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Stichwort: Lügenpresse

von Renate Dillmann

 

Mit einiger Genugtuung melden die Sender, Zeitungen und Magazine des Landes, dass das Wort "Lügenpresse" von einer Jury zum "Unwort des Jahres 2014" gewählt wurde. Die Formulierung gilt damit ab sofort als geächtet. Sie sei ein Un-Wort, ein Wort also, das am besten gar nicht mehr benutzt werden soll. Wer künftig – aus welchen Gründen und mit welchen Argumenten auch immer – die Meinungsbildner im öffentlich-rechtlichen Auftrag oder im privaten Gewinninteresse von Medien-Mogulen der Lüge, also der absichtsvollen Verfälschung der Wirklichkeit bezichtigt, stellt sich damit selbst ins Abseits. Und zwar, ob er will oder nicht, in’s rechtsextreme, denn "das Schlagwort habe schon den Nationalsozialisten zur Diffamierung unabhängiger Medien gedient" (aus der Begründung). Erlaubt ist folglich nur "differenzierte" Kritik, die in Auswahl, Darstellung und Deutung der Medieninhalte im schlimmsten Fall Versäumnisse, Einseitigkeiten und unbeabsichtigte Fehler entdecken kann. Germanistische Sprachpolizei und Pressezunft konstruieren damit Hand in Hand einen neuen Maulkorb für grundsätzlichere Kritik.

 

Sie werden es wohl nötig finden am Ende des Jahres 2014. Beispiele? Putin als "Brandstifter", Völkermord in Gaza als "Verteidigung Israels", Putsch und Krieg in der Ukraine als "Regierungswechsel" und "russische Expansion", drei Millionen Arbeitslose und ein immer weiter ausufernden Niedriglohnsektor als "deutsches Jobwunder", der GdL-Streik als "Erpressung", "Machtgier" und "Größenwahn" usw. usf. – von der ganz banalen Desinformation über die beflissen staatskonstruktive Deutung der Welt bis hin zur offenen Kriegshetze nach außen und innen haben die Leitmedien alles im Programm.

 

Pressefreiheit – das ist offenbar die Freiheit der Presse, zu schreiben, was sie im Interesse der deutschen Regierungs- und Wirtschaftselite für nötig hält. Nun hat das im Jahr 2014 nicht so reibungslos geklappt wie bisher. Das Unwort "Lügenpresse" gibt es ja gerade deshalb, weil eine gewisse Entzweiung zwischen den professionellen Meinungsmachern und einem Teil ihrer Adressaten nicht zu übersehen ist – siehe allein die Flut von Leserkommentaren und Blog-Debatten zu den oben zitierten Fällen. Die Reaktion der Presse darauf ist allerdings bemerkenswert. Die Unzufriedenheit mit ihrer Berichterstattung löst weder eine Untersuchung aus, die Druckerzeugnisse und Sendungen auf ihren Wahrheitsgehalt, ihre Richtigkeit bzw. ihre Intention und Parteilichkeit prüft. Noch kommt offenbar eine Auseinandersetzung mit Inhalt und Gründen der (meist nationalistisch motivierten) Unzufriedenheit, die auf der Straße und vor den Bildschirmen geäußert wird, in Frage. Stattdessen werden die Kritiker bezichtigt, einen Anschlag auf die Pressefreiheit zu verüben, und in die Nazi-Ecke gestellt – damit will man dem Volk seine groben Sprüche abgewöhnen.

So bestehen Tagesschau, Bild und FAZ nicht nur auf ihrem Recht, über Inhalt, Auswahl und Darstellung von "relevanten" Nachrichten und vor allem über deren Beurteilung zu entscheiden. Vielmehr verlangt die Lügenpresse dafür auch noch die aufrichtige Anerkennung des deutschen Publikums.

 

Dr. Renate Dillmann ist promovierte Politologin, Journalistin und Medienkritikerin (Schwerpunkt: China-Berichterstattung der deutschen Medien)

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sopos 1/2015