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 NeujahrsgedankenFriedrich Wolff    Schlechte  Nachrichten hat Merkel für 2009 angekündigt, schlechte Zeiten wollte sie nicht  vermelden. Später beruhigte sie: Deutschland ist stark, ist gut aufgestellt.  2009 wird es Wahlen geben. Wenn schon schlechte Zeiten, dann bitte erst nach  den Wahlen. Optimismus ist angesagt. Das Weihnachtsgeschäft war so schlecht  schließlich nicht und die Börse reagiert wieder freundlich. Schon 2009, so läßt  man uns hoffen, kann alles wieder besser werden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ruft zum Jahreswechsel in  Erinnerung, daß die BRD bereits fünf Rezessionen überstanden habe, 1966 um 0,3  Prozent, 1975 um 0,9 Prozent, 1982 um 0,8 Prozent. Zu der vierten 1993 und der  fünften 2003 macht die FAZ keine  Angaben über den Prozentsatz der »Schrumpfung«. Der Autor sagt auch nichts zur  Zahl der damals Arbeitslosen. Klar ist dem Leser: Alle Krisen wurden  überstanden, und danach »boomte« es wieder. Wozu also die Aufregung?
 Die aktuelle Krise sei, so erfahren wir aus den  Medien, eine Finanzkrise, verursacht von gierigen Bankern in den USA, denen  deutsche gefolgt seien. Das müsse künftig anders werden, dann sei alles im Lot.  Von Wirtschaftskrise ist weniger zu hören. Die Kassandrarufe sind verstummt,  die vor kurzem noch die schwerste Krise seit 1929 prophezeiten. Die  Wirtschaftsweisen sagten eine Rezession um mehr als zwei Prozent voraus, der  Chefvolkswirt der Deutschen Bank hielt sogar einen mehrfach stärkeren Rückgang  für möglich. Jetzt ist das kein Thema mehr. Niemand sagt allerdings, die  Propheten hätten sich geirrt. Ruhe ist wieder erste Bürgerpflicht. Die FAZ titelt am 2. Januar: »Schwarzmalen  nicht erwünscht«. Schlechte Nachrichten werden früh genug kommen, hoffentlich  nach den Wahlen.
   Angenommen, die »Schwarzmaler« haben Recht wie der  Yale-Ökonom Robert Shiller, der in der Frankfurter  Allgemeinen Sonntagszeitung am 28. Dezember mit den Worten zitiert wurde:  »Wir stecken in der größten Finanzkrise seit der Weltwirtschaftskrise der 30er  Jahre ...«, was bedeutet das für uns? Shiller meint: »... in historischer  Perspektive war nicht einmal die Weltwirtschaftskrise sonderlich schlimm. In  allen Ländern der Welt funktionierte der Staat noch. Es sind kaum Leute  verhungert, denn es gab Essen aus Suppenküchen. Kriege sind viel schlimmer als  Wirtschaftskrisen.« Na also.Wie schlimm es war, läßt die Statistik der damaligen  Arbeitslosenzahlen erahnen. Sie ergibt folgendes Bild (in Millionen):
                           Jahr       Arbeitslose1926      2,01
 1927      1,327
 1928      1,368
 1929      1,899
 1930      3,076
 1931      4,52
 1932      5,575
 1933      4,804
 1934      2,718
 1935      2,151
 1936      1,593
 Diese  Zahlen sind nicht nur historisch interessant. Die meisten Arbeitslosen wurden  1932 registriert, also drei Jahre nach Beginn der Wirtschaftskrise. Der Zustand  vor Beginn der Krise, also im Jahr 1928 mit 1.368.000 Arbeitslosen, wurde  annähernd erst 1936 wieder erreicht. 
 Beim Vergleich dieser Zahlen mit den gegenwärtigen  ist zu berücksichtigen, daß Deutschland 1929 im alten Bundesgebiet nur 40,107  Millionen Bürger hatte, während die BRD 1971 61,280 Millionen, 1988 61.450  Millionen und 1999, nach Einbeziehung der DDR, 82,163 Millionen Einwohner  zählte. Wenn das kleinere Deutschland also 1932 5,575 Millionen Erwerbslose  hatte, so müßte bei gleichem Ausmaß der Krise jetzt mit einer wesentlich  höheren Zahl gerechnet werden. Andererseits sind die Berechnungsmethoden seit  Jahrzehnten viele Male geändert und die offiziellen Arbeitslosenzahlen stark  gesenkt worden. Millionen Menschen wurden nach und nach herausgerechnet. Die  gegenwärtige Lage läßt sich auch nicht einfach für die kommenden Jahren  hochrechnen. Die Dauer der Krise, die 1929 begann, läßt aber Prognosen, daß  2010 alles wieder im Lot sein werde, als sehr kühn erscheinen.
 Der Blick auf die Zahl der Arbeitslosen in den  früheren Wirtschaftskrisen der BRD läßt gleichfalls Schlußfolgerungen zu. Vor  1990 nannten die amtlichen Statistiker folgende Zahlen:
 Jahr       Arbeitslose
 1966          673.000
 1971          185.072
 1973          273.498
 1974          582.481
 1975      1.074.217
 1979          876.137
 1981      1.271.600
 1982      1.833.200
 1983      2.258.200
 1986      2.228.000
 1988      2.099.600
 Die  Massenarbeitslosigkeit ist folglich seit 1975 auch in Zeiten wirtschaftlicher  Prosperität eine ständige Erscheinung in der Rheinischen Republik gewesen, und  sie hat sich in der Berliner Republik fortgesetzt:                           1991      2.602.2031992      2.978.570
 1993      3.419.141
 1994      3.698.057
 1995      3.611.921
 1996      3.965.064
 1997      4.384.456
 1998      4.280.629
 1999      4.100.498
 2000      3.889.895
 2001      3.852.564
 2002      4.061.343
 2003      4.376.767
 2004      4.381.281
 2005      3.776.425
 2006      4.487.233
 2007      3.776.425
 2008      3.283.021
 Die  amtliche Statistik, mag sie nun durch die Politik geschönt sein oder nicht,  weist aus, daß Massenarbeitslosigkeit auch in Zeiten wirtschaftlichen  Aufschwungs fortbestand. Selbst im »Boom«-Jahr 2007 gab es mit über 3,7  Millionen Arbeitslosen noch mehr als dreimal so viele wie im Rezessionsjahr  1975. Die vergangenen Rezessionen sind mit der gegenwärtigen demnach nicht zu  vergleichen. Die über länger als dreißig Jahre anhaltende hohe Arbeitslosigkeit  läßt auch die Äußerung von Arbeitsminister Scholz aus dem Jahr 2008, daß  Vollbeschäftigung möglich wäre, als Zweckoptimismus erscheinen – jedenfalls  solange die Arbeitslosigkeit nicht endlich mit wirksamen Mitteln bekämpft wird.
 Die  politischen Folgen der Weltwirtschaftskrise für Deutschland sind bekannt. Wie  selbstverständlich taucht deswegen die Frage auf, wie wird sich die  gegenwärtige Krise politisch auswirken. Droht ein neuer Faschismus, oder steht  das Gespenst des Kommunismus vor der Tür? Die FAZ philosophiert im Leitartikel vom 2. Januar 2008 über die  »Systemfrage«. Der Autor rät: »Bevor andere die Systemfrage stellen, sollten es  die Eliten tun.« Die FAZ betrachtet  sich als Blatt für die »Eliten«, aber der Autor verrät den Lesern nicht, wie  die Systemfrage beantwortet werden soll. Sozialismus statt Kapitalismus? Wohl  nicht. Vielleicht aber: Diktatur des Kapitals statt freiheitlicher  demokratischer Grundordnung. Bereits 1997 konnte man in der FAZ lesen: »Die Entfremdung zwischen  Wählern und Gewählten kommt voran, und zwar auf beiden Seiten. Der Abwendung  von unten entspricht die Abwendung von oben, ein ausgeprägtes Mißtrauen der  Regierenden gegen das Urteil der Regierten.« Und weiter: »Wer die Linien, die  sich hier andeuten, weiter auszieht, landet bei einem Bündnis  zwischen den Managern und den Bürokraten,  einem Bündnis, das so stark sein wird, daß kein Bürger dagegen ankommt. Mit den  Römischen Verträgen ist dieser Bund 
  verabredet  worden, in Maastricht wurde er unterzeichnet, in Brüssel wird er praktiziert.  Wenn das Bündnis erst steht, wird es mit der Demokratie in jenem emphatischen  Sinne, der das Wort ausgezeichnet hat, nicht mehr viel auf sich haben. Auch  dann wird noch gewählt, mit großem Aufwand und auf allen Ebenen, doch werden  die Mandate nur noch zum Schein erteilt, denn die Herrschenden wissen, wie sie  die Beherrschten unter Kontrolle halten. Es wird eine neue Gesellschaft  entstehen, in der die alte Klage über dieUngleichheit der Menschen zwar nie verstummt, in der sie aber nichts mehr  ausrichten kann, weil keiner da ist, der sie annimmt und verhandelt.« Die  Mächtigen stellen also schon lange das System in Frage. Den Verfassungsschutz  fürchten sie nicht.
 Die Süddeutsche  Zeitung veröffentlicht eine Serie »Kapitalismus in der Krise« über viele  Ausgaben. Der Inhalt entspricht jedoch nicht immer dem Titel. Die  »sozialistische Tageszeitung« Neues  Deutschland ist zurückhaltender. Sie stellt die Systemfrage nicht. Was die FAZ kann, kann ND nicht. Schon die Lateiner wußten: Was Jupiter darf, darf nicht  der Ochse.
 
 Manche sehen bei dem Gedanken an 1933 eine  faschistische Gefahr heraufziehen. Sie fürchten in dieser Situation die NPD.  Ich denke, diese Partei ist nicht die Gefahr. Bis jetzt setzt die Wirtschaft  noch nicht auf Nazis. Es fehlt auch ein Adolf – bis jetzt. Das Verbot einer  rechten Partei kann überdies leicht zum Alibi für das Verbot einer linken  werden, wie schon in den 1950er Jahren exerziert. Akuter erscheint mir die  Variante, daß die Demokratie demokratisch beseitigt wird. Das Grundgesetz  bietet diese Möglichkeit. Seine durch die Notstandsgesetze von 1968  eingeführten Ergänzungen sehen besonders in den Artikeln 87a und 91 für den  Fall des »inneren Notstands« weitgehende Rechte der Bundesregierung vor. Ein  derartiger Notstand soll bei einer »drohenden Gefahr für den Bestand oder die  freiheitlich demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes« gegeben  sein. Wann eine solche »drohende Gefahr« gegeben ist, entscheidet die  Regierung. Ein Verfassungskommentar sagt dazu: »In den Einzelheiten ist vieles  umstritten« (Seifert/Hörnig), ein anderer (Jarass/Pieroth) vermerkt beispiellos:  »Auf eine Kommentierung wird verzichtet«. Da kann der Bürger sich auf einiges  gefaßt machen. Aus Manfred Görtemakers Geschichte der Bundesrepublik  Deutschland ist zu erfahren, daß »viele in ihnen eine Ermächtigung des Staates  zur Beseitigung der Demokratie sahen«, aber da sie sich als unproblematisch  erwiesen hätten, seien sie inzwischen »weithin akzeptiert«.
 
 Auffällig ist, daß die ökonomische Krise generell  isoliert von anderen gesellschaftlichen Phänomenen betrachtet wird, obwohl es  doch offenkundig ist, daß es auf vielen Gebieten ebenfalls kriselt. Wo kriselt  es eigentlich nicht?
 Die Bürger sind politikmüde geworden; den großen  Parteien laufen die Mitglieder weg, die Wahlbeteiligung ist gering, die  deutsche Demokratie erlebt eine Krise. – Das Rechtswesen, der Stolz der BRD,  ein Rechtsstaat zu sein, liegt im argen. Die Gerichte sind überlastet, auf  einigen Gebieten ist die Justiz so langsam, daß es an Rechtsverweigerung  grenzt, die Gesetzgebung ist hypertroph, das Recht wird vielfach mißachtet.  Justizkrise. – Die medizinische Versorgung ist in der Kritik, den  Krankenhäusern fehlt das Geld, die Ärzte streiken, im Osten droht Ärztemangel,  die Wartezimmer sind voll, weil die niedergelassenen Ärzte nicht ihre volle  Arbeitskraft ausschöpfen, da sie anderenfalls Geld zusetzen. Krise des  Gesundheitswesens. – Die Moral weicht dem Gewinnstreben. – Die Kunst liegt im  Argen, vor allem die vom Staat und den Konzernen geförderte hat sich weit von  den Menschen und ihren Lebensbedingungen entfernt. – Die Kriminalität ist hoch.  – Die Renten sind nicht sicher. – Die Reformen folgen einander, ohne die  Verhältnisse zu bessern. Ist die Parallelität der Krisen Zufall?  Unwahrscheinlich. Alles hängt zusammen, alles treibt einer Lösung zu.
 2009 kann ein Schicksalsjahr werden.
 
 Erschienen in Ossietzky 1/2009 
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