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Über die scheinbare Eindeutigkeit von Geschlecht

Interview

mit Heinz-Jürgen Voss

Cover von Geschlecht – Wider die Natürlichkeit

Im Hinblick zur Debatte über die gesetzliche Regelung zu Intersexualität und Geschlechterbestimmmung, in deren Rahmen die Eintragung des Geschlechts in der Geburtsurkunde seit November 2013 freiwillig wird, veröffentlichen wir ein Interview mit Heinz-Jürgen Voß zu diesem Thema. Voß ist Lehrbeauftragter an mehreren deutschen Hochschulen und hat vielfach zu diesem Thema publiziert, u.a. das Buch "Geschlecht. Wider die Natürlichkeit" (Geschlecht – Wider die Natürlichkeit, 3. Auflage, Schmetterling Verlag, Stuttgart, 2011) Als studierter Biologe beschäftigt sich Heinz-Jürgen Voß auf einer biologisch-medizinischen Ebene mit der Idee der Geschlechterdekonstruktion. Seine kritischen Veröffentlichungen über die gesellschaftliche Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit haben große öffentliche Aufmerksamkeit erregt, da sie die traditionellen Geschlechterbilder grundlegend erschüttern.

F: Warum ist in unserer Gesellschaft die Zweiteilung von Geschlecht so wichtig?

Die Unterscheidung in zwei Geschlechter ist eine zentrale Differenzkategorie der ‚modernen‘ europäischen Gesellschaften, neben ‚Rasse‘ und Klasse. Blickt man historisch vor die europäische Moderne, so stellt man fest, dass ‚Uneindeutigkeiten‘, Ambiguitäten in einem weit größeren Maß selbstverständlich waren, als es heute der Fall ist. Heute, in dieser Gesellschaft werden Menschen hingegen bereits vor der Geburt als ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ erwartet und von Geburt an als Mädchen oder Junge unterschiedlich behandelt. Jeder Mensch wird auf eines der zwei Geschlechter zugerichtet, auch mit Gewalt.

F: Was ist an dieser Einteilung so unnatürlich?

Unter dem Schlagwort ‚Natürlichkeit‘ verbirgt sich eben die Zurichtung von Menschen ganz individuell unterschiedlicher Merkmale unter die großen Differenzkategorien der europäischen Moderne. Biologie und Medizin sahen immer zunächst Pluralität, oder besser Ambiguität, von Merkmalen und versuchten diese in ein Raster von ‚typisch weiblich‘ und ‚typisch männlich‘ zu pressen, das sie zu diesem Zweck erst detailliert entwickelten. Zunächst sollten dabei die Keimdrüsen (Hoden, Eierstöcke bzw. Mischungen daraus) die Ursache für unterschiedliche ‚Aufgaben‘ von Männern und Frauen in der Gesellschaft und die Zurückstellung der Frauen darstellen. Immer wieder kamen Fragen der Erblichkeit mit ins Spiel. Aber es zeigte sich – und es zeigt sich auch heute – bei all den betrachteten Merkmalen, dass eine einfache binäre Unterscheidung in ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ nicht klappt. Das gilt sowohl für die Chromosomen- und genetischen Theorien, als auch für Keimdrüsen, Hormone etc. Biologie und Medizin kamen immer wieder bei Widersprüchlichkeiten an – sie kamen de facto immer wieder an den Punkt, jeden (!) Menschen als ‚weiblich-und-männlich‘ zugleich beschreiben zu müssen.

F: Seit November 2013 gibt es nun eine neue gesetzliche Regelung zum Umgang mit Geschlecht und Intersexualität. Was ändert sich mit ihr?

Bei den Arbeiten der Biologie und Medizin handelt es sich, wie Sie korrekt anschließen, nicht nur um theoretische. Vielmehr spielte immer der Anwendungsbereich eine Rolle. Man versuchte Uneindeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten auszulöschen. Zunächst dachte man auch hier nur theoretisch nach, schlug dann ‚freiwillige‘ Eingriffe vor und ging dann zu Zwangsmaßnahmen über. Bezüglich Geschlecht hieß und heißt dies, dass diejenigen Menschen, die aus dem ‚Typisch-Raster‘ der Biologie und Medizin herausfielen, an die Norm angeglichen werden sollten. Die entsprechenden Theorien und Anwendungsmethoden wurden intensiv seit der Nazi-Zeit entwickelt. Zum Beispiel der 1933 in die NSDAP eingetretene Gynäkologe Hans Christian Naujoks, der bereits 1934 das NS-Sterilisationsgesetz begrüßte, diskutierte in seinem Aufsatz „Über echte Zwitterbildung beim Menschen und ihre Beeinflussung“ ausführlich Möglichkeiten korrigierender operativer und hormoneller Eingriffe bei intersexuellen Kindern. Dieser Hintergrund wird oft vergessen, wenn nur festgestellt wird, dass das Behandlungsprogramm seit den 1950er Jahren in Europa und den USA zur Routine wurde.

Die Eingriffe, um ‚typisches Geschlecht‘ bei intergeschlechtlichen Minderjährigen herzustellen haben sich als sehr problematisch herausgestellt. Deshalb streiten Verbände intergeschlechtlicher Menschen seit Jahrzehnten für das Verbot der geschlechtszuweisenden Eingriffe an intergeschlechtlichen Minderjährigen. Und dieses Verbot setzt die Bundesregierung nicht um. Die Regelung ist aber auch deshalb problematisch, da sie einerseits die Definitionshoheit der Medizin festschreibt. Wenn die Medizin auf ‚Intersexualität‘ erkennt, ‚soll‘ der Geschlechtseintrag offen bleiben. Andererseits ist das ‚Soll‘ problematisch. Da jedes Kind bei Kinderbetreuungseinrichtungen und bei Schulen mit Geschlecht angemeldet werden muss, bedeutet diese Regelung eine Art ‚Zwangsouting‘. Es könnte damit sogar der Druck auf die Eltern noch größer werden, geschlechtsvereindeutigenden Eingriffen zuzustimmen. Deshalb ist weiteres Streiten notwendig – und die Verbände Intersexuelle Menschen e.V., Zwischengeschlecht und Internationale Vereinigung intergeschlechtlicher Menschen geben diesbezüglich für die Bundesrepublik die Richtung an.

F: Welche Entwicklung sehen Sie für die Zukunft als wünschenswert an?

Zunächst ist notwendig, dass die geschlechtszuweisenden Eingriffe bei intergeschlechtlichen Kindern ein Ende haben – sofort! Nicht die intergeschlechtlichen Kinder sind ‚krank‘, sondern ihre intolerante Umgebung – und diese muss von ihrer Intoleranz kuriert werden. Es muss sich also gesellschaftlich das Denken und Handeln verändern: Es muss nun auch in Europa, explizit der Bundesrepublik Deutschland, darum gehen, dass Individualität und Ambiguität von Merkmalen gewertschätzt werden. Dazu gilt es an vielen Punkten anzusetzen: Unter anderem müssen gesetzliche Bestimmungen und gesellschaftliche Realitäten so verändert werden, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob ein Mensch als ‚Mann‘ oder ‚Frau‘ gilt, in Bezug auf die Ressourcen, die dieser Mensch nutzen kann. Genauso sind die rassistischen und antisemitischen Diskriminierungen und Herrschaftsmechanismen endlich zu überwinden – immerhin geht das aktuelle Staatsbürgerschaftsrecht noch auf das Reichsstaatsbürgerschaftsrecht aus dem Jahr 1913 zurück und gleicht ihm in zahlreichen Bestimmungen. Auch hier gibt es bereits zahlreiche konkrete Änderungsvorschläge von migrantischen Selbstorganisationen. Sie geben hier die einzuschlagende Richtung an.

F: Aber die meisten Menschen betrifft das Thema Intersexualität doch überhaupt nicht, sie leben doch mit einem eindeutig zugeordneten Geschlecht, oder?

Und hier möchte ich gern zu den beiden Bänden mit meiner Beteiligung im Schmetterling- Verlag einladen, in denen zentrale Zusammenhänge knapp klar werden. Geschlecht betrifft uns alle. Es spielt für ‚Jungen‘ und für ‚Mädchen‘ eine Rolle für die Möglichkeiten, die sie in der Bundesrepublik haben. Stereotype schränken die Möglichkeiten von uns allen ein. So gelten ‚Jungen‘ als geeigneter für logisches Denken, ‚Mädchen‘ für sprachliche Fähigkeiten – es ist selbstverständlich Quatsch, aber es wirkt. Vertiefend kann ich hier den frei online zugänglichen Aufsatz der Biologin und Geschlechterforscherin Sigrid Schmitz „Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn?“ sehr empfehlen. Intergeschlechtlichen Kindern wird darüber hinaus ein Problem gemacht, mit äußerst gewaltvollen und als traumatisierend beschriebenen und nachgewiesenen medizinischen Behandlungen. Und hier sollten sich alle, auch die nicht von solchen Eingriffen betroffen sind, für die Situation intergeschlechtlicher Menschen in der Bundesrepublik interessieren und engagieren. Einen Punkt möchte ich noch hinzufügen, der oft untergeht: Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, wie auch in rassistischen und antisemitischen Vorurteilen und institutionellen Mechanismen Geschlecht und Sexualität zentrale Rollen spielen. Auch hier gilt es anzugreifen: Wir müssen verstehen, welch zentrale Rollen Geschlecht und Sexualität bei der Zurichtung und Unterdrückung von Menschen in diesem Land spielen.

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sopos 1/2014