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"Überdies sind unsere Werktätigen eine Gesellschaft, in der Reinheit herrscht…."

von Stefan Janson

Rezension: Alexander Goeb, Das Kambodschadrama – Gottkönige, Pol Pot und der Prozess der späten Sühne – Berichte, Kommentare, Dokumente; Laika Verlag Hamburg 2016, 458 Seiten, 24 Euro

"Die derzeit vorliegenden Ergebnisse sind ziemlich erschreckend. Bisher wurden 20.492 Massengräber, die aus der Zeit des Khmer-Rouge-Regime stammen und über das ganze Land verteilt sind, begutachtet. In Anlehnung an die Daten enthalten diese Massengräber die Überreste von 1.112.829 Opfern, die hingerichtet wurden. Festgestellt wurden 432 Völkermordstätten und 125 Khmer-Rouge-Gefängnisse mit jeweils rund 10.000 Häftlingen. Nach diesen Ermittlungen scheint die schon 1979/80 genannte Zahl von 3,3 Millionen Toten realistischer als die 'amtlich' festgelegte Zahl von zwei Millionen." (S. 287)

Es geht um eines der monströsesten Verbrechen der Neuzeit, das sich nahtlos einreiht in den Holocaust und die Terrorwellen, die unter der Herrschaft Stalins und Mao Tse-tungs ebenfalls Abermillionen von Menschen das Leben kosteten. Der Umgang des sogenannten christlich-jüdischen Abendlandes mit diesem genozidalen Krieg gegen ein Volk ist aber an Ruchlosigkeit kaum zu überbieten: obwohl bereits 1978 offen zu Tage lag, was unter Führung der sich "Organisation" ("Angkar") nennenden kommunistischen Partei an Schlächtereien stattgefunden hatte, wurden die von der vietnamesischen Armee vertriebenen Reste der Khmer Rouge von China, den USA und Großbritannien mit Waffen ausgerüstet oder militärisch ausgebildet (S.255). Der Sitz in der UNO durfte weiterhin von den Repräsentanten der Khmer Rouge eingenommen werden. Es war schließlich Kalter Krieg und das letzte Dezennium der Konkurrenz zwischen Privat- und Staatskapitalismus war angebrochen. So wie die westlichen Mächte sich nicht scheuten, die sogenannten islamischen Mujaheddin in Afghanistan, deren Ansichten und Praxen jeder aufmerksame Zeitungsleser schon damals kennen konnte, großzügig zu unterstützen, so waren die Regierungen der westlichen Hemisphäre allzu bereit, über den menschenverachtenden Totalitarismus der Pol Pot und Co. hinwegzusehen. Man nennt dies: "Realpolitik".

Goebs Buch dokumentiert all dies ausführlich, ebenso wie die Versuche, diese schrecklichen Ereignisse juristisch aufzuarbeiten, breit dargestellt werden. Über eine Million Kambodschaner lieferten Informationen über die Verbrechen im "Demokratischen Kambodscha" Pol Pots. Doch diese Petitionen blieben in Registraturen liegen und wurden erst über zehn Jahre später wieder benutzt, um in den Dörfern und Städten den Verarbeitungsprozess von neuem in Gang zu setzen. Erst ab 2006 versucht ein Khmer-Rouge-Tribunal unter internationaler Beteiligung, die Schreckenszeit zwischen 1975 und 1979 aufzuarbeiten. Dieses Tribunal nennt sich "Außerordentliche Kammern an den Gerichten Kambodschas zur Verfolgung der in der Zeit des Demokratischen Kampuchea begangenen Verbrechen" (nach der englischen Version abgekürzt: ECCC). Schon dieser umständliche Name weist auf die administrativen und politischen Hindernisse hin, die der juristischen Bewältigung dieser Jahre bereitet werden. Verhandelt wird in 4 Verfahren lediglich gegen ein ausgesuchtes Führungspersonal der "Angkar", der Geheimpolizei und des Militärs wie Kaing Guek Eav, Nuon Chea, Ieng Sary, Khieu Samphan, Ieng Tirith, Aom An, Yim Tith oder Im Chaem. Die Elite des neuen Kambodscha ist zu einem Gutteil selber aus den Roten Khmer hervorgegangen und wünscht keine allzu tiefe Durchleuchtung der blutigen Vergangenheit. Das Verfahren ist nach einem Hybrid aus nationalem und internationalem Straf-, Völker- und Verfahrensrecht zu führen und daher sehr langwierig. Man darf also getrost davon ausgehen, dass die Angeklagten allesamt an Altersschwäche sterben werden, im Unterschied zu ihren Opfern, denen dies nicht vergönnt war.

Eine wesentliche Erkenntnis aus dem Buch ist daher, dass eine der gruseligsten Episoden der an gruseligen Episoden nicht gerade armen Geschichte der kommunistischen Bewegung unter aktiver Beihilfe der kapitalistischen Führungsnationen nach wie vor einer grundlegenden Analyse und Aufarbeitung entbehrt. Für die westlichen Medien war nur ein Narrativ wichtig: die bösen Kommunisten hatten in ihrer besonders radikalen, sprich: genozidalen Ausprägung wieder einmal bewiesen, was die geborenen Demokraten der Nordhemisphäre ja schon immer wussten – die revolutionäre Umgestaltung einer Gesellschaft endet immer in Massenmord, mindestens aber Unterdrückung, wenn nicht Terror und immer Gleichschaltung. Wofür ja leider auch alle Fakten der Jahrzehnte nach 1917 ganz überwiegend sprechen.

Das Buch trägt aber leider nur sehr bedingt dazu bei, eine Analyse nach dem Woher der Roten Khmer, nach den Hintergründen und Ursprüngen ihres Hasses auf die Städte und Städter, nach den ideologischen Blaupausen ihrer Terrorherrschaft zu sein.

Gerade das wäre im Sinne einer emanzipatorischen Aufklärung bitter nötig. Der Linken wird dieses "Demokratische Kambodscha" als wohl letztes Beispiel für eine gesellschaftliche Umwälzung vorgehalten werden, die in der Tat in Massenmord, Gewalt und Krieg mündete. Aber nicht nur das: die vier Jahre zwischen 1975 bis 1979 ist in keiner Weise mit den menschenrechtlichen Grundsätzen einer demokratischen Linken zu vereinbaren. Goeb weist auf den Rassismus der Roten Khmer gegenüber Vietnamesen wie auch gegenüber den moslemischen Minderheiten hin. Die meisten der über 3 Millionen Toten starben an Hunger oder Seuchen; Hinrichtungen und innerparteiliche Säuberungen kamen dazu. Geradezu grotesk in Bezug auf die Ziele einer demokratischen Linken: die Abschaffung des Schulwesens, eine durch die Liquidierung der Ärzte provozierte medizinische Unterversorgung in den meisten Teilen des Landes, für die aus den Städten Deportierten wie auch die Bauern ein Arbeitspensum von üblicherweise zwölf Stunden, teilweise sogar bis zu 16 Stunden pro Tag; die Evakuierung der Städte und die Aufhebung jeder Freizügigkeit; keine Telekommunikation (kein Briefverkehr, kein Telefon, kein Fernsehen), kein Markt, kein Geld, ein rigides und Alles in Allem Hunger produzierendes Rationierungssystem, die Vernichtung der intellektuellen Schichten und der Träger buddhistischer und moslemischer Religiosität. Aber wie es scheint, haben das ja nicht kleinste Minderheiten von Kambodschaners bewerkstelligt, die Hundertausende ihrer Anhänger einer Gehirnwäsche unterzogen und so bei der Stange hielten. Goeb weist ausdrücklich darauf hin, dass auch nach dem Einmarsch der vietnamesischen Armee noch lange Jahre ein Bürgerkrieg tobte, in dem beachtliche Teile der Bevölkerung nach wie vor auf Seiten der Roten Khmer kämpften.

Wie also konnte es zu einer solchen "Revolution" kommen? Welches sind die sozialen und ideologischen Grundlagen für diesen Furor? Und für die Linke noch grundsätzlicher: es ist nicht zu bestreiten, dass sowohl der Produktionsprozess als auch der gesamte Staatsapparat fundamental verändert wurden. Die Roten Khmer kamen mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und des Großgrundbesitzes ziemlich weit. Aber was könnte allein daran progressiv oder gar sozialistisch sein, wenn eine Gesellschaft in einer derart selbstmörderischen Apokalypse versinkt? Denn die Roten Khmer kamen auch mit der Ausrottung des eigenen Volkes ziemlich weit. Mit der von Trotzkisten gerne angeführten Figur eines "degenerierten Arbeiterstaat "oder, etwas weniger ambitioniert, einfach nur der Annahme einer "postkapitalistische Gesellschaft", dürfte analytisch wenig gewonnen sein. Welchen Stellenwert hat die Frage nach den Produktionsverhältnissen noch, wenn in der Wirklichkeit solche Monstrositäten ablaufen? Die Frage bleibt also: was war das "Demokratische Kambodscha" der "Angkar"? Goeb liefert immerhin einige Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen.

So hingen die Gründer der "Angkar" der Überzeugung an, das der Marxismus eine besondere Form des Buddhismus sei, jedenfalls in seiner frühen Form als einer klassenlosen Gesellschaft von Gleichen (S. 27). Auf die konkrete, plurale Verfasstheit der kambodschanischen Gesellschaft, auf die konkrete Entwicklung der Produktivkräfte kam es also offenbar nicht an. Auch scheint es eine starke nationalistische und rassistische Unterströmung in der kommunistischen Partei gegeben zu haben, wie Goeb immer wieder hervorhebt. Die Brutalisierung des Krieges insbesondere durch die militärische Intervention und die Flächenbombardements der USA ab 1969, die mit der Zerstörung vieler kambodschanischer Städte im Osten des Landes einherging, führte auch zu entsprechenden Gegenreaktionen der Widerstandskräfte. Weiterhin waren die Roten Khmer offenbar in der Lage, die sozialen Widersprüche – die zugleich Widersprüche zwischen den ethnischen, sozial geschichteten Nationalitäten des Landes waren -auf dem Land dazu zu nutzen, um sich eine breitere Basis unter der Landbevölkerung zu verschaffen: "Es werden nur arme Bauern, Gebirgsbewohner, Bewohner der entlegensten Waldregionen und Dörfer, die vom alten Regime am stärksten im Stich gelassenen rekrutiert. Durch eine geschickte Propaganda erweckt man in ihrem Herzen und in ihrem Geiste einen immer brennenderen Hass und lässt ihn gären, einen unauslöschlichen Hasse gegen die oberen Klassen…"(S.86). Und zu dieser primitiven Form von Egalitarismus passt auch die ideologische Ausrichtung der Menschen auf Ausschaltung solcher Konstrukte wie Persönlichkeit, Individualität und Ego. Und wie in allen totalitären Diktaturen darf auch dies nicht fehlen: eine rigide Form der Unterdrückung freier Sexualität. Der im Buch zitierte Kambodschakenner Francois Ponchaud liefert eine weitere historische Quelle für die Verlaufsform dieser "Revolution": "Für diejenigen, die die Khmer gut kennen, ist diese Maßlosigkeit nichts Neues. Angkor Wat und andere weniger bekannte Monumente wie Koh Kar sind zweifellos weltweit einzigartige architektonische Ensembles, sie veranschaulichen jedoch auch den Größenwahnsinn der alten Könige der Khmer…Die momentanen Anführer der Revolution behalten die Tradition ihrer …Vorgänger bei, jedoch gepaart mit der grausamen Effizienz der Angkor-Herrscher. Sie verkünden heute stolz, weiter gegangen zu sein als ihre chinesischen Freunde, in der kulturellen Revolution, durch die Abschaffung des Geldes, durch die Abschaffung jeglicher Form privaten Besitzes, durch die Beseitigung aller Spuren der alten Gesellschaft."(S.131f) Genau deshalb war die Begeisterung westeuropäischer Maoisten für das "Demokratische Kambodscha" besonders groß. Sie saßen aber gemeinsam einem Irrtum auf: die alte Gesellschaft feierte Wiederauferstehung, wenngleich in einer radikalisierten und extremen Variante, in der die egalitäre Armut der Bauern, der althergebrachte kambodschanische Chauvinismus, der Hass auf die ausbeuterischen Städte amalgamiert wurden. Es ist eine grausame Ironie der Geschichte, dass dies durch Kambodschaner geschah, die im lebendigen Paris der 50er Jahre studieren und promovieren konnten und Zeit fanden, die Lehren der marxistischen "Klassiker" von Marx bis Mao Testung in ihre sehr spezifische kambodschanische Form eines "Sozialismus in einem Land" zu transformieren.

Alles in Allem aber dringt das Buch nicht zu einer soziologischen und politischen Analyse des "Kambodschadrama" vor, und zufriedenstellende Antworten auf die vielen Fragen, die sich für die Jahre zwischen 1975 bis 1979 stellen, sind nicht zu erwarten. Das Verdienst Goebs aber ist, das durch sein Buch dieses düstere Kapitel der Geschichte überhaupt erst einmal wieder an ein breiteres Publikum adressiert wird.

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sopos 5/2016