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Radiofeature “Die Kampagne” zensiert

Was sich am 7.7.2008 beim hannoverschen Radio Flora abspielte, dürfte in der Radiogeschichte Westdeutschlands nach 1945 Seltenheitswert besitzen, wenn nicht sogar einzigartig sein.

Als die verantwortliche Redakteurin der Redaktion International, Mechthild Dortmund, zehn Minuten vor Beginn der Sendung das Studio betrat, teilte ihr ein Techniker mit: Auf Anweisung der Sendeleitung habe er ihre Moderation zu überprüfen. Falls sie das geplante Feature „Die Kampagne – Beseitigung eines selbstverwalteten Radiobetriebes in Hannover“ ankündige, müsse er die Übertragung „auf Anordnung des Chefs“ sofort abbrechen. Zunächst stand der Zensor direkt neben dem Mischpult neben der Redakteurin, dann zog er sich in die Technik zurück, um von dort die Sendung zu überwachen.

Mechthild Dortmund sprach zunächst über die Verfolgung von Journalisten und die Unterdrückung der Pressefreiheit in verschiedenen Ländern, kam dann auf die Situation in Deutschland zu sprechen und kündigte schließlich das Feature an. In diesem Augenblick würde die Übertragung abgeschaltet und Rockmusik eingeblendet.

Der Arbeitskreis Regionalgeschichte, der das Radiofeature zusammen mit der Redaktion International produzierte, protestiert gegen die Etablierung der Zensur bei Radio Flora, die Entmündigung der Redaktionen und die Aushebelung des Redaktionsstatuts. Offensichtlich soll der redaktionelle Teil des hannoverschen Bürgerradios zur Übernahme durch die Werbewirtschaft und den Kommerzfunk fit gemacht und über die Hintergründe geschwiegen werden. Das Vorgehen der Sendeleitung von Radio Flora bestätigt eindrücklich die Aussagen des Radiofeatures.

Am Dienstag, den 8.7.2008 konnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Offenen Sendeplatzes „Interpol“, auf den die neuen "Chefs" des Radios rechtlich keinen unmittelbaren Zugriff haben, das inkriminierte Feature senden. Inzwischen wurde es auch von Radios in Darmstadt, Freiburg, Halle und Marburg ausgestrahlt.

Die Dokumentation des Sendeabbruchs ist hier zu hören.

Bei dem folgenden Beitrag handelt es sich um das Manuskript des Radio-Features, das auch angehört werden kann. Hier geht es zum Download.

Die Kampagne

Beseitigung eines selbstverwalteten Rundfunkbetriebes in Hannover

von Hubert Brieden

I. Anfänge: Schaffung von Gegenöffentlichkeit

Die Idee war nahe liegend. Sie fand und entwickelte sich auf Bauplätzen und Straßen. Wollte man der Atomlobby und ihren Verbindungsleuten in Wirtschaft, Regierung und Massenmedien etwas entgegensetzen, mussten neue Wege der Öffentlichkeitsarbeit gesucht und gefunden werden. Das Schreiben von Flugblättern allein jedenfalls reichte nicht mehr aus. Umweltaktivisten aus dem Elsass hatten zum ersten Mal am 4. Juni 1977 einen grenzüberschreitenden – damals noch illegalen – Radiosender im Kampf gegen drei geplante Atommeiler bei Wyhl, Fessenheim und Kaiseraugst eingesetzt. Die Pilotsendung hatte nur 12 Minuten gedauert, aber sie war die Geburt von „Radio Verte Fessenheim“, das später nach langen Auseinandersetzungen zu Radio Dreyeckland, dem ersten Freien Radio werden sollte.

Die Radioaktivitäten im Elsass waren auch in der Anti-AKW-Bewegung im Wendland und in Hannover aufmerksam beobachtet worden. Einige Spezialisten eigneten sich das nötige Fachwissen an und experimentierten mit Schwarzsendern.

Originalton: Radio Freies Wendland 4. Juni 1980

In Niedersachsen wurde 1993 als dritte Säule der Rundfunklandschaft – neben Öffentlich Rechtlichem und privatem – der so genannte Bürgerrundfunk etabliert.

Rund 20 Radiofreunde, vor allem aus dem hannoverschen Atomplenum um den inzwischen verstorbenen Petja Wundenberg, erkannten ihre Chance und gründeten im Mai 1993 einen „Verein Freundeskreis Lokalradio“. Dreieinhalb Jahre intensiver Aufbauarbeit hatten begonnen. Konfrontiert mit einer weitgehend homogenen und monopolisierten Presselandschaft bestand für die Beteiligten kein Zweifel daran, dass die Schaffung von Gegenöffentlichkeit dringend notwendig war. Und zwar nicht nur in den Bereichen Ökologie und Atomkraft, sondern in allen gesellschaftlichen Themen- und Konfliktfeldern. Zugleich sollte das Radio demokratisch organisiert und von den RadiomacherInnen selber kontrolliert werden. Gleich zu Beginn wurde daher sehr viel Wert auf die Erarbeitung eines Redaktionsstatuts gelegt, das als Grundlage der gemeinsamen Arbeit dienen sollte. Es bildeten sich Arbeitsgruppen und die ersten Redaktionen. Als wichtigstes Entscheidungsgremium wurde das Radioplenum – die Vollversammlung aller im Radio Aktiven etabliert. Bis zum Frühjahr 1994 waren auch die technischen Voraussetzungen so weit geschaffen, dass die erste Life-Sendung auf dem Gelände des Veranstaltungszentrums Faust in Hannover-Linden gestartet werden konnte – eine Art Veranstaltungsfunk, der im Laufe der nächsten beiden Jahre noch mehrmals zu unterschiedlichen Anlässen wiederholt wurde, um die organisatorischen und technischen Voraussetzungen für den Radiobetrieb zu entwickeln und zu erproben. Gleichzeitig lernten Dutzende von Menschen das Radiomachen. Und vieles war gefragt: vom Recherchieren, über das Schreiben von Texten, das Anfertigen und Schneiden von Interviews bis zum Sprachtraining. Aber auch mit der Medienpolitik setzte man sich auseinander. Die Radioinitiative entwickelt sich zu einem der größten selbstorganisierten Arbeits- und Bildungsprojekte der Region Hannover. Zur Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit wurde ab April 1995 die Zeitung Megahertz herausgegeben. Trotz zum Teil recht unterschiedlicher Interessen schlossen sich im Frühjahr 1995 drei existierende Radioinitiativen – nämlich Flora, La Mouche und Open Air – zusammen, um ihre Kräfte zu bündeln und beantragten bei der Niedersächsischen Landesmedienanstalt als „Freundeskreis Lokalradio Hannover e.V.“ die Zuteilung der Lizenz für Hannover und Umgebung. Der Verein konnte sich gegen drei weitere Bewerber durchsetzen. Am 10. September 1996 erteilte die Landesmedienanstalt die Sendelizenz für einen fünfjährigen Modellversuch in sechs niedersächsischen Städten: Braunschweig, Göttingen, Hameln, Uelzen/Lüneburg, Wilhelmshaven und Hannover. Am 21. Juni 1997 ging das nichtkommerzielle Radio Flora auf Sendung.

In ihren Publikationen machten die RadiomacherInnen sehr deutlich, dass sie sich inhaltlich und organisatorisch von den anderen Rundfunkanstalten unterschieden. In einem Flugblatt aus dem Jahr 1998 heißt es: „’FLORA’ ist ein basisdemokratisch verfasstes Radio. Das heißt: alle Arbeitsbereiche und Personen sind gleichberechtigt. 17 Redaktionen produzieren in eigener Regie ein Programm mit 61 unterschiedlichen Sendungen. Hier spiegelt sich die Vielfalt der Meinungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte innerhalb des Verbreitungsgebietes wieder. Dies geschieht insbesondere durch die Zugangsoffenheit des Senders. Alle und vor allem die, die sonst nicht zu Wort kommen, haben hier die Möglichkeit, gehört zu werden. Radio von unten, das heißt, denen als Sprachrohr dienen, die sich aktiv in der Region, deren Kultur, Sozialwesen und Politik einbringen wollen.“

II. Geldmangel und die fatalen Folgen der „Professionalisierung“

Für die Gründergeneration war Radio Flora ein politisches Projekt, an dem hoch motiviert und selbstverständlich unbezahlt gearbeitet wurde. Dennoch war man 1995 froh, als die ersten beiden ABM-Stellen durch das Arbeitsamt bewilligt wurden. Jetzt konnten Arbeiten erledigt werden, nach denen sich Ehrenamtliche nicht unbedingt rissen. Und was hätte schlecht daran sein sollen, auch mal für Arbeiten bezahlt zu werden, die man ohnehin machte und mit denen man sich identifizierte? Seit der Lizenzerteilung flossen auch Zuschüsse aus Landesmitteln, die jedoch nicht mal ansatzweise dazu ausreichten, den täglichen Sendebetrieb in Gang zu halten. Also arbeiteten die Redaktionen weiterhin ehrenamtlich. Dennoch waren die finanziellen Rinnsale aus der Landeskasse eine Hilfe etwa beim Umzug ins neue Funkhaus oder bei der Anschaffung neuer Technik. Außerdem, so ließ man die Öffentlichkeit wissen, konnten sieben RadiomacherInnen „auf Teilzeitbasis“ eingestellt werden. Mit der Lizenzerteilung und der finanziellen Förderung habe für Radio Flora „eine neue Zeitrechnung“ begonnen.

Diese Euphorie wurde nicht von allen geteilt. Kritische Stimmen forderten die zeitliche Begrenzung der Stellen und die Rotation des bezahlten Personals, um eine Verselbstständigung der „Professionellen“ zu verhindern. Aus anderen Projekten war zudem bekannt, dass bezahlte Stellen in der Regel zur Demotivierung von Ehrenamtlichen führten. Und war nicht immer postuliert worden, alle Arbeitsbereiche und Personen seien gleichberechtigt? Verstieß die Bezahlung einiger weniger Privilegierter nicht sogar fundamental gegen die gewerkschaftliche Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit? Doch die Einwände und Vorschläge der KritikerInnen verhalten ungehört. Feste Stellen wurden eingerichtet – mit nachhaltigen Folgen.

Ein anderes ambitioniertes Medienprojekt in Hannover – das Kino im Sprengel – schlug bewusst einen andern Weg ein. 2008 feierte es sein zwanzigjähriges Bestehen. In einem Rückblick schrieb das Kinokollektiv: „Mit Erfolg haben wir uns allen gelegentlichen Verlockungen widersetzt, das Kino zu professionalisieren. Und das scheint im Nachhinein gut so, auch wenn die daraus resultierenden Defizite oftmals unsere Arbeit und auch die gute Zusammenarbeit mit uns erschwerten. Noch immer gilt: Bei uns wird aus reiner Leidenschaft für das Kino gearbeitet, keiner verdient auch nur einen Cent dabei. Nur so können wir uns von kommerziellen Erwägungen und Zwängen weitgehend freihalten.“ Der Qualität des inzwischen mehrfach ausgezeichneten Kinoprogramms kam das zugute.

Bei Radio Flora ließen die ersten Konflikte zwischen Ehrenamtlichen und „Professionellen“ nicht lange auf sich warten und die Leidenschaft kühlte merklich ab. The thrill was gone.

III. Zensurversuche

Zum offenen Ausbruch kamen die Widersprüche zum ersten Mal im Dezember 1999 anlässlich einer Glosse, in der sich der Autor polemisch mit einem rassistischen Vorwort im Veranstaltungskalender des Kommunikationszentrum Faust in Hannover-Linden auseinandergesetzt hatte. Durch die Kritik an diesem wichtigen Kooperationspartner, meinte der hauptamtlich arbeitende Koordinator für die Musikredaktionen, entstünde dem Radio schwerer politischer und finanzieller Schaden, der das gesamte Projekt gefährde. Kritisiert wurde darüber hinaus, dass die Redaktion International, wo der Autor der Glosse mitarbeitete, sich während des Nato-Angriffs auf Jugoslawien eindeutig gegen den Krieg positioniert hatte. Der Musikkoordinator stellte den schriftlichen Antrag an das Radioplenum, sowohl den Autor als auch die verantwortliche Redakteurin – beide arbeiteten ehrenamtlich für die Redaktion International – abzumahnen. Da eine Abmahnung aus rechtlichen Gründen gegenüber Ehrenamtlichen irrelevant ist, war klar, dass ein politisches Exempel statuiert werden sollte, um die linke Opposition im Radio mundtot zu machen. In der Debatte wurde zum ersten Mal deutlich, dass bestimmte Sendungen von manchen bezahlten Kräften als Gefahr für Jobs und Geschäftsbeziehungen angesehen wurden.

Die Redaktion International wehrte sich vehement gegen diesen Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit und wurde darin auch von Petja Wundenberg, einem der Initiatoren des Radioprojektes unterstützt, der zum ersten Mal bei Radio Flora einen – wie er an das Plenum schrieb – „Hauch von Ausgrenzung und sogar Spaltung“ bemerkte. Und weiter: „Herausmogeln gilt nicht – jeder muss in der nächsten Zeit deutlich machen, welcher Weg für Radio Flora richtig ist. Dem Weichspülgang fehlt bisher jedenfalls die gemeinsam festgelegte Grundlage. Bis heute ist das Redaktionsstatut Orientierungshilfe und in letzter Konsequenz Entscheidungshilfe in schwierigen Situationen. Für mich müssen jedenfalls die guten Ansätze und gemeinsamen Grundlagen im Statut und auch im Radio wieder stärker hörbar werden. Ein erstes notwendiges Zeichen für das Festhalten an wichtigen Grundsätzen wäre die deutliche Ablehnung des eingebrachten Abmahnungsantrages“.

Nicht zuletzt dank dieser prominenten Unterstützung scheiterte der Antrag und Petja Wundenberg war dann auch der Einzige, der freiwillig seine bezahlte Funktion als technischer Leiter nach drei Jahren zur Verfügung stellte.

Auch in den folgenden Jahren gab es Versuche, Beiträge zu zensieren oder inhaltlich zu beeinflussen, doch die blieben vereinzelt, wurden öffentlich diskutiert und konnten abgewehrt werden.

Zwar hatte das Redaktionsstatut und damit die demokratische Struktur des Radios die erste Bewährungsprobe bestanden, aber bald tauchte ein neues Problem auf: Die Gruppe der bezahlten Arbeitskräfte bildete allein durch ihre ständige Anwesenheit im Radio eigene Informations- und Kommunikationsstrukturen heraus, die immer schwerer durch die Gremien und schon gar nicht durch die Ehrenamtlichen in den Redaktionen kontrolliert werden konnten. Scherzhaft war bald vom „Flurfunk“ die Rede. Doch die Situation war ernst, denn es passierte das, was vorauszusehen war. Immer mehr Ehrenamtliche zogen sich auf Grund der zunehmend unübersichtlichen Entscheidungsprozesse frustriert aus den Gremien zurück. Sowohl in der Programmkonferenz als auch im Plenum bestimmten die Hauptamtlichen, allein schon auf Grund ihres Informationsvorsprungs, die Richtung.

Der Modellversuch Bürgerradio war bis April 2002 befristet. Ein neuer Lizenzantrag musste gestellt werden. Dazu war es notwendig die Programmstruktur zu reformieren. In der jetzt aufbrechenden Debatte zeigte sich wieder einmal, dass die Interessen des Gesamtradios nicht unbedingt die der bezahlten Angestellten waren. Verbissen verteidigten einige ihren Einfluss im Programm und damit die Voraussetzungen für die Verlängerung der jeweiligen Stellen. So war es unmöglich Wortsendungen im Abendprogramm zu etablieren, weil die Musikkoordination dies durch die Mobilisierung aller Musikredaktionen zu einzelnen Plena verhinderte. Das Ergebnis war ein wenig durchdachtes und insgesamt unbefriedigendes Programmschema, das vor allem den Kräfteproporz innerhalb des Radios widerspiegelte. Die Lizenz wurde verlängert und alles ging weiter wie gehabt: Die Hauptamtlichen dominierten zunehmend des Radiobetrieb, während die Ehrenamtlichen sich auf die Produktion der eigenen Sendungen konzentrierten. Für die meisten geriet Radio Flora als gemeinschaftliches politisches und kulturelles Gesamtprojekt immer mehr aus dem Blickfeld. Dennoch verstummte die Kritik zu keinem Zeitpunkt. Besonders die undurchsichtige Stellenpolitik von Vereinsvorstand und Geschäftsführung wurde bemängelt. Zu heftigen Diskussionen kam es 2005, als die Geschäftsführung eigenmächtig Ein-Euro-Jobs beim Arbeitsamt beantragte.

Der Vereinsvorstand – inzwischen teilweise eingebunden in die unkontrollierbaren Strukturen außerhalb der Gremien – war weder willens noch in der Lage das grundlegende Strukturproblem zu lösen, die bezahlten Kräfte in ihre Schranken zu weisen und das Gesamtinteresse von Radio Flora gegenüber den Separat-Interessen zu vertreten. Stattdessen wurde eine Änderung des Redaktionsstatuts durchgesetzt. Begründung: In Zukunft solle verhindert werden, dass einzelne Gruppen ihre Klientel zur Durchsetzung eigener Interessen kurzfristig zu den Plena mobilisieren könnten. Außerdem sollten – und hier wurde es grotesk – die angeblich desinteressierten Ehrenamtlichen zur Gremienarbeit gezwungen werden. Jetzt sollten alle im Radiobetrieb Aktiven eine Mindestzeit auf den Plena absitzen, was durch penibel geführte Anwesenheitslisten kontrolliert wurde. Wer diese Zeit nicht aufbringen wollte oder konnte, verlor sein Stimmrecht. Die Folge: Schon nach kurzer Zeit hatte die Mehrheit der aktiven RadiomacherInnen, darunter auch Gründungsmitglieder, kein Stimmrecht mehr in den Gremien. Ganz im Gegensatz zu den bezahlten Kräften, die sich ohnehin den ganzen Tag in den Büros aufhielten und keinerlei Schwierigkeiten hatten, an den zahlreichen Sitzungen teilzunehmen. Der Vorstand und die Hauptamtlichen waren in den Gremien nun fast unter sich. Das Dumme war: Die Beschlüsse der Gremien konnten gegen den passiven und gelegentlich auch aktiven Widerstand der Ehrenamtlichen nicht mehr durchgesetzt werden.

Im laufenden Programm merkte man von all dem wenig, denn auf die Arbeit der immer noch mehr als 200, nun rechtlosen Ehrenamtlichen war Verlass. Dass die Mehrheit sich nur noch um die eigenen Sendungen kümmerte und kaum noch um die Belange des gesamten Radios und des Vereins, war zwar verständlich, aber dennoch ein schwerer Fehler. In dieser Situation machte die Niedersächsische Landesmedienanstalt durch eine öffentliche Demonstration deutlich, dass sie ohnehin in eine ganz andere Richtung zu marschieren gedachte.

IV. Spielen über die Bande

Auch in Neustadt am Rübenberge, einer Kleinstadt im Norden der Region Hannover, nahe dem Steinhuder Meer arbeitete seit Jahren eine Radioinitiative – das Neustädter Lokalradio. Weil der Gruppe eigene Sendeplätze im Programm von Radio Flora zugesichert worden waren, hatten die Neustädter im Jahr 2002 darauf verzichtet einen eigenen Lizenzantrag zu stellen. Doch die Radiomacher vom Lande waren bei den Städtern aus der niedersächsischen Metropole nicht sonderlich beliebt. Ihr Programm klinge zu sehr nach unkritisch-biederem Mainstreamradio, hieß es, und passe daher nicht zu Radio Flora. Nachdem dem Neustädter Lokalradio Sendeplätze, gekürzt und Gespräche verweigert worden waren, beschwerten die Betreiber sich bei der der Niedersächsischen Landesmedienanstalt. Mit durchschlagendem Erfolg. Nach einem Gespräch mit dem zuständigen Referenten ließ dieser die Presse wissen: „Ich schätze die Hörfunksendungen aus dem Neustädter Studio wegen ihrer Ausgewogenheit und Qualität. Sie sind eine qualitative Ergänzung zum Programm von Radio Flora.“ Im Klartext bedeutete dies: Nach Meinung der Landesmedienanstalt war das Programm von Radio Flora unausgewogen und qualitativ unzureichend, die Sendungen des Neustädter Radios dagegen vorbildlich.

Diese Stellungnahme – ausschließlich in der Neustädter Regionalpresse veröffentlicht – war gerade für Kenner der politischen Szene in der Kleinstadt verblüffend. Hier war nämlich bekannt, dass die Radiomacher über ausgezeichnete Kontakte zur örtlichen Wirtschaft und offiziellen Politik verfügten und deren Vertreter in ihren Sendungen häufig zu Wort kommen ließen. Über die Aktivitäten der Neustädter Alternativszene dagegen schwieg man sich in der Regel aus. Oppositionelle Meinungen kamen selten zu Wort. Selbst über gut besuchte, spektakuläre Veranstaltungen, wurde nicht berichtet. Auch innerhalb des Neustädter Radios wurde diese Angepasstheit kritisiert. Ein Moderator beendete aus diesem Grunde seine Mitarbeit.

Im Zeitungsartikel über das Treffen in der Landesmedienanstalt wurde zudem der Eindruck erweckt, als vernachlässige Radio Flora die Berichterstattung aus der ländlichen Region. Gerade für die Gegend am Steinhuder Meer traf diese Kritik jedoch nicht zu. So produzierte der in Neustadt ansässige Arbeitskreis Regionalgeschichte seit Jahren Radiodokumentationen vor allem zur örtlichen NS-Geschichte und stellte aktuelle Nachrichten zur Verfügung. Gesendet wurden sie im Programm von Radio Flora. Im Neustädter Lokalradio dagegen fanden sie keinen Platz. Eine publizistische Ergänzung zu den übrigen lokalen Medien, wie sie im Niedersächsischen Mediengesetz für den Bürgerrundfunk gefordert wird, stellte das Neustädter Radio also nicht dar. Nachdem gerade dieses Radio von der Landesmedienanstalt öffentlich für vorbildlich erklärt worden war, hätte eigentlich niemand mehr daran zweifeln können, dass Radio Flora schwierige Zeiten bevorstanden.

V. Beginn der Kampagne: Schocktherapie

Am 23. November 2006 informierte die Niedersächsische Landesmedienanstalt per Pressemitteilung über die Ergebnisse einer von ihr beim Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid in Auftrag gegebenen Umfrage zur so genannten Akzeptanz des Bürgerrundfunks. Dabei sei herausgekommen, dass Radio Flora lediglich 0,3% Stammhörer an sich binde. Vierzehn Tage später präsentierte die Behörde ein Papier mit dem Titel „Reichweiten des niedersächsischen Bürgerrundfunks 2006 – Präsentation der Ergebnisse“. Am selben Tag veröffentlichte die Hannoversche Allgemeine Zeitung, herausgegeben vom Madsack-Konzern, der nicht nur den regionalen Zeitungsmarkt dominiert, sondern auch an kommerziellen Radiosendern in Niedersachsen beteiligt ist, einen umfangreichen Artikel mit der ironischen Schlagzeile „Das neue Sendungsbewusstsein“. Und in der Überschrift wurde weiter gefrotzelt: „Die Quote ist im Keller – und die Laune auch: Beim Bürgersender Radio Flora macht man sich jetzt verstärkt Gedanken darüber, wie sich das Interesse der Hörer steigern und zugleich der eigene Anspruch wahren lässt.“

Erst aus diesem Zeitungsartikel erfuhren viele RedaktionsmitarbeiterInnen von der Umfrage. Über die Erhebungsmethoden konnten sie zwar nichts lesen, dafür wurde deutlich gemacht, um was es ging. Aus der Landesmedienanstalt könne man nämlich hören, langsam „sei die Schonfrist für Bürgersender vorbei, würden Anfängerfehler nicht mehr verziehen. Aber weil Flora davon noch zu viele mache, seien die Zahlen nicht gut. Anfang des kommenden Jahres entscheiden die Medienhüter über die Lizenz für Flora nach 2009.“

Damit war die Drohkulisse aufgebaut und die Geschäftsführung reagierte so, wie es von Leuten zu erwarten ist, die Angst um ihren Job haben. Anstatt die Ergebnisse der Umfrage in Ruhe zu analysieren, im Radio zu diskutieren und eine gemeinsame Strategie für die Öffentlichkeitsarbeit und etwaige Reformen zu entwickeln, knickte sie ein. Noch am selben Abend, hieß es in dem Artikel weiter, werde sich zeigen, wie „tief der Schock wirklich sitzt“, dann tage nämlich das „Plenum des ‚basisdemokratischen Senders’ – und entscheidet über eine Kursänderung“. So, als ob diese schon längst feststünde. Anscheinend um zu verdeutlichen, dass es sich bei Basisdemokratie um etwas Unseriöses, Anrüchiges, auf jeden Fall aber Unmodernes handele, hatte der Autor diesen Begriff in Anführungszeichen gesetzt. Dass es etwas Anderes gibt als das subalterne Arbeiten unter einer Chefredaktion, wie er es aus der HAZ gewöhnt war, überstieg offensichtlich seine Vorstellungskraft. Die eingeforderten Änderungen erwartete er daher auch nicht vom Plenum: „Bei den Chefs hingegen hat das große Umdenken längst eingesetzt.“ Dieser Satz war umso erstaunlicher, als es bei Radio Flora keine Chefredaktion gab. Aber der HAZ-Journalist machte gleich deutlich, wen er zu den Chefs zählte: den Geschäftsführer nämlich. Zwar hatte der mit dem Sendebetrieb gar nichts zu tun, war auch nicht befugt für den Verein zu sprechen, sondern war für die Buchführung verantwortlich, konnte aber mit einem Satz zitiert werden, der gut zur anlaufenden Kampagne passte: „Wir müssen durchhörbarer werden“. Dies sei ein Satz, konnte man weiter lesen, „den er eigentlich niemals hätte sagen wollen. Jetzt aber muss es sein, denn sonst verlieren zwölf in Teilzeit beschäftigte Kräfte ihren Job, neun Auszubildende außerdem – von den rund 400 Ehrenamtlichen, die bei Flora zum Teil ihre ersten journalistischen Gehversuche machen, ganz zu schweigen.“

Nun war Radio Flora nicht ins Leben gerufen worden, um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern um Gegenöffentlichkeit herzustellen und denen eine Stimme zu geben, die sonst nicht zu Wort kommen. Doch davon war nicht mehr die Rede. Ehrenamtlich arbeitende Redakteure aus den Abendredaktionen kamen denn auch konsequenter Weise in dem Artikel nicht zu Wort und nicht einmal die genannte Zahl der Ehrenamtlichen stimmte. Aber auf Fakten kam es in der jetzt begonnenen Kampagne gegen den selbst verwalteten Radiobetrieb ohnehin nicht mehr an. Reden wir also über Fakten.

VI: Repräsentative Manipulation

Im Zentrum der Kampagne stand die Behauptung, Radio Flora erreiche nur noch 0,3% Stammhörer, deshalb – so die anschließende Forderung – müsse dringend eine Programmreform durchgeführt und das Angebot vor allem tagsüber „durchhörbarer“ werden. Wie war das Bielefelder Meinungsforschungsinstitut TNS-Emnid auf diese Zahlen gekommen? Insgesamt waren in Niedersachsen zur Ermittlung der „Reichweite“ sämtlicher Bürgerrundfunkanstalten bei 9000 Personen computergestützte Telefoninterviews durchgeführt worden. Pro Empfangsgebiet waren 500 Personen ab 14 Jahren aus Privathaushalten interviewt worden, die über einen Festnetzanschluss verfügten und deutsch sprachen. Diese Zahl, so wurde von der Landesmedienanstalt behauptet, sei ausreichend, um repräsentative Ergebnisse zu erzielen. Zwar bietet TNS-Emnid zur Untermauerung der Ergebnisse auch Untersuchungen mit 1000 und 2000 Telefoninterviews an, diese wären, hieß es in der Landesmedienanstalt, aber zu teuer gewesen.

Wissenschaftler, die sich seit Jahren systematisch mit den angewandten Methoden von Meinungsumfragen befassen, halten insbesondere Telefonumfragen inzwischen aus grundsätzlichen Erwägungen nicht mehr für repräsentativ. Dies aus mehreren Gründen:

1. Immer weniger Leute lassen ihren Festnetzanschluss ins Telefonbuch eintragen. Die dadurch notwendige Generierung von Telefonnummern birgt große Unsicherheiten, weil diese Nummern nicht mehr unbedingt den jeweiligen Untersuchungsgebieten zugeordnet werden können.

2. Seit Jahren wächst die Zahl der Personen, die Mobiltelefone benutzen und über keinen Festnetzanschluss mehr verfügen. Nummern von Mobiltelefonen werden selten in Telefonbüchern verzeichnet, wechseln häufig und sind kaum einem Untersuchungsgebiet zuzuordnen.

3. Immer mehr Festnetzkunden verweigern grundsätzlich Auskünfte am Telefon.

Der Soziologe Markus Tiesmeyer, der sich im Rahmen einer Forschungsgruppe an der Universität Bielefeld intensiv mit diesen Fragen beschäftigt, hebt besonders den letzten Punkt hervor und kommt zu dem vernichtenden Urteil: „Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass man mit klassischen Meinungsumfragen zunehmende Schwierigkeiten haben wird. Es hat damit zu tun, dass es eine immer größere Anzahl an Auskunftsverweigerern gibt. Beispielsweise werden bei Telefonumfragen nur noch Ausschöpfungsraten von 30 Prozent erreicht. Das heißt also 70 Prozent aller angerufenen Personen verweigern aus welchen Gründen auch immer die Auskunft.“

In der Niedersächsischen Landesmedienanstalt scheinen diese und andere neue Forschungsergebnisse nicht zu Kenntnis genommen worden zu sein. Oder man wollte sie nicht zur Kenntnis nehmen.

Zu diesen grundsätzlichen Bedenken gegen Telefonumfragen kamen weitere Ungereimtheiten, die mit dem spezifischen Untersuchungsgegenstand Radio Flora und der Region Hannover zu tun haben:

1. Mit der Begründung, Radio Flora sei nicht in allen Teilen der Region Hannover ausreichend zu empfangen, wurden die Telefoninterviews lediglich in einigen ausgewählten Gebieten durchgeführt und nicht in der gesamten Region. Wieso auch auf Interviews in Gegenden verzichtet wurde, wo Flora gut zu empfangen ist, bleibt unerfindlich.

2. Von Anfang an arbeitet im Radio eine Vielzahl von muttersprachlichen Redaktionen, die eine feste und zum Teil recht große Hörerschaft an sich binden und in ihre jeweiligen Communities eingebunden sind, was man an zahlreichen und vielfältigen Reaktionen auf die Sendungen feststellen kann. Radio Flora deckt damit als einziges Massenmedium in der Region das spezifische Bedürfnis der großen hannoverschen Immigrantengemeinschaften ab. Genau diese Hörerinnen und Hörer aber, die in der Industriestadt Hannover einen nicht unwesentlichen Teil der Bevölkerung ausmachen, blieben merkwürdigerweise in der Emnid-Umfrage unberücksichtigt, da nur deutschsprachige Festnetzbenutzer befragt wurden. Besonders die MitarbeiterInnen aus den muttersprachlichen Redaktionen fühlten sich durch dieses Versäumnis nicht ernst genommen, ausgegrenzt und warfen den Autoren der Studie Einäugigkeit und Einseitigkeit vor. Manche sprachen gar von rassistischem Denken, das hier zum Ausdruck komme.

Fazit: Bis heute gibt es – entgegen allen Behauptungen der Landesmedienanstalt und der Presse – keine ernstzunehmende repräsentative Untersuchung über die Hörerschaft von Radio Flora. Aber zur Fortsetzung der Kampagne reichte die Emnid-Umfrage allemal.

VII. „Durchhörbarkeit“ oder: Wann duscht „der Hörer“?

Die Drohung mit der Nichtverlängerung der Sendelizenz führte sowohl auf Vorstands- und Geschäftsführungsebene als auch unter den bezahlten Arbeitskräften zu hektischen Aktivitäten. Die Emnid-Untersuchung wurde in dieser Fraktion des Radios zu keinem Zeitpunkt kritisch hinterfragt, ihre Ergebnisse für bare Münze genommen. Von Fraktion zu reden ist spätestens seit diesem Zeitpunkt um die Jahreswende 2006/2007 angebracht, denn das Vorgehen der Landesmedienanstalt im Verein mit den örtlichen Medien musste die ohnehin vorhandene Spaltung im Radio zwangsläufig vertiefen.

Eine Programmreform müsse umgehend durchgeführt werden, hieß es aus der Chefetage, die es laut Redaktionsstatut ja eigentlich gar nicht gab, die sich aber bereits so gerierte, wie es von ihr erwartet wurde. Von der „Quote“ war immer häufiger die Rede. Besonders die Tagesprogramme müssten „durchhörbar“ werden, d.h. „der Hörer“ – wie es immer häufiger hieß – solle das Radio möglichst den ganzen Tag nicht mehr abschalten. Um dieses Ziel zu erreichen müsse besonders das Tagesprogramm anders strukturiert werden, die Musik gefälliger klingen und einem vermeintlichen Massengeschmack angepasst werden, und die Wortbeiträge müssten kürzer werden. Wieder einmal wurden wissenschaftliche Analysen nicht zur Kenntnis genommen. Bereits 2001 hatte beispielsweise das „Institut für Medienforschung“ in einer vergleichenden Analyse der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunksender in Niedersachsen festgestellt: „Die bei den Betreibern kommerzieller Hörfunkprogramme immer noch grassierende Angst, informierendes Wort führe zu einem Abschaltimpuls beim Publikum, gehört in die Kategorie moderner Medienlegenden.“ Die Frage wieso sich Radio Flora, das unter anderem angetreten war, um Minderheiten eine Stimme zu geben, um eine Hörerquote kümmern müsse, stellten sich die „Modernisierer“ nicht mehr. Genauso wenig wie die Frage, ob es überhaupt wünschenswert sei, zum bewusstlosen „Durchhören“ des gesamten Tagesprogramms zu animieren. Und widersprach die angestrebte „Durchhörbarkeit“ nicht dem oft verkündeten Lernziel „Medienkompetenz“? Doch Logik war von Anfang an nicht die Stärke der Quotenvertreter gewesen. Sie reagierten aus Angst.

Als die Geschäftsführung dann ein Papier vorlegte, in dem sie versuchte „den Hörer“ zu definieren, nahm die Diskussion bizarre Züge an. Unter anderem heißt es dort: „Morgens ist der Hörer oft in Eile, duscht sich und zieht sich an, kocht Kaffee, macht das Frühstück, packt noch dieses und jenes zusammen, zieht die Kinder an, macht für sie Frühstück und Pausenbrot, bringt sie zur Schule o. Schulbus und fährt anschließend selber zur Arbeit o. arbeitet zu Hause, muss eventuell noch Erledigungen machen. Kurz, allerhand zu tun hat er, der Hörer am Morgen. Für uns ein Grund, morgens ein knackiges und spritziges Morgenmagazin mit einer umfassenden aktuellen Nachrichtenlage und kurzen Beiträgen und O-Tönen bereitzuhalten.“

Inzwischen hatte sich eine Gegenposition formiert und die Vorgänge im Radio öffentlich gemacht. Das Magazin International am 29.1.2007: „Von dem Hörer ist die Rede, wenn die vielen gemeint sind. Hörer und Hörerinnen, Alte und Junge, Angestellte und Arbeiter, Erwerbslose, Arbeitslosengeld II-Empfänger, Akademiker und Handwerker, Einwanderer und Eingeborene, Tagaktive, Nachtaktive usw. usw. Die Vielfalt der Menschen, die Radio Flora hören oder hören könnten wird heruntergebrochen auf einen Menschen, genauer: auf das Bild von einem Menschen. Sprachwissenschaftler nennen so etwas daher den personifizierenden und allegorisierenden Singular. Man kennt ihn vor allem aus der Militärsprache zur Markierung des Feindes: z.B. der Russe, der Engländer etc. Der in der NS-Zeit als Jude verfolgte Philologe Viktor Klemperer hat über diese besondere Form des Singular geschrieben: ‚Das oberste Gesetz lautet überall: Lass deine Hörer nicht zu kritischem Denken kommen, behandle alles simplizistisch! (…) bringe die vielen auf einen Nenner, klammere sie zusammen, gib ihnen Gemeinsamkeit’.“

Die Opposition legte einen Gegenvorschlag zur Reform von Radio Flora vor mit dem Titel „Die Alternative“: Demnach sollten einerseits die Stärken des Radios gefördert werden, die vor allem in den Wort- und Musikredaktionen lägen und anderseits der bürokratische, unkontrollierbare und teure Verwaltungsapparat abgebaut werden. Die Tagesprogramme sollten durch die Redaktionen bestückt werden, um so die Einstellung bezahlter Moderatoren zu verhindern, wie es die Cheffraktion vorgeschlagen hatte. Außerdem verwies man auf die Ziele von Radio Flora, nämlich Gegenöffentlichkeit zu schaffen, Minderheiten zu Wort kommen zu lassen und Medienkompetenz zu schaffen, man wolle kein durchhörbares Programm, sondern ein Einschaltradio sowie mündige Hörerinnen und Hörer.

In den folgenden Wochen eskalierte die Auseinandersetzung. Vorstand und Geschäftsleitung verstärkten ihre Angstkampagne und warfen der Opposition vor, sie gefährde die Existenz des Radios, die Landesmedienanstalt wolle die Reformen und fordere außerdem noch Radio Flora müsse „übersichtlicher“ werden, andernfalls würde die Lizenz nicht verlängert. Zwar hatte ein Vertreter der Landesmedienanstalt inzwischen öffentlich beteuert, seine Behörde mache „keinerlei Vorgaben in Richtung ‚Durchhörbarkeit’“, doch die Vorstandsetage behauptete, hinter den Kulissen werde ganz anders geredet als in der Öffentlichkeit. Als dann durch eine Indiskretion noch bekannt wurde, dass man bereits darüber nachdachte, die basisdemokratische Verfasstheit des Radios zur Disposition zu stellen, war die Entrüstung groß. Mit Geschäftsordnungstricks und zunehmend repressiven Mitteln – beispielsweise Stimmrechtsentzug auf Radioplena – versuchte man die Kritiker zum Schweigen zu bringen. Doch alle Bemühungen, den tatsächlichen oder vermeintlichen Wünschen der Landesmedienanstalt nachzukommen, waren umsonst: Im März 2007 entschied die Aufsichtsbehörde die Lizenz nicht zu verlängern und erhöhte damit den Druck auf das ungeliebte Radio noch einmal, das sich jetzt neu bewerben musste.

VIII. Der neue Chef, der dritte Mann und die Beseitigung der Selbstverwaltung

Nachdem im März 2007 der Vereinsvorstand im Freundeskreis Lokalradio Hannover e.V. ausgewechselt worden war kehrte zunächst Ruhe im Radiobetrieb ein – zumal den Neuen großes Vertrauen entgegengebracht wurde. Alle waren bemüht, bei der Reform des Radios konstruktiv zusammenzuarbeiten. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Vorstandes keimten jedoch auf, als ein neuer Sendeleiter eingestellt wurde, der in der Regenbogenpresse und im Kommerzfunk sozialisiert war und, wie es schien, über keinerlei Erfahrung mit dem Bürgerrundfunk verfügte.

Per E-Mail-Verteiler kommentierte der neue Mann die dürftig bezahlten Moderatoren oder wies sie zurecht und versuchte so, seine Position zu festigen sowie dem Tagesprogramm seine spezifische Vorstellung von Radio aufzudrücken. Bei den alteingesessenen Redaktionen, die ab 18 Uhr sendeten und nach wie vor ehrenamtlich arbeiteten stieß er mit seinen Chefallüren und Eingriffen in die Redaktionsautonomie allerdings schnell auf Widerstand. MitarbeiterInnen aus den Büros beklagten sich über den rüden Umgangston und zahlreiche HörerInnen beschwerten sich über die Verflachung des Tagesprogramms. Die Strukturen des nach wie vor demokratisch verfassten Radios hätten gerade in dieser prekären Situation eine Sendeleitung mit ausgeprägter sozialer Kompetenz und integrativen Fähigkeiten erfordert. Doch genau daran mangelte es nach Meinung vieler RadiomacherInnen der neuen Führungskraft. Die Kommunikation mit den Abendredaktionen kam weitgehend zum Erliegen. Wie gehabt, versuchten die Chefs die Unruhe durch Zensurmaßnahmen zu begrenzen. Der bezahlte Musikkoordinator wurde wegen einer flapsigen Bemerkung zur Landesmedienanstalt während eines Bandinterviews entlassen. Außerdem bekam er Hausverbot. Kritische Stellungnahmen wurden regelmäßig aus dem Funkhaus entfernt. Die Folge: Der Riss zwischen Tages- und Abendprogramm vertiefte sich zusehends. Viele MitarbeiterInnen rätselten, wie es zu dieser Fehlbesetzung hatte kommen können. Die Antwort bekamen sie einige Zeit später, als Interna über die Verhandlungen der Landesmedienanstalt mit den Bewerbern für die ausgeschriebene Sendelizenz bekannt wurden.

Neben Radio Flora hatten zwei weitere Bewerber einen Antrag auf Zuteilung der Sendelizenz gestellt: Das Lokalreadio Neustadt und ein bis dahin weitgehend unbekanntes „Radio Team Niedersachsen“. Bald hieß es, dieser dritte Bewerber habe – ähnlich wie die neue Sendeleitung bei Radio Flora – mit Bürgerrundfunk bislang nichts am Hut gehabt und sich vor nicht allzu langer Zeit um die Lizenz für eine erstmals ausgeschriebene Kommerzfunkfrequenz in Hannover bemüht. Die kleine Gruppe um Andreas Kuhnt – ehemaliger Bildzeitungsredakteur und Moderator bei den Privatsendern ffn und Radio 21 – hatte für die Deutsche Messe AG, für Hannover Airport und das hannoversche Schützenfest Werbe- und Veranstaltungsradios betrieben. Kuhnt betätigte sich darüber hinaus als Mitinhaber der Agentur Kuhnt & Co, (später: Konzept.Kommunikation) und moderierte im Kommerzfernsehen TV Travel Shop ebenso wie auf Messepräsentationen und Galaveranstaltungen für Hapag-Lloyd, Panasonic, Siemens, TUI, VW und andere Unternehmen.

Verwundert fragten sich Beobachter, wieso sich ausgerechnet die fest in der Werbewirtschaft verwurzelte Kuhnt-Crew für das nichtkommerzielle Bürgerradio interessierte. Das Erstaunen wurde aber noch größer, als sich in den Verhandlungen der drei Bewerber mit der Landesmedienanstalt abzeichnete, dass die Behörde die Werbeleute unbedingt mit im Boot haben wollte und auf eine Einigung zwischen Bürgerradios und „Radio Team Niedersachsen“ drängte. Vom Vorstand des Flora-Trägervereins war zu erfahren, dass man Wert darauf lege, in die Verhandlungen auch die Sendeleitung mit einzubeziehen. Der Mann vom Kommerzfunk schien gut geeignet, eine „Brücken- und Vermittlerfunktion“ zu den Werbeleuten zu übernehmen.

Inzwischen hatte der Flora-Vorstand auf einer dürftig besuchten Mitgliederversammlung die Vereinssatzung ändern lassen. Gestrichen worden war die Aussage, Radio Flora sei ein basisdemokratisches Radio. Mit der bereits bekannten Drohung, wenn diese Passage in der Satzung nicht geändert würde, sei die Lizenz endgültig verloren, hatte sich der Vorstand in kleinem Kreise durchsetzen können. Die Mehrheit der über 500 Vereinsmitglieder hatte bei dieser grundlegenden Kursänderung kein Votum abgegeben.

IX. Schlachtetag

Am 21.Mai 2008 machte die Versammlung der Niedersächsischen Landesmedienanstalt, in der inzwischen – entsprechend den Mehrheitsverhältnissen im Landtag – CDU und FDP den Ton angeben, den drei Bewerbern per Tischvorlage einen „Einigungsvorschlag“, auf dessen Grundlage weiter verhandelt werden sollte. Mit dieser Anweisung in Form eines „Vorschlages“ wurde Radio Flora der Todesstoß versetzt. Dies aus folgenden Gründen:

1. Das „Radio Team Niedersachsen“ soll „kompetent und damit federführend für das redaktionelle Programm“ sein und erhält „Geschäftsführung“ und. „Programmdirektion Wort“. Damit wird ausgerechnet der Kernbereich von Radio Flora, der hoch gelobt und in allen Untersuchungen hervorragend beurteilt wurde, den Leuten aus der Werbebranche unterstellt, von denen bislang nicht ein fundierter, anspruchvoller Text, Artikel oder Beitrag bekannt geworden ist.

2. Radio Flora ist lediglich noch für das Bürgermedienprogramm verantwortlich, womit die offenen Sendeplätze und die Fortbildung gemeint sein dürften.

3. Getragen wird dieses Radio durch eine gemeinnützige GmbH, in der das Radio Team Niedersachsen fünf achtel der Anteile erhält, Radio Flora zwei und das Lokalradio Neustadt einen Anteil. Wobei zu berücksichtigen ist, das Radio Neustadt ohnehin auf Kuhnt-Niveau schimmt.

Damit liegt sowohl die inhaltliche als auch die finanzielle Kontrolle fest in der Hand des Kommerzfunks und der Werbewirtschaft. Mehr als 500 Vereinsmitglieder und über 200 ehrenamtlich arbeitende RadiomacherInnen werden keinerlei Einfluss mehr auf den Sender haben – allenfalls könnte ihre kostenlose Arbeitskraft noch eine Weile ausgebeutet werden, denn die Kuhn-Crew hat bislang weder die Kompetenzen noch das Personal, um einen Bürgerrundfunk dieses Ausmaßes zu betreiben. Und natürlich sind auch die Mitgliedsbeiträge des Flora-Vereins von jährlich etwa 28.000 Euro und auch die in mehr als zehn Jahren angeschaffte Technik nicht zu verachten.

Allerdings verfügen die Werbeleute über beste Kontakte zur Wirtschaft und damit zu Geldgebern. Als mögliche Gesellschafter der zu gründenden gemeinnützugen GmbH waren bisher im Gespräch:

1. die Sparda Bank,
2. der Inhaber der Firma Hörgeräte Kind, gleichzeitig Vorstandvorsitzender von Hannover 96,
3. X-City Marketing, eine Tochter der Üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG, an der auch die Ströer Out-of-Home Media AG beteiligt ist. Diese wiederum ist Marktführer für Außenwerbung in Deutschland und wird im Aufsichtsrat durch einen Vertreter der Axel-Springer-Stiftung kontrolliert.
4. Das Freiwilligenzentrum Hannover e.V., an dem sich neben Gewerkschaften, Kirchen, verschiedenen Vereinen auch Wirtschaftunternehmen beteiligen, darunter der Medienkonzern Madsack mit seinen marktbeherrschenden Zeitungen HAZ und Neuer Presse.

Die Beteiligung des Freiwilligenzentrums entbehrt aber auch aus einem anderen Grunde nicht eines gewissen Witzes: Laut Eigenwerbung möchte der Verein das „freiwillige Engagement von hannoveraner Bürgerinnen und Bürgern“ fördern und beteiligt sich nun an der Zerstörung eines der größten Freiwilligenprojekte in der Region. Andererseits ist diese Politik aber konsequent. Demonstrierte Radio Flora doch als selbst organisiertes Projekt seit mehr als 10 Jahren, dass paternalistische Betreuung professioneller Helfer nicht gebraucht wird.

Inzwischen steht fest:
- Das neue Radio wird hierarchisch organisiert,
- es wird neue Räume beziehen, in schickerer Geschäftslage und nicht mehr auf dem schmuddeligen Faust-Gelände in Hannover-Linden,
und
- es wird einen anderen Namen tragen.

Unterdessen laufen die „Verhandlungen“ weiter – wie üblich abseits der Öffentlichkeit. Ein Redaktionsstatut allerdings, das die Autonomie und Rechte der Redaktionen und der Ehrenamtlichen gegenüber der Chefredaktion und der GmbH gewährleisten könnte, ist bislang (Stand: 29.6.2008) dabei nicht herausgekommen. Die neuen Führungskräfte kümmern sich – so ist zu hören – um Stellen, Immobilien und Finanzen. Für Fragen der Presse- und Meinungsfreiheit bleibt da naturgemäß wenig Zeit.

Die Kampagne ist fast beendet. Im März 2009 läuft die Lizenz für Radio Flora aus. Bis dahin muss der Betrieb abgewickelt werden. Zweierlei fehlt zum endgültigen Sieg: ein möglichst reibungs- und geräuschloser Übergang sowie die Sicherung der Ressourcen des einst selbstverwalteten Radios.

Ende

Hubert Brieden ist Historiker, Radiomacher und Buchautor und lebt in Hannover. 2001 wurde er zusammen mit Heidi Dettinger für den Beitrag "Dünnes Eis" (Radio Flora, Hannover) mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet.



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https://sopos.org/aufsaetze/48763b705e2b5/1.phtml

sopos 7/2008