Zur normalen Fassung

Die Verdrängung unserer kulturellen Krise

von Peter Finke

Die Studenten gehen wieder auf die Straße, und die Bundesbildungs- und Forschungsministerin Schavan biedert sich bei ihnen mit der Ankündigung von Bafög-Erhöhungen und dem dummen Satz an, sie hätten insofern Recht, als man bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses "handwerkliche Fehler gemacht" habe. Dies ist das unterste Niveau, auf das man ein schweres Problem hinabstufen kann: mehr Geld und die Beschuldigung anderer. Und es ist der Hintergrund der nachfolgenden Gedanken.

Wenn jemand heute von "der Krise" redet, dann meint er in der Regel die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise. Nur infolge der plötzlichen Schüler- und Studentenproteste fällt jetzt einigen beim Stichwort auch die Krise unseres Bildungssystems ein, und das ist gut. Natürlich gibt es dann auch noch die ewig nörgelnden Warner vor der Umweltkrise, deren bedrohlichste Formen heute der Schwund der biologischen Vielfalt und die Klimakrise sind. Doch das wär’s dann wohl. Noch weiter scheint kaum jemand bei der Krisendiagnose zu gehen, so als ob damit alles Wesentliche erfasst sei, was zurzeit krisenhaft genannt werden muss. Welch ein Irrtum!

Der Irrtum fängt schon damit an, die erkannten Krisen nicht in einen Zusammenhang zu stellen. Was soll schon die Finanzkrise mit der Bildungskrise zu tun haben?! Jene ist von unverantwortlich handelnden Bankern ausgelöst worden, diese von Politikern, die jahrzehntelang fast alles wichtiger fanden als in Kindergärten, Schulen und Universitäten zu investieren. Und dann erst die Umweltkrise. Wenn sie jemand ausgelöst hat, dann am ehesten wir alle miteinander, mit verteilten Rollen, also kein Bürokrat, kein Manager, kein Unternehmer und kein Parteipolitiker allein. Beruhigung durch verteilte Schuldzuweisungen, zugleich Benennung derer, die sich um ihre jeweils eigene Krise kümmern sollen. Wie bequem, dass es immer eine Krise gibt, für die man nicht selber verantwortlich ist.

Alle jene Diagnosen verbleiben an der Oberfläche der wirklichen Probleme. Oberflächliche Diagnosen sind kein Alleinstellungsmerkmal unserer Zeit. Auch früher hat man sich zumeist mit dem unmittelbar Wahrnehmbaren beruhigt. Es verstellt uns die Sicht auf die tieferen Zusammenhänge, und immer, wenn sie unangenehmer wäre als das Naheliegende, lassen wir uns durch dieses gern täuschen. Die Welt und ihre Probleme lösen sich auf diese Weise in die kleinen Provinzen auf, die wir jeweils zu kennen glauben und in denen wir dann unsere jeweiligen Einzellösungen versuchen können. Daran, dass sie unzureichend sind, haben wir uns gewöhnt; es bleibt immer ein Rest von Unzulänglichkeit. So funktioniert Verdrängung.

Das erste, was wir auf diese Weise verdrängen, ist eine sachgerechte Analyse der Problemzusammenhänge. Sie würde uns zeigen, dass wir nicht nur einer Krisenmode folgen, die die jeweils aktuellste Problemsau so mediengerecht durchs globale Dorf treibt, dass sie die weitere Problemherde regelrecht auslöscht. Moden und Medien folgen nicht nur dem Aktualitätswahn, sondern auch einem Verkleidungszwang: Sie kleiden die Welt anders ein, so dass verschwindet, was darunter ist. Der Hinweis darauf, dass es tiefer liegende Probleme gibt, die die aktuellen Problemmoden nur zur Folge haben, wird als lästige Störung empfunden. Alles wird dadurch nur noch schwieriger. Aber es hilft nichts: Wo die Ruhe des Normalen gefährlich wird, ist es Pflicht, sie zu stören.

Zweifellos ist die verschleppte, lange Zeit von den Verantwortlichen nicht erkannte Bildungskrise eine der Ursachen der Umwelt-, Finanz- und Wirtschaftskrise. Eine schlechte, auf Partikularinteressen ausgerichtete und durch fragwürdige herrschende Lehren verfestigte Ausbildung ohne ethisches Fundament erzieht Menschen mit umfassenden Bedürfnissen zu armseligen Spezialisten ohne übergreifendes Bewusstsein und Überblick. Wir haben uns in unseren verarmten Bildungsinstitutionen die Naturwissenschaftler und Techniker, die Fondsmanager und Wirtschaftsführer herangezogen, die in ihren verschiedenen Rollen nun jene Krisen mitverantworten müssen. Insofern ist es konsequent, wenn wir, die dies zugelassen haben, die unangenehmen Folgen nun auch mit ausbaden müssen.

Wenn heute die Schüler und Studenten wieder einmal in Aufruhr sind, so haben sie nicht nur Recht, sondern das Verdienst, auf einen tiefliegenden Missstand hinzuweisen. Doch beunruhigend ist die Eilfertigkeit, mit der ihnen plötzlich viele zustimmen, die zu den Verursachern des Missstands gehören. Dabei denke ich nicht nur an die Politiker, sondern auch – leider – an viele Wissenschaftler. Die politisch geforderte internationale Umstellung der Studien auf das Schema des Bologna-Prozesses ins Bachelor- und Master-Format war mir als Wissenschaftstheoretiker wegen der damit verbundenen Uniformierung, Zeitbeschränkung, Fremdbestimmung und Bagatellisierung der freien Wissenschaft stets unheimlich. Jetzt gehen auch vielen Kollegen die Augen auf.

Das Entscheidende ist aber etwas ganz Anderes. Es ist eine Krise, die noch hinter der Bildungs- und Ausbildungskrise steht und die bis heute von sehr wenigen wahrgenommen wird. Ein Teil dieser Krise ist die Krise unseres Wissenschaftsverständnisses. Dabei geht es um einen Konflikt von Wahrheit und Macht, der sich im modisch gewordenen Begriff "Paradigma" ausdrückt. Wir haben uns von Thomas Kuhn und anderen einreden lassen, dass es "normale Wissenschaft" sei, wenn eine Disziplin auf Zeit einem Musterbeispiel folgt und dann, wenn dies aus zwingenden Gründen nicht mehr geht, es in einer Art Revolution gegen ein neues auswechselt. Dies soll "normal" sein?

Normal ist es nur in dem Sinne, dass wir verbreitet unter dem Eindruck eines scheinbar erfolgreichen Modells von Zeit zu Zeit das kritische Nachdenken zugunsten der Verteidigung des Modells einstellen und uns dadurch gleichsam selber an der Nase herumführen. Wer sich aber fragt, ob dies richtig ist, kann es nicht normal finden. Lebendige Wissenschaft ist die beständige Suche nach der Wahrheit, ein kontinuierliches Wachhalten der Skepsis. Paradigmahörigkeit ist hiermit unverträglich. Sie ist das verhängnisvolle zeitweilige Kleben an Glaubenssätzen, die Macht mit Wahrheit verwechseln. Paradigmen aber sind nicht wahr, sie herrschen. Dieses heute verbreitete Denkmuster von Wissenschaft ist es, was noch vor allen Studien- und Ausbildungsformen für die Bildungsmisere verantwortlich ist, die an der Wurzel vieler unserer Krisen steht. Insofern kratzt auch der Protest der lernbereiten Jugend nur an einer Oberfläche. Neuerliche Studienreformen allein, so nötig sie sind, lösen dieses Problem nicht. Es kann nur von kritischen Wissenschaftlern selbst gelöst werden.

Vor allem haben wir uns von einer Gruppe von paradigmagläubigen Wissenschaften anhaltend an der Nase herum führen lassen, die sich selber gern als eine Quasi-Naturwissenschaft verstehen, den Wirtschaftswissenschaften. Die "Gesetze des Marktes", die sie uns gern als Quasi-Naturgesetze präsentieren, sind tatsächlich nichts als kulturelle Regeln, die wir im Unterschied zu echten Naturgesetzen auch ablehnen oder ändern könnten. Tatsächlich ist jene Ähnlichkeit nichts anderes als eine Wunschvorstellung der Ökonomen, und sie basiert obendrein auf einem Naturwissenschaftsbild des 19. Jahrhunderts; die aktuelle Physik hat sich längst davon verabschiedet. Die Fragwürdigkeit der ökonomischen Lehrsätze ist umgekehrt proportional zu dem Getöse, das um sie gemacht wird. Und leider zum Einfluss, den eine solche Wissenschaft auf die Politik hat.

Wenn Wissenschaftler schon so viele grundlegende Fehler machen, können wir dann von den Politikern, die von ihnen beraten werden wollen, verlangen, dass sie sie vermeiden? Natürlich können wir dies nicht, aber wir müssen von ihnen verlangen, dass sie Reformen einleiten, sobald die Fehler der Vergangenheit erkannt sind. Was aber tun Merkel, Westerwelle, Brüderle & Co.? Sie reden völlig unkritisch von "Wachstum" als einem wahrhaftigen Allheilmittel, einem anzubetenden Fetisch, als ob seit dem Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder nicht mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen wäre. Sie erkennen in den ohne Sinn und Verstand uniformierten Universitäten "handwerkliche Fehler", die sie obendrein denen anlasten, die ihre Bologna-Vorgaben umzusetzen hatten. Sie versuchen, die berechtigte Wut einer Versuchskaninchen-Generation mit Geld zu lindern: fast immer die einzig armselige Strategie, die der Politik einfällt.

Bologna bürokratisiert und ökonomisiert nicht nur die Universitäten, sondern das Wissen, das dort hoch und frei gehalten werden sollte. Die Ökonomie nimmt damit die Wissenschaft, aber auch die Politik ans Gängelband und bestimmt die Richtung, in die wir gehen sollen. Dabei handelt es sich bei ihr um eine der im Wissenskosmos fragwürdigsten Ansammlungen von Lehrsätzen. Nicht Alfred Nobel fand sie seines Preises für würdig, sondern es ist bezeichnender Weise die schwedische Reichsbank, die die Ökonomik lange nach dessen Tod in seinem Glanz bis heute zu adeln versucht. Tatsächlich sind die Wirtschaftswissenschaften für die massivsten Fehlentwicklungen der humanen Kultur nach dem Rückzug des unheilvollen Einflusses der Kirche auf die menschliche Rationalität und dem Beginn der Aufklärung entscheidend mitverantwortlich.

An all den vielen Krisen um uns herum sind sie beteiligt, und dies mit noch unabsehbaren Folgen. Sie sind ihre Miturheber, aber mittlerweile gehören sie auch zu ihren eigenen Opfern. Die globale Krisenkaskade verstärkt wechselseitig ihre Quellen. Die Krise der Finanzen vernichtet das Kapital, das wir für wichtige Zwecke hätten aufsparen sollen. Die Krise der Wirtschaft nimmt den Menschen die Arbeit und mit ihr die Perspektiven von Millionen Menschen, die lohnende Lebensziele sein sollten. Die Krise der Politik gefährdet die Demokratie, die wir eigentlich stärken wollten. Die Krise der Wissenschaft verwirrt unser Wahrheitsverlangen, das sich von niemandem etwas vorschreiben lassen dürfte. Die Krise der Bildung verbaut die Zukunft der nächsten Generationen, die eigentlich die Chance bekommen müssten, es einmal besser zu machen als wir. Und die Krise der Umwelt, die eigentlich unsere Mitwelt ist, verhunzt die natürlichen und kulturellen Lebensgrundlagen auf einem Planeten, den wir erhalten müssen, denn er ist der einzige, den wir haben.

Wenn man alles in einem Wort zusammenfassen will, dann haben wir eine massive kulturelle Krise, die Krise einer global exportierten Kultur: "western civilization". Dies ist der wahre Hintergrund des Verteidigungskampfes des Islam, ja sogar der Aggressionen der Terroristen. Was wir der Welt als Kultur anbieten, sind kaum noch die Ideale des Christentums oder der französischen Revolution, sondern zuvörderst die der Wall Street. Wir erleben zu Recht eine Krise unserer Überzeugungen, dessen, was wir für wichtig, lohnend, erstrebenswert halten.

Unsere Innenwelten haben mithin ähnliche Schäden erlitten wie die, die wir unserer Um- und Mitwelt zugefügt haben; ja: die Umweltkrise ist Ausdruck unserer Innenweltkrise. Die Störung der Landschaften und Ökosysteme ist nur Folge der Störungen in unseren Ziel- und Wertvorstellungen. Insbesondere Ökonomik und Ökonomie waren dabei kulturelle Leit-Verführer. So gesehen haben wir zurzeit tatsächlich die Regierung bekommen, die wir verdienen. Unser wahrer Kulturstaatsminister heißt Rainer Brüderle. Verkörpert er jene Frische, den Aufbruch, die neue Denke, die die Schüler und Studenten fordern? Ist er nicht vielmehr die personifizierte bedrückende Drohung an unsere Gesellschaft, dass sich nichts ändern wird?

Eines ist leider ziemlich gewiss: Wer die verdrängte kulturelle Krise offen legt, sagt, dass die Therapien noch schwieriger werden. Er provoziert, dass die Politiker die Hände ganz in den Schoß legen. Doch diese Einsicht ist kein Grund, die Wahrheit zu verschweigen. Sie zeigt eher die erschreckende Rat- und Hilflosigkeit derer umso deutlicher, die sich gern wissend, umsichtig und tatkräftig geben.

Dr. Dr. h.c. Peter Finke (67) ist emeritierter Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Bielefeld. Er ist 2007 unter dem Eindruck der falschen Universitätsreformen freiwillig vorzeitig aus dem aktiven Dienst ausgeschieden.

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sopos 12/2009