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Staatsschutz in Westdeutschland – Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr

Rezension

von Stefan Janson

Dominik Rigoll, Staatsschutz in Westdeutschland – Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr; Wallstein Verlag Göttingen 2013, 524 Seiten

Rigoll befasst sich in seiner als Dissertation vorgelegten Arbeit mit der Frage "nach den jeweils gültigen – oder auch nur geforderten – politischen Zugangsbeschränkungen zum westdeutschen Staatsdienst, also der spezifisch bundesdeutschen Form der Eliterekrutierung und insbesondere ihren Kontinuitäten in der Verwaltung und Justiz der nationalsozialistischen Diktatur. Dabei geht er von 6 Thesen aus, die das innenpolitische Feld der ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik nachhaltig prägten. Zunächst stellt er die Positionierung gegenüber Nationalsozialisten und Kommunisten als den eigentlichen Feinden der Weimarer Republik heraus, während die "einstigen demokratiepolitischen Versager nach kurzer Unterbrechung weitermachen" durften (S. 11)? Rigoll stellt danach einen Zusammenhang her zur Restaurationskritik kritischer Zeitgenossen, deren Ablehnung der Wiederbewaffnung auch darin begründet war, dass "die Remilitarisierung die Renazifizierung nach sich ziehen werde"(S.12). In der dritten These stellt er die Frage, ob nicht der vielbeschworene antitotalitäre Konsens auch Schutzmaßnahmen gegen die vielen NS-Bediensteten erfordert hätte, die nicht den ehrlichen Willen zum Aufbau einer Demokratie im Westteil Deutschlands aufbrachten. Demgegenüber, so die vierte These, seien im Personalkörper gerade die Bediensteten verdrängt worden, die als untadelige Widerständler oder Verfolgte des NS-Regimes eben diesen Willen gehabt hätten. Nicht selten habe dieser Verdrängungsprozess dazu geführt, dass sich auf den leitenden Ebenen des Staatsapparates Menschen etablierten, die unbeschadet ihrer eigenen NS-Belastungen und -neigungen über diejenigen zu urteilen hatten, die erneut ins Fadenkreuz der westdeutscher Verfolgungsmaßnahmen gerieten. Seine letzte These stellt darauf ab, dass die Folgen dieser Weichenstellungen auch noch in der "Extremistenabwehr" der siebziger Jahre spürbar waren, insbesondere weil demokratische Gesinnung und antikommunistische Intransigenz sich der Generation der HJ-Sozialisierten als zwei Seiten derselben Medaille darstellten. Rigoll stellt also auf die Kontinuitäten der "Extremistenabwehr" nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland ab, Kontinuitäten, die sich in der sehr viel harscheren Behandlung von SED- und Kadern des Staatsapparates der DDR nach der demokratischen Revolution 1989/1990 zeigten.

So stringent und diskussionswürdig diese Thesen sein mögen, die Darstellung leidet an dem fast überbordend ausgebreiteten Material und manchem Seitenweg, der es schwer macht, immer den roten Faden nachzuverfolgen, wie er in der Einleitung wunderbar entwickelt worden ist. Zum Teil hätte ich mir auch eine Straffung gewünscht, so beim Kapitel über Helmut Schelskys "Die Strategie der 'Systemüberwindung'. Der lange Marsch durch die Institutionen." Ob diesem Machwerk eine so wichtige Rolle zukommt, wie Rigoll ihm zuschreibt, scheint mir zweifelhaft.

So interessant die Aufarbeitung der Geschichte dieser Seite des "Staatsschutzes in Westdeutschlands" einerseits ist, so sind doch einige kritische Anmerkungen zu machen.
Kritisch zu sehen ist zunächst ihre viel zu stark ausgeprägte Binnenorientierung. Richard Löwenthal, der in dem Buch später im Zusammenhang mit den Aktivitäten des "Bundes Freiheit der Wissenschaften" zu recht kritisch beleuchtet wird, hat in seinem Vorwort zur Neuherausgabe seines Hauptwerkes "Jenseits des Kapitalismus" mit einiger Berechtigung geschrieben, dass auch die Sozialdemokratie nach 1945 im eskalierenden weltweiten Kalten Krieg eine politische – und für ihre Mitglieder auch physische – Überlebenschance nur als "linker Flügel einer von den USA angeführten Front des Westens" gehabt habe.

Rigoll nimmt die vertrackte politische Situation in der jungen Bundesrepublik in dieser Weltkonstellation nicht genug den Fokus. Diese war auch für überzeugte Demokraten wegen der Nachbarschaft stalinistischer Gesellschaftssysteme nicht gerade idyllisch: bis 1947 waren in den östlichen Anrainerstaaten von der DDR bis nach Polen oder Rumänien kommunistische Parteidiktaturen errichtet worden, wurden in den kommunistischen Staatsparteien selbst Schauprozesse veranstaltet, in denen Geist und Methode des Große Terror der Jahre um 1937 in der Sowjetunion wiederauflebte, bis hin zu antisemitischen Verfolgungen gegen "Kosmopolitismus". Ab 1950 bis 1953 erzeugte der von der UdSSR und VR China aktiv unterstützte koreanische Bürgerkrieg, der mit einer Invasion der nordkoreanischen Armee in den Süden des Landes begann, enorme Ängste und begünstigte Adenauers Kurs der Aufrüstung.

In Deutschland selbst zeigte sich in der Durchsetzung einer unter stalinistischer Hegemonie vorgenommenen Vereinigung von SPD und KPD, in der "Berlin-Blockade" und der beginnenden Abriegelung der sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR, dass mit einer demokratischen Zukunft im Osten nicht gerechnet werden durfte. Das hier Großmachtinteressen, der Kampf des Kapitalismus bzw. Staatskapitalismus um die Welthegemonie über die aus der Résistance bzw. antifaschistischen Grundkonsens bis weit in die bürgerlichen Parteien hinein triumphierten, ist zugestanden. Aber all dies gehört zu den Bedingungen, unter denen "Staatsschutz in Westdeutschland" die spezifisch autoritär-bürokratischen, aber doch auch fatalerweise breit konsentierten Formen annahm, wie Rigoll zu recht beschreibt. Die Spaltung der Alliierten und ihre neue Frontstellung im Ost-Westkonflikt wurde so zu einem Glücksfall für die Reetablierung der NS-Belasteten und Hypothek für den Kampf der Linken um Demokratie und ein neues gemeinwirtschaftliches Wirtschaftssystem.

Ein weiteres Dilemma bleibt meines Erachtens unterbelichtet: hätten den die Demokraten und Sozialisten, die die "1945"er in Rigolls Sinne bildeten, ausgereicht, um "damit Staat zu machen?" Die militärische Unterwerfung des Nazismus verdeckte die Fortdauer des nazistischen Grundkonsenses in der Bevölkerung. Die Bemühungen um eine demokratische Reeducation wurden im Kalten Krieg mehr oder weniger aufgegeben. Es gab eben keine Revolution in Deutschland. Und es gab keine Arbeiter- und Soldatenräte als basisdemokratisches, dezentrales Korrektiv. Dies ist der große Unterschied zu 1918. Dies nicht nur wegen der gründlichen Zerschlagung jeden bedeutsameren Widerstandsansatzes durch die Nazis, sondern auch dank der bis zum Kriegsende wirkenden Pazifisierung der deutschen Bevölkerung durch materielle Privilegien gegenüber dem hungernden Rest Europas.

Bis auf eine kleine Anzahl von Antifaschisten und passiv gebliebenen Attentisten war der Staatsapparat insgesamt NS-belastet, wobei in den Spitzen von Verwaltung, Justiz und Politik die ehemals aktiven Feinde der Weimarer Demokratie einen stärkeren Anteil gehabt haben dürften als die "Mitläufer: Ende der Weimarer Republik waren die Jura-, Medizin- und Pädagogikstudenten, in ihrer großen Mehrheit überzeugte Republik- und Demokratiefeinde gewesen. Nebenbei: es ist schon ein Treppenwitz, dass es dieser Generation nach ihrer Niederlage gelang, den Nationalsozialmus als kulturlose Unterschichtsbewegung zu karikieren und so die eigene finstere Rolle daran zu leugnen. Aber es ist schon zu fragen, wie es in der jungen Bundesrepublik hätte gelingen können, einen funktionierenden Staatsapparat ohne eine quantitativ relevante Gegenelite aufzubauen. Die demokratischen "1945er" schwammen in einem Meer aus militärisch besiegter, aber durchaus reaktionär und nazistisch sozialisierter und fortdenkender Bevölkerung und Verwaltung. Die grundlegende Transformation der Mentalitäten in der Bevölkerung durch 12 Jahre massivster rassistischer, antikommunistischer und gewaltverherrlichender Propaganda bildete ja auch in der DDR den Resonanzboden für die Herrschaft derer, die Rigoll als "misstrauische Patriarchen" beschreibt. Hätte es unter diesen Bedingungen eine Chance für ein Konzept gegeben, das man der Beförderung von NS-Tätern u.a. zu Staatssekretären - Globke - in einem Teilstaat durch Adenauer und die CDU hätte realistisch gegenüberstellen konnte?

Eine letzte Kritik: einer näheren Auseinandersetzung hätte meines Erachtens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22.05.1975 bedurft, dass wohl als das zentrale Dokument für die ungebrochene Fortdauer einer autoritär-etatistischen Auffassung vom Staat und seinem Beamtenapparat gelten darf. Dieses Urteil steht im Übrigen auch in einem Widerspruch zu Rigolls positiver Rezeption der Judikatur des Gerichtes aus 1961. Danach hatte sich das Verfassungsgericht die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit einer Partei nicht nur vorbehalten, sondern auch die vorgelagerten innerstaatlichen Feinderklärungen durch die Exekutive relativiert. Das Berufsverbote-Urteil von 1975 schert sich darum nicht mehr.
Selbst in den Leitsätzen wird nun eine mehr als bedenkliche Traditionslinie zur preußischen Treuepflicht der Beamtenschaft erst gegenüber dem Monarchen, jetzt gegenüber "dem Staat" gezogen. Damit wird letztlich "dem Staat" strukturell eine Bedeutsamkeit qua Kontinuität gegeben, wie sie "der Verfassung" nicht eingeräumt wird. Gleichzeitig wird der Beamtenschaft aufgegeben, mehr zu zeigen als "eine nur formal korrekte, im Übrigen uninteressierte, kühle, innerlich distanzierte Haltung gegenüber Staat und Verfassung" (in dieser Reihenfolge, welch ein Skandal!). An diesen Maßstäben gemessen wären 90% der derzeitigen Beamtenschaft zu entlassen. Mehr als 90% der Beamtenschaft allerdings wiederum würden sich mit Sicherheit "in dem Staat, dem (sie) dienen soll, zu Hause fühlen, jetzt und jederzeit." Nicht nur, dass auch hier sogar die Einbeziehung der Verfassung fehlt, muss man sich die Mentalität vor Augen führen, die zu solchen Sätzen führt: Staatsverdinglichung und Biedermeier in einem Satz. Es ist nicht die Verfassung, es sind nicht die demokratischen und Menschenrechte, denen sich der Beamte verpflichtet sein soll, es ist "der Staat"! Das ist die geistige Wiederkehr des Adenauerstaates nach seinem wohlverdienten Ende. Und dies zu einem Zeitpunkt, zu dem die Modernisierungsleistungen der westdeutschen Gesellschaft dabei waren, die Bundesrepublik nicht nur formal, sondern auch mentalitätsmäßig in den Kreis der westlichen parlamentarischen Demokratien zu führen. In diesem Urteil regierte – wie im Übrigen auch zur Legalisierung der Abtreibung – nochmals der "Muff von tausend Jahren", mit allen fatalen Konsequenzen für die Betroffenen. Dieses Urteil hat der Demokratie und der aktiven Auseinandersetzung mit ihren Gegnern geschadet.

Im Übrigen: auch dieses Urteil gibt außer dem beamtenrechtlichen Knüppel des Disziplinarverfahrens kein "Vademecum", wie man denn mit vermeintlichen oder wirklichen Feinden der Verfassung demokratisch umgeht. Hier wurde gedroht und nicht überzeugt! Realistisch wird die Vorstellung, dass 40.000 organisierte Kommunisten in der DKP eine in Millionenstärke existierende Beamtenschaft und den auf ihr aufbauenden Staat aus den Angeln heben könnte, sowieso nur in den Hirnen derjenigen gewesen sein, die sich in einem mythisch aufgeladenen Belagerungszustand versetzt sahen.
Vielleicht hätte ja statt der Inquisition und der damit einhergehenden Abwertung der Verfassung zu einem Abgrenzungsinstrument auch der beharrliche, konsequente Dialog und die ernsthafte Aufklärung über die wirklichen Verbrechen des Stalinismus und Maoismus geholfen – aber dazu hätte es ein paar mehr überzeugter Demokraten gebraucht. Hoffen wir, dass sie in Zeiten einer ernsthaften Herausforderung der Demokratie mehr sein werden!

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sopos 10/2013