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Wissenschaft und Emanzipation: Ernest Mandel (1923-1995)

von Christoph Jünke

Jan Willem Stutje: Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923-1995), Hamburg (VSA Verlag) 2009, 470 Seiten
Manuel Kellner: Gegen Kapitalismus und Bürokratie – zur sozialistischen Strategie bei Ernest Mandel, Köln (Neuer ISP Verlag) 2009, 464 Seiten
Ernest Mandel: Marxistische Wirtschaftstheorie. Schriften 1 [1962/68], Köln (Neuer ISP Verlag) 2007, 805 Seiten

Der vor nun fünfzehn Jahren gestorbene Ernest Mandel war einer der originellsten und produktivsten Denker der linken sozialistischen Bewegung. Seine über zwei Dutzend Bücher und unzähligen Artikel zur politischen Ökonomie des Kapitalismus, zur ökonomischen und politischen Theorie und zu Fragen der Weltgeschichte und Politik, sind in über 30 Sprachen übersetzt und erreichten ungewöhnliche Auflagenhöhen. Mit seiner bemerkenswerten Fähigkeit, die zum Teil schwierigen Feinheiten der marxistischen Kapitalismuskritik in allgemeinverständliche Sprache zu übersetzen (vgl. vor allem seine Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie von 1967 oder seine Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx von 1968), und aufgrund seines offenen Marxismusverständnisses, das die Fallstricke des an Moskau oder Peking orientierten Dogmatismus ebenso vermied wie die theorielose Handwerkelei moderner Sozialdemokraten, beeindruckte er auch politische Gegner, Liberale wie Konservative, beeinflusste weltweit zehntausende junger politisierter Menschen und schulte tausende von politischen Aktivisten. Für Mandel konnte es kein Auseinanderfallen von Theorie und Praxis geben, die marxistische Theorie blieb ihm – altmodisch und doch aktuell – Anleitung zum gesellschaftsverändernden Handeln. Entsprechend verband er beides, den umfassend gebildeten Intellektuellen (er sprach alle großen europäischen Sprachen fließend) und den leidenschaftlichen politischen Aktivisten, den originellen Wissenschaftler wie den fesselnden Redner und schneidenden Polemiker.

Diesen europäischen Weltbürger belgischer Herkunft verband dabei eine ganz besondere Beziehung zu Deutschland und vor allem zur deutschen Linken. Die familiären und politischen Ursprünge dieser besonderen Beziehung lassen sich nun in der Biografie des Niederländers Jan Willem Stutje nachlesen. Mandels Eltern waren in jungen Jahren aus dem osteuropäischen Judentum nahe Krakaus ausgebrochen und hatten sich in den Niederlanden niedergelassen, wo es sein Vater Henri im Textilgeschäft zu ansehnlichem Vermögen brachte. Parallel engagierte der sich im linkskommunistischen Milieu, lernte Wilhelm Pieck und Karl Radek persönlich kennen, ging in der Revolutionszeit 1918 nach Berlin und arbeitete dort im Pressebüro der Kommunistischen Internationale, bis er im Anschluss an die Meuchelmorde an Luxemburg und Liebknecht entsetzt zurück nach Antwerpen ging und sich aus der aktiven Politik wieder zurückzog. Es blieben die Liebe zu Deutschland, die politische Hoffnung auf sozialistische Emanzipation und vielfältige Kontakte.

Dass sein erster Sohn Ernest 1923 sogar in Frankfurt am Main zur Welt kommen sollte, war also nicht ganz überraschend, aber doch eher zufällig. Ernest und sein jüngerer Bruder Michel wuchsen jedenfalls mehrsprachig auf, bekamen intensiven Zugang zur klassischen bürgerlich-humanistischen Bildung und eine entsprechend verwurzelte Liebe für Musik und Literatur mit auf den Weg. Der junge Ernest genoss eine unbeschwerte Jugend – auch als die Familie infolge der Weltwirtschaftskrise einen Großteil ihres Wohlstandes verlor – und galt schon früh als temperament- und fantasievolles Wunderkind, das, so Stutje, immer gewinnen wollte.

Bereits mit 13 Jahren schrieb er Leserbriefe, in denen er die Gleichgültigkeit gegen Ungerechtigkeit anprangerte. Es war Mitte der dreißiger Jahre und im Hause der Mandels fanden zahllose politische Flüchtlinge aus dem faschistischen Deutschland bereitwillig Unterschlupf und der junge Ernest politisierte sich schnell – nicht zuletzt unter dem prägenden Einfluss seines ihn immer intensiv fördernden Vaters. Vor allem das Jahr 1936, die Moskauer Prozesse und der Ausbruch der spanischen Revolution sollte die Familie nachhaltig und im antistalinistischen Sinne beeinflussen. Henri Mandel wurde Förderer und Aktivist der jungen IV. Internationale und der jugendliche Ernest nahm wie selbstverständlich an den Versammlungen und Diskussionen teil. Bald schon verteilte er nicht nur illegale Flugblätter, sondern stellte sie auch her und begann, für sie zu schreiben. Er wurde zum führenden Kader und kurz vor Kriegsende festgenommen, um nach Flucht und abermaliger Festnahme in ein deutsches Arbeitslager verschleppt zu werden – was er in seinem jugendlichen Leichtsinn nicht ganz so schlimm finden konnte, schließlich ermöglichte ihm dies, wie er damals hoffte, vor Ort dabei zu sein, wenn die lang ersehnte deutsche Revolution nach Faschismus und Krieg ausbrechen würde…

Aus der deutschen Revolution sollte bekanntlich nichts werden (dem ostdeutschen Zerrbild derselben ist der junge Trotzkist nie aufgesessen), doch Ende der vierziger Jahre war er wieder da, griff mit Artikeln und Rundreisen auch persönlich in die westdeutsche Linke ein. Am linken Rande der Sozialdemokratie schrieb er in der renommierten Rheinischen Zeitung und wurde anfangs der fünfziger Jahre der spiritus rector der kleinen linkssozialistischen Zeitschrift pro und contra. 1952 veröffentlichte er unter Pseudonym eine kleine Broschüre, in welcher er mit dem sozialdemokratischen Revisionismus eines Carlo Schmid abrechnete, und schon damals enge Verbindungen pflegte zu führenden westdeutschen Linkssozialisten. So war Mandel beispielsweise bereits dabei, als sich Arkadi Gurland, Wolfgang Abendroth und Leo Kofler mit dem linken Gewerkschafter Viktor Agartz und dessen linksradikalem Mitarbeiter Theo Pirker zu einem streng konspirativen Treffen im Sommer 1954 in Köln trafen, um jene Rede auf dem DGB-Kongress kollektiv vorzubereiten, mir der sich Agartz im Oktober 1954 zum Sprecher der gewerkschaftspolitischen Opposition und zur Führungsfigur der ersten Generation der westdeutschen Neuen Linken machte. Während jedoch Gurland, Kofler und Abendroth – in der Erinnerung von Pirker – vor allem über die Verbürokratisierung und Verbürgerlichung der deutschen Arbeiterbewegung dozierten und sich pessimistisch gaben, machte Mandel auf Pirker einen vollkommen irritierten Eindruck: "Er wusste nicht, was er mit diesen komischen Deutschen anfangen soll. Er wollte das auf Weltniveau bringen. Gewerkschaften und Kolonialkrieg und so weiter. Das haben wir nicht aufgenommen, das erschien uns zu früh zu sein."

Mandel gab jedoch nicht auf. Unter dem aufmerksamen Auge des Ostberliner Staatssicherheit, die dem trotzkistischen Verschwörer bereits damals (unter dem bezeichnenden Titel "OV [Operationsvorgang] Abschaum") eine umfangreiche und bemerkenswert lückenlose Beobachtung zukommen ließ, wurde er in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ein treibender Mitarbeiter der Kölner Sozialistischen Politik, dem Sprachrohr der sozialdemokratischen und Gewerkschaftslinken, das – vergeblich – gegen die "Godesbergisierung" anschrieb und organisierte. In seiner belgischen Heimat war er unterdessen bereits damals ein erfolgreicher und einflussreicher politischer Journalist, der von seinen international vertriebenen Artikeln in der gewerkschaftlichen und sozialistischen Presse gut leben konnte und als enger Mitarbeiter des syndikalistischen Gewerkschaftsführers André Renard eine führende Rolle in der sich radikalisierenden belgischen Gewerkschaftsbewegung spielte.

Die frühe und enge Symbiose Mandels mit dem linkssozialistischen Milieu Westdeutschlands wird von Jan Willem Stutje leider nicht erhellt (ebenso wenig wie die Ausspähung Mandels durch Ostberlin). Doch lässt sich das dem auf die Weltzusammenhänge blickenden niederländischen Biografen wohl kaum vorwerfen. Umso bemerkenswerter (um nicht zu sagen: ärgerlicher) ist, dass Elmar Altvater, der der deutschen Ausgabe eine eigene Einleitung über "Ernest Mandel und die deutsche Linke" widmet, noch weniger Worte darüber verliert als Stutje und so tut, als ob Mandel erst Anfang der sechziger Jahre, dank des Engagements junger 60er Jahre-SDS’ler, in Deutschland wahrgenommen wurde. In diesem offensichtlich blinden Fleck spiegelt sich einmal mehr die Ignoranz der zweiten Generation der deutschen Neuen Linken, die glaubten, die marxistische Theorie zurück nach Westdeutschland importieren zu müssen. Auch wenn dies natürlich nicht ganz an den Haaren herbei fantasiert war, so bleibt doch die Tatsache, dass gerade die 60er-Jahre-SDS‘ler in jugendlicher Arroganz den deutschen Marxismus der fünfziger Jahre (vor allem Abendroth und Agartz, Bloch und Kofler) schlicht ignorierten. Das führte dann nicht nur zu politischen Problemen, denkt man an den nachhaltigen Generationsbruch der Neuen Linken in Westdeutschland, sondern auch dazu, zu übersehen, welch zentralen Einfluss beispielsweise der Marxismus Leo Koflers auf den jungen Mandel ausübte, oder später der Ernst Blochs.

Doch wie gesagt: Der Biografie Stutjes ist dies kaum anzulasten. Sein lesenswertes (und angenehm zu lesendes) Buch bietet alles, was eine gute Biografie bieten muss. Es erzählt die Geschichte der Familie ebenso wie die der weltpolitischen Umstände. Es schildert die zentralen Erfahrungen persönlicher wie politischer Art und verdeutlicht die Wechselwirkungen der politischen Konjunkturen mit der Entfaltung des wissenschaftlichen Talents, das sich 1962 in der Veröffentlichung der zweibändigen Traité d’éconmie marxiste erstmals machtvoll niederschlug. Unter dem deutschen Titel Marxistische Wirtschaftstheorie 1968 in der edition suhrkamp veröffentlicht, ist das Werk noch heute von beeindruckendem Charakter. Die übliche Marxsche Textexegese hinter sich lassend, arbeitet sich Mandel in diesem Buch durch das umfangreiche Schrifttum der Sozialwissenschaften der vierziger und fünfziger Jahre, überprüft vor diesem Hintergrund die Gültigkeit und Aktualität der zentralen Erkenntnisse der Marxschen Theorie und bietet so eine so umfassende wie verständliche Einführung in die marxistische Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie, die noch heute mit großem Genuss zu lesen ist. Dass das bei Suhrkamp in den 1970er Jahren in hohen Auflagen vertriebene, aber schon lange vergriffene Werk vom kleinen ISP-Verlag jüngst wieder aufgelegt wurde (als erster Band einer geplanten Ausgabe Gesammelter Schriften) ist deswegen verdienstvoll. Mehr als schade ist jedoch, dass diese Gelegenheit nicht dazu genutzt wurde, das schon 1968 nicht mit ins Deutsche übertragene, theoretisch ebenso anspruchsvolle wie interessante Schlusskapitel "zu den Ursprüngen, zur Entwicklung und zum Absterben der politischen Ökonomie" nun endlich zu übersetzen.

Mit ihrer Rekonstruktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie auf der Grundlage zeitgenössischer Empirie und Geschichtswissenschaft ist die Marxistische Wirtschaftstheorie, an der Mandel (wie uns Stutje berichtet) bereits seit Ende der vierziger Jahre arbeitete, nicht nur ein Teil der beginnenden Marx-Renaissance der 1960er Jahre, sondern auch der Anfang eines originellen Kritikers der politischen Ökonomie des Neokapitalismus. Es ging ihm dabei vor allem, und das hebt ihn von anderen Theoretikern ab, um eine nicht gleichgewichtsorientierte Theorie des Neokapitalismus, um die Erklärung gerade des eruptiven Charakters kapitalistischer Ökonomie. Dies erlaubte ihm in den sechziger und siebziger Jahren die Weiterentwicklung zur Theorie des Spätkapitalismus und speziell die Wiederaufnahme der vorstalinistischen Theorie der langen Wellen, die ihm bereits Mitte der sechziger Jahre ermöglichte, das Ende der Boom-Jahre vorherzusagen. Die lange expansive Welle des Nachkriegsbooms sollte in der Tat Anfang der siebziger Jahre in eine Phase der langen depressiven Welle umkippen, in eine zugespitzte ökonomischen Strukturkrise, die nach Mandel nur durch einen weitgehenden systemischen Schock in eine neue Phase der Expansion umschlagen könne. Es bedürfe hierzu einer drastischen Erhöhung der Profitrate und einer nachhaltigen Erweiterung der Märkte, um die Krise auf kapitalistischem Wege zu überwinden. Hiermit war dann auch Mandels grundlegendes Verständnis der Offensive der marktradikalen Neoliberalen gelegt. Bis zu seinem Tod 1995 blieb er der Überzeugung, dass ein Ende der langen depressiven Welle noch nicht in Sicht sei. Die herrschende Bourgeoisie habe, so Mandel, noch keinen Ausweg aus der Krise gefunden, sie schwanke auch weiterhin zwischen Deregulierungsoffensive und Solidarpakt.

Lernen wir bei Stutje die zentralen Ansätze und Theoreme des Marxisten Mandel kennen und ebenso politisch wie wissenschaftlich einzuordnen, so widmet sich Manuel Kellners parallel erschienene Monografie der vertiefenden Diskussion des Mandelschen Gesamtwerkes.

Wie Stutje ist auch Kellner ein Schüler Mandels, der sich "erst Zug um Zug die nötige kritische Distanz zu seinem Gegenstand erarbeiten musste", wie er selbst freimütig schreibt. Das erlaubt ihm allerdings eine solide Aufbereitung der zentralen Mandelschen Theoreme. Neben der Darstellung der Kapitalismuskritik heißt dies vor allem, dass er Mandels Vorstellungen vom sozialistischen Endziel, d.h. dessen Grundlagen und Elemente einer konkreten Utopie ausführlich behandelt, intensiv auf Mandels Kritik der realsozialistischen Bürokratie – die zweite theoriepolitische Originalität seines Werkes – sowie auf Mandels Versuche der Entwicklung einer sozialistischen Transformationsstrategie für die kapitalistischen Metropolenländer eingeht. Leider geht der evolutive Charakter des Mandelschen Werkes in Kellners systematischer Darstellung partiell verloren. Und man hätte sich des Öfteren mehr wissenschaftliche Aufarbeitung und weniger politisch-journalistischen Stil gewünscht: Mandels Werk wird nur selten eingebettet in andere Diskurse und die meiste Sekundärliteratur sucht man vergebens. Doch wer sich über Mandels Krisentheorie, die langen Wellen des Kapitalismus und die Dialektik der Teilerrungenschaften, den Doppelcharakter der Gewerkschaften und die Strategie der Übergangsforderungen, über Mandels Kritik des Stalinismus, der bürokratisierten Übergangsstaaten und des sozialdemokratischen Reformismus, über seine Faschismustheorie und seine rätedemokratischen Sozialismusvorstellungen usw. usf. einführend und überblickend informieren möchte, wird an diesem Buche nicht vorbeikommen.

Die wissenschaftliche Durchdringung der vielfältigen Themen war jedoch für Mandel niemals eine Leidenschaft des Kopfes, sondern, mit Marx gesprochen, der Kopf der Leidenschaft. Sie bleiben allesamt eingebettet in den Versuch der Neuformulierung einer ebenso theoretischen wie praktischen Strategie der Emanzipation, die sich – wie könnte dies bei einem Trotzkisten anders sein – vor allem an der Entwicklung der vermeintlichen Weltrevolution entlang entwickelte.

Jenen, die Mandel einzig von seinen politisch-theoretischen Schriften kennen, nicht jedoch als politischen Aktivisten, bietet Stutje eine schlüssige Darstellung, welch zentrale Rolle er im Geflecht des internationalen Trotzkismus spielte, nachdem "der Alte" – wie Leo Trotzki von seinen Schülern allgemein genannt wurde – von Stalins Häschern 1940 ermordet worden war. Wer wissen möchte, was es mit den vielfachen Spaltungen der trotzkistischen Bewegung formell und inhaltlich auf sich hatte, findet bei Stutje einen reichhaltigen Über- und Einblick. Man erkennt in Mandel denjenigen, der zu Beginn der sechziger Jahre nicht nur die ökonomischen Wandlungen des Weltkapitalismus genau registriert, sondern auch die Veränderung der politischen Konjunktur. Zusammen mit seinen Führungsgenossen Pierre Frank und Livio Maitan führte er einen Teil der zerstrittenen trotzkistischen Weltfamilie wieder zusammen und beendete deren einseitige Fixierung auf die koloniale Revolution. Auf der Suche nach dem subjektiven Faktor öffnete er in den 60er Jahren die IV. Internationale für die jungen Intellektuellen der Neuen Linken. Er mischte die jugendliche Bewunderung für die kubanische Revolution und den lateinamerikanischen Revolutionär Che Guevara mit dem radikalen Antistalinismus der aufbegehrenden Jugend in und außerhalb der westeuropäischen Kommunistischen Parteien, den bewaffneten Guerilla-Kampf in der Dritten Welt mit der Rebellion der Studierenden.

Anders als die alten Linkssozialisten der fünfziger Jahre fand Mandel so einen direkten persönlichen Kontakt und intellektuellen Zugang zur sog. zweiten Generation der Neuen Linken, auch in Westdeutschland übrigens. So hatte er hier einen direkten und freundschaftlichen Kontakt zu den jungen SDS-Aktivisten Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl u.v.a., aus deren Kreisen schließlich auch seine erste Frau Gisela kam. Er war ein gern gesehener Gast auf SDS-Seminaren und -tagungen vor 68, einer der großen Redner des Vietnamkongresses 1968. Und er hat sie beflügelt, die jungen Berliner Studierenden, denen er als Lehrbeauftragter und Habilitant der FU die Wissenschaft vom Spätkapitalismus beibrachte, bis die Toleranz der sozial-liberalen Koalition platzte. 1972 verkündete Innenminister Genscher ein bis Ende der 1970er Jahre dauerndes Einreiseverbot (entsprechende Einreiseverbote hatte er damals auch in den Ostblockstaaten, den USA, Frankreich, Österreich, der Schweiz sowie in Australien…) und antwortete dem empörten niedersächsischen Kultusminister Peter von Oertzen, einem engen Mandel-Freund seit Mitte der 1950er Jahre, im privaten Gespräch: "Ach, Herr von Oertzen. Glauben Sie nicht, dass ich nicht weiß, was Ernest Mandel geschrieben hat. Gerade das macht ihn so gefährlich." (Die Episode wird jedoch nicht von Stutje erzählt.)

So wurde Mandel zu Beginn der siebziger Jahre ein integraler Teil des linksradikalen "Gauchismus" im so genannten "roten Jahrzehnt". Im Laufe dieses Jahrzehnts erreichte Mandel schließlich auch den Höhepunkt seines Schaffens. Was mit Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung (1972) begann, endete Ende der 70er mit seinen herausragenden Einleitungen ins Marxsche Kapital (als Kontroversen um "Das Kapital" 1991 auch auf Deutsch erschienen) und mit Die langen Wellen des Kapitalismus. Eine marxistische Erklärung (1980). Seine Bücher Kritik des Eurokommunismus (1978), Revolutionärer Marxismus heute (1979/82) und Trotzki. Eine Einführung in sein Denken (1979) schließlich dürfen zu den Meilensteinen politischer Theoriebildung nach 68 gezählt werden.

Integraler Bestandteil dieses Gauchismus war jedoch ein gewisser Voluntarismus, der sich nicht nur an den weltgeschichtlichen Realitäten brach, sondern auch, wie der französische Trotzkist Daniel Bensaid später kritisch reflektierte, „auf unsere schwachen Schultern eine niederschmetternde Verantwortung (lädt) (…) Jeder wird persönlich verantwortlich für das Los der Menschheit. Eine nicht zu bewältigende Last.“

Stutje erzählt uns freimütig von dem bitteren Preis, den der rastlose Weltrevolutionär im Persönlichen zu zahlen hatte, als die weltpolitische Krise des Übergangs von den siebziger zu den achtziger Jahren, das Verebben von Neuer Linker und Dritter Welt-Revolution mit einer auch persönlichen Krise Mandels zusammenfiel. Er konnte nicht damit umgehen, dass seine Frau Gisela seit Mitte der siebziger Jahre an massiven Ängsten und Depressionen litt und zunehmend kränker wurde: „Er war einer reifen Beziehung nicht fähig“, urteilt Stutje etwas lapidar. Im Umbruch zu den achtziger Jahren versandete so nicht nur die weltrevolutionäre Welle nach 68. Auch seine Lebensgefährtin wurde immer kränker und verstarb Anfang 1982. Statt Selbstkritik zu üben, sieht ihn sein Biograf zur Tagesordnung übergehen: „Selbstbetrug und Pragmatismus waren auch in Mandels persönlichem Leben anzutreffen. Die Beziehungen waren selten gleichberechtigt, meist dominiert von Wissenschaft oder Politik – über intime Probleme wurde nicht gesprochen. Auf dem Weg zum Erwachsenen war Mandel auf Widerstand gestoßen. Als er sich im jungen Alter für die Revolution entschied, stand sein Vater im Weg. In den Jahren danach dominierte [Michel] Pablo. Von dessen Bevormundung konnte Mandel sich nur mit größter Mühe befreien.“ Weniger die offenen Worte schrecken hier als vielmehr die Selbstsicherheit, mit der sie vorgetragen werden. Es wird leider nicht deutlich, ob Stutjes doch sehr weitgehende Urteilssicherheit auf einer umfangreichen psychologischen Ausbildung beruht oder auf Material, das er im Buch nicht ausbreitet. Dass alte Weggefährten Mandels, die sich ihm auch persönlich verpflichtet fühlen, bei solchen Passagen auf Distanz zum Buch gegangen sind, ist nachvollziehbar.

War es nun die niedergehende weltpolitische Konjunktur oder waren es die Bedrückungen des privaten Alltags, auf jeden Fall zog sich Mandel zu Beginn der achtziger Jahre ein Stück weit aus der praktischen Politik zurück und verlegte sich aufs Bücherschreiben (beispielsweise einer viel beachteten Sozialgeschichte des Kriminalromans oder einer originellen Arbeit über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs). Doch Ende der achtziger Jahre war er wieder da, im Kampf um eine linke Wendung des Zusammenbruchs des „Realsozialismus“. In seinem Buch über Das Gorbatschow-Experiment analysiert er 1988/89 die Perspektiven und Widersprüche der sowjetischen Reformpolitik unter Gorbatschow, verteidigt in längeren Aufsätzen die Prinzipien einer sozialistischen Planwirtschaft und der trotzkistischen Kritik der spätstalinistischen Systeme. Seine lebenslange kritische Auseinandersetzung mit diesen "sozialistischen" Erziehungsdiktaturen gipfelte schließlich in dem 1992 auf Englisch und erst 2000 auch auf Deutsch erscheinenden Werk Macht und Geld. Eine marxistische Theorie der Bürokratie, in welchem er den Wurzeln der verheerenden Bürokratisierung der Arbeiterbewegung, sowohl in ihren sozialdemokratischen wie auch ihren stalinistischen und poststalinistischen Varianten, auf den Grund geht, und, davon ausgehend, Grundzüge einer zeitgenössischen, gleichermaßen antikapitalistisch wie antibürokratischen Kritik der herrschenden Verhältnisse in Ost und West zu entfalten versucht.

Mandels "letztes Gefecht" nennt es sein Biograf und abermals war der zentrale Schauplatz dieses weltpolitischen Showdown Deutschland, diesmal Ostberlin. In dem Buch findet sich ein Foto, das mehr aussagt als viele bedruckte Seiten: Es zeigt ihn in seinem hellen Trenchcoat und mit einem kleinen Klapphocker bewaffnet am 4.November 1989 auf dem gepflasterten Weg zur Großkundgebung auf dem Platz der Republik. Ein "außergewöhnliches intellektuelles und literarisches Talent" (Stutje) brach sich ein letztes Mal an den Realitäten der Weltgeschichte. Doch wer darüber den Stab brechen möchte, ist nicht dabei gewesen.

"Die zukünftige Funktion des Marxismus", schrieb Mandel 1993, am Ende eines reichhaltigen Lebens und Werkes, "ist identisch mit seiner vergangenen und seiner gegenwärtigen: die wichtigsten Entwicklungsprozesse der Weltwirklichkeit wissenschaftlich zu erklären, um den menschlichen Emanzipationsprozess anzuleiten und zu befruchten, d.h. um einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung einer besseren Welt zu liefern." Wissenschaft und Emanzipation, die Verknüpfung dieser beiden Komponenten ist es, die den Marxismus im Allgemeinen, den Ernest Mandels im Besonderen, so anziehend wie zerbrechlich macht.

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sopos 10/2010