn am westlichen Wesen hat die Welt zu genesen. Wer den neuen Markt nicht will, wird assimiliert. Wir sind die Borg des Spaßes und der repressiven Toleranz. Da ist soviel Spaß, daß ein dauerndes Lachen herüberhallt - bis es eisig wird und immer lauter scheppert, lauter und lauter wird, bis alles lacht. Dann hat man sich daran gewöhnt und bemerkt das Lachen nicht mehr. Doch es ist noch da. Und es schlägt um: in das Unbehagen, in den Moment, in dem es nicht mehr lustig ist. Dennoch verzerren sich die Mundwinkel und wollen ein Lächeln herauspressen. Es mißlingt.

Was einst komisch war, erscheint heute verstaubt, veraltet - manchmal erdrückend. Wie die Veränderung des Spaßes, so verändert sich auch sein offizieller Träger: das Fernsehen. An die Stelle des öden alten staatlichen Fernsehens ist eine ebenso öde neue Fernsehlandschaft getreten, die durch ihre scheinbare Vielfältigkeit alles einebnet: 40 Sender bombardieren unterschiedslos das verkrümmte Bewußtsein. Heute lachen wir über die Armut.

Du hast nichts? Also komm, für 500 Mark leckst Du das Laufband der Rolltreppe ab[1], natürlich vor laufender Kamera. Du fühlst dich unbedeutend? Komm in die Game-Show und steig in einen Käfig voller Spinnen. Deine Beziehung funktioniert nicht? Komm in den Daily Talk und erzähl es allen. Wir machen noch mehr Geld mit Deinem Schicksal als wir Dir geben. Du fühlst Dich alleingelassen? Halt Deine Fresse in die Kamera und erzähl Dein Schicksal den Massen zum Abendbrot. Du fühlst Dich ungeliebt? Viva[2] liebt Dich. Du hast das Gefühl, daß das doch nicht alles im Leben gewesen sein kann? Komm zu uns in die Abenteuersendung und spring mit einem Gummiseil vom Kran!

Wir lachen über unsere Angst allein zu sein, über unsere Angst vor Einsamkeit und über die Angst in der gesellschaftlichen Hierarchie abzurutschen - ganz herauszubrechen. Wir lachen aus Angst, daß jemand merken könnte, daß wir Angst haben, denn Angst ist verboten. Also entscheiden wir uns für die Verdrängung. Wir lachen zur perfiden Realität von Reich und Arm. Das Spiel des Wahrheitsministeriums, daß nicht merken lassen soll, wie es wirklich steht, kommt per Knopfdruck auf die devote Fernbedienung. Es herrscht ein kulturindustrieller Bürgerkrieg. Und in jedem Krieg gibt es Gefangene.

II.

You are watching Big Brother - live aus dem Gefangenenlager der Kulturindustrie. Dieses Gefängnis besteht aus einer Containerburg, die mit Kameras durchzogen ist. Die Inhaftierten sollen sich keinen Moment unbeobachtet fühlen. Der Gefangene, der es am längsten im Mustergefängnis aushält, wird belohnt, gute Führung mit kleinen Extras bedacht, um zur Kollaboration anzustiften - die anderen gehen leer aus. Aus der Lagerordnung: "Das Budget der ersten 14 Tage beträgt 560 DM für 10 Personen. Also 4 DM pro Person täglich, wovon alle Einkäufe/Bestellungen für diese Zeit gemacht werden müssen (...) Das Haushaltsgeld ist absichtlich knapp bemessen, damit Sie und ihre Mitbewohner nicht nur so bewußt wie möglich mit dem Geld umgehen lernen, sondern auch so bewußt wie möglich leben - dies ist eines der Anliegen von Big Brother: Im Big Brother-Haus leben Sie so, wie Millionen von Menschen: ohne Luxus."[3] Das strategische Ziel ist klar: Jeder Widerstand gegen das gewöhnliche Leben soll gebrochen werden durch die permanente Verdopplung des Seichten: der Weltgeist im Container als Bewußtsein der Welt.

Und so kommt es zum Stockholm-Syndrom: die Gefangenen identifizieren sich mit ihren Peinigern. "Das Leben ist gut so wie es ist. Es liegt nur an Dir. You can make it" - if we really want. Die Isoliertheit des Containers soll in der Wirklichkeit die des Rezipienten werden. "Wehre Dich nicht gegen das Bestehende!" steht codiert in großen Slogans hinter der Welt des Gefängnisses. Es sind die Zuschauer, die zum "Big Brother" gemacht werden sollen. Es soll gar nicht mehr der totalitäre Staat, die unsichtbare Diktatur sein, die sich um das Leben der Einzelnen schert, es sollen sich die kleinen Leute selbst anschicken zum "Großen Bruder" zu werden.

Dies ist nicht mehr die Zeit, in der das Volk auf kollektive Verbrecherjagd geht, wie noch bei "Aktenzeichen XY ungelöst", in der ein knarrender Moderator mit moralisierendem, postfaschistischem Gehabe, der den Charme eines Schreibtischtäters hatte, um Mithilfe bei Aufklärung von Banküberfällen bat. Damals ging es darum, den Eindruck permanenter Gefahr im Inneren des Landes zu unterstreichen: Niemand sollte sich sicher fühlen, solange nicht alles unter Kontrolle des Staates stand. Da sollte nicht auffallen, daß die Gründung einer Bank das viel größere Verbrechen, verglichen mit ihrer Ausraubung, war. Der "Big Brother" von Orwell grüßte durch Notstandsgesetzgebungen, später durch den "großen Lauschangriff". Doch die Politik begriff noch nicht, wie sehr Kulturindustrie ihr Werk getan hatte.

Die Kinder der gegen die Notstandsgesetze revoltierenden "Achtundsechziger" sollen nun herrschaftstreu wie deren Eltern gemacht werden. Das alte "Aktenzeichen XY ungelöst" suggerierte eine Gesellschaft, in der kriminelle Außenseiter das Ganze der Gesellschaft gefährdeten. "Innere Sicherheit" war die Losung gegen die Bedrohung. Zum Preis, daß der eine oder andere schon mal den Nachbarn von gegenüber verdächtigte, der schließlich ja auch immer den Müll neben die Tonne stellte. Doch das war nichts Neues für eine deutsche Generation, die in Denunziation geübt war wie weltweit keine zweite.

Deren Enkel lernen dies immer besser. Doch anders als bei der Generation der Großeltern wird heute neu selektiert: Wer nicht den größten Mist lustig findet, gehört nicht dazu. Die Mechanismen der Ausgrenzung sind andere geworden: Körperkult, der Zwang zum Sexappeal, zu Schönheit und ewiger Jugend definiert den kulturellen Raum der Massen, in dem genau darauf geachtet wird, daß niemand ausbricht. "Ich werde gesehen, also bin ich." Mit einem genau austangierten System von Exhibitionismus und Voyeurismus nehmen mittlerweile die Söhne und Töchter der "Achtundsechziger" das elterliche Diktum der Selbstverwirklichung ihrer Eltern allzu wörtlich. Doch anstatt das Jenseits des Bestehenden zu denken, tauchen sie ein: Ihr wollt sie selbst verwirklicht sehen? Mit sicherem Auskommen und erfolgreich? Mit vielen Freunden? Das sind sie. Sie sind so fürchterlich selbstverwirklicht, daß es gar keine Intimität mehr geben darf. Sie sind so verflucht selbstzufrieden und erfolgreich und sehen so verdammt gut aus, daß keine Zeit mehr für Muße bleibt. Diese Generation will sich bis zum Erbrechen und bis zur Unkenntlichkeit selbst verwirklichen, koste es wen es wolle. Es soll die Zeit der Dolce Vita der Angestelltenkultur werden, in der jede Privatsphäre obsolet wird. Nur noch permanente Öffentlichkeit soll das schaffen, was den Autoritäten nie gelang: Die Selbstregulation der Beherrschten. Der kulturindustrielle Krieg tobt.

III.

1984. Sechzehn Jahre später, gut zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des Orwell als Vorlage dienenden Stalinismus, wiederholt sich Geschichte als Farce in der "demokratischen Gesellschaft". Orwell konnte sich nichts schlimmeres als den totalen "Big Brother", den allgegenwärtigen technischen Überwacher, vorstellen. Das Credo im Orwellschen Werk hieß: "Big Brother is watching you". Es ist daran zu erinnern, daß "Big Brother" jahrzehntelang als Sinnbild der totalen Überwachung galt und vor dieser warnte. Doch die Überwachung soll sich umkehren: Nicht der allmächtige Staat durchzieht alle Poren der Gesellschaft, sondern die Unterdrückten selbst sollen zu den Agenten ihrer eigenen Repression werden; ein Bedürfnis nach Manipulation soll die Beherrschten durchziehen. Der Staat spielt nach außen nicht mehr die Rolle des mit dem Schwert drohenden: Der Bundesgeier hängt noch drohend über dem Parlament, um anzuzeigen, daß der Staat bei Bedarf die alte Gewalt herausholen könnte. Das tut er nur noch gegen die kleiner werdende Zahl der Systemgegner - die stören den großen harmonischen Krieg des inneren Friedens. Lächle, wenn Du geschlagen wirst. Und schweige. Aber um Gottes Willen mach mit. Tanz den Techno der Monotonie.

Doch bei allem Wandel im Krieg zur Herstellung der neuen Welt des totalen Marktes: Die Gesellschaft bleibt eine Klassengesellschaft, die sich anschickt, entfremdeter als lange zuvor zu werden. Genau das soll im kulturindustriellen Krieg verschleiert werden, durch die Verherrlichung der Belanglosigkeit als Exklusivität, die Glorifizierung alles Mittelmäßigen. Millionen beobachten sich selbst beim Banalen, als sei die Festsetzung der Durchschnittlichkeit die erstrebenswerteste aller Lebensformen, als sei nur sie des großen Festes würdig. Zehn Menschen wohnen 100 Tage in einem Container, der von Kameras durchzogen ist, während sich ein Millionenpublikum daran macht, diese zu beobachten. Sie sehen: "Gib mal die Milch rüber", "Wo ist denn der Kochlöffel?", "Findest du nicht auch, daß der Sessel schön ist?" Gespickt mit der Vorstadterotik schlafender Menschen exemplarisiert "Big Brother" die Banalität des Einzelnen und seiner Probleme als Kernpunkt der Welt.

Die Regel des Krieges: "life is good as it is". Und wenn die Botschaft weitergetragen wird, dann winkt Geld. Doch man kann wohl vermuten, daß die meisten ohne die Siegprämie nicht den Weg in den Container angetreten hätten. Das Leben des Krieges scheint hintergründig nicht der Ideologie zu entsprechen: Die Darstellung der Isolation folgt dem Mikrokosmos der eigenen Gleichgültigkeit, der Gleichgültigkeit der bürgerlichen Kälte. Die Wochenzeitung Die Zeit stellt dazu fest: "Je mehr Macht und Ansehen einer besitzt, um so mehr neigt er dazu, sein Privatleben hinter den Kulissen zu verbergen."[4] Während die wahrhaft Mächtigen hinter den Kulissen unerkannt bleiben, stehen die kleinen Leute Pate fürs Ganze: Gesellschaft, wie eigenes Leben, darf gar nicht mehr anders als nach den Insignien des Bestehenden gedacht werden.

Orwell erdachte in seinem Buch "1984" ein Wahrheitsministerium, das entschied, was wahr sein sollte und was nicht. Dieses Wahrheitsministerium ist nunmehr die Kulturindustrie geworden. Hemmungslos wird alles eingeebnet und repressiv versöhnt. Solange genug Arme da sind, gibt es genug zu produzieren, was manipulieren soll. Der "Big Brother" hat sich vom totalitären Staat gelöst, er ist in die Massen eingetaucht. Er verhindert und reglementiert den Andersdenkenden, indem er ihn aus deren Mitte ausstößt und das Denken dahin verändert, daß ein Anderes nicht mehr möglich ist. Die alten Autoritäten braucht es nicht mehr in einem subjektlosen Machtsystem. Die neue Form der Herrschaft ist effizienter. Daß es keine Gegenwehr gegens System gab, hatten jene nicht verstanden, hielten sie sich doch fürs System selbst. Sie sind eines besseren belehrt worden, die alten Chargen. Die neuen sind glatt und auswechselbar. Und wenn sie's nicht sind, werden die Kanten geglättet und in die allumfassende, schmierige Scheingleichheit integriert. Darüber wacht Kulturindustrie.

Schlafen sie gut. Ach ja, eins war da noch: "Sollten Fallschirmspringer in den Garten gelangen, gehen Sie ins Haus, verschließen Sie die Tür zum Garten und befolgen Sie die Anweisungen von Big Brother."[5]

Anmerkungen

[1] Keines der Beispiele ist frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Organisationen sind kein Zufall, sondern Wirklichkeit.

[2] Musiksender für Jugendliche, der eine Werbekampagne unter dem Slogan "viva liebt dich" produzierte.

[3] Der große Bruder. Aus dem geheimen Regelbuch für die Mitwirkenden der Endemol-Produktion "Big Brother", in: FAZ Nr. 134 vom 10. Juni 2000.

[4] Ulrich Greiner, Versuch über die Intimität. Vom Ballermann bis zu "Big Brother", vom Internet bis zur Talkshow: Der neue Exhibitionismus grassiert, in: Die Zeit Nr. 18 vom 27. April 2000.

[5] Der große Bruder. Aus dem geheimen Regelbuch, a.a.O.

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