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Flucht nach vorn

Historisch gesehen ist die G7/8 Ausdruck einer Krise des Westens

von Peter Wahl

Die Entstehung einer großen multilateralen Institution ist immer Ausdruck von historischen Umbrüchen und tektonischen Verschiebungen im internationalen System. So auch im Falle der G7: sie ist 1975 als Reaktion auf weltpolitische Umbrüche entstanden, denen wiederum langfristige Verschiebungen in den machtpolitischen Grundstrukturen des internationalen Systems zugrunde lagen. Im Kern war die "Erfindung" der G7 der institutionelle Nachvollzug einer neuen historischen Konstellation in der ersten Hälfte der 1970er Jahre.

Die Nachkriegsepoche war zu Ende, die BRD hatte ebenso wie Japan einen erstaunlichen ökonomischen Aufstieg hinter sich. Die beiden Verlierer des Zweiten Weltkriegs gehörten jetzt zu den drei größten Volkswirtschaften der Welt. Die ökonomische Überlegenheit der USA gegenüber Westeuropa und Japan war zwar noch vorhanden, aber der Abstand hatte sich verringert. Gleichzeitig waren die USA durch den Vietnamkrieg und innenpolitische Krisen angeschlagen.

Vor dem Hintergrund der Systemkonfrontation, die als Grundmuster des internationalen Systems die Weltpolitik beherrschte, kam es aus Sicht des Westens darauf an, die eigenen Kräfte umzugruppieren, um zu verhindern, daß sich die Kräfteverhältnisse zugunsten der UdSSR und der Entwicklungsländer verschieben. Insofern war die G7 auch Ausdruck des Versuchs des Westens, machtpolitisch wieder aus der Defensive herauszukommen. Durch den informellen Club-Charakter war die Institution als flexibles Instrument konzipiert, in dem die Dialektik von Kooperation, Konkurrenz und Dominanz im Gesamtinteresse des Westens verarbeitet werden konnte. Deshalb fand das Projekt die volle Unterstützung der USA. Insbesondere Henry Kissinger, damals Außenminister und strategischer Vordenker - hatte die Zeichen der Zeit erkannt und engagierte sich für das Projekt.

Ende der Nachkriegsökonomie

1973 war die internationale wirtschaftliche Nachkriegsordnung, das Bretton Woods-System, von den USA aufgekündigt worden. Dessen Kernstück waren feste Wechselkurse unter der Hegemonie des Dollars. Seine politische Intention läßt sich unter der Parole "Nie wieder Weltwirtschaftskrise" zusammenfassen. Das Bretton Woods-System ermöglichte ein stabiles und kalkulierbares Umfeld für internationalen Handel und Investitionen. Es trug in hohem Maße zur lang anhaltenden Prosperitätsphase der Nachkriegsjahrzehnte bei.

Mit der Einführung der freien Wechselkurse ist nicht irgendeine Variable der Weltwirtschaft verändert worden, sondern eine zentrale Stellgröße. Der Wechselkurs ist neben den Zinsen der wichtigste strategische Preis jeder Volkswirtschaft. Mit der Freigabe der Wechselkurse setzte eine Welle der Liberalisierung und Deregulierung auf den Finanzmärkten ein. Beschränkungen für Kapitalverkehr und Devisenkontrollen wurden aufgehoben. Damals bildeten sich die Anfänge jenes neuen Akkumulationsregimes heraus, das den Fordismus bzw. ‚rheinischen Kapitalismus' ablöste. Die Liberalisierung der Wechselkurse war sozusagen der "Urknall" für das, was heute als Globalisierung bezeichnet wird.

1975 ging es den Europäern vor allem darum, mit der G7 einen Ersatzmechanismus für jene Stabilität und Sicherheit zu finden, die das Bretton Woods-System bis dahin gewährt hatte. Die Erhaltung des alten Systems stand zwar nicht in ihrer Macht. Dazu hätten sie sich gegenüber den USA durchsetzen müssen. Aber die neuen Stabilitätsrisiken für die Weltwirtschaft sollten durch politische Koordination und Lenkung abgefedert werden. Die Märkte sollten politisch reguliert werden.

Vietnam und Watergate

Am 1. Mai 1975, also ein halbes Jahr vor dem ersten Gipfel in Rambouillet, endete der Vietnam-Krieg mit der Niederlage der USA. Der Krieg war nicht nur militärisch ein Desaster, sondern auch ökonomisch zu einer schweren Belastung geworden. Mit der Orientierung auf liberale Finanzmärkte hoffte man, den permanenten Abfluß von Dollars umkehren und mehr Kapital in die USA locken zu können.

Politisch schien es so, als ob das sowjetische Lager und China - die beide ungeachtet des Konflikts untereinander Vietnam politisch, wirtschaftlich und militärisch massiv unterstützt hatten - unaufhaltsam auf der Siegerstraße der Geschichte marschierten. Die USA hatten aufgrund ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg und als westliche Führungsmacht im Kalten Krieg zudem ein enormes Prestige in der Welt besessen. Dies war nicht nur ein politischer Faktor, sondern erstreckte sich auch auf eine kulturelle Hegemonie des American Way of Life, die weite Teile der liberalen und linken Weltöffentlichkeit erfaßt hatte.

Vor diesem Hintergrund war der moralische Bankrott der westlichen Führungsmacht um so dramatischer. Es war ein gewaltiger Schock für viele Bewunderer der USA, als sich mit der Enthüllung der Pentagon-Papiere herausstellte, daß die Bombardierung Nordvietnams mit einer Propagandalüge der Kennedy-Administration begonnen worden war. Der damalige Präsident Nixon ging im Watergate-Skandal mit kriminellen Methoden gegen US-Kritiker vor, was schließlich zu seiner Amtsenthebung führte. Die außenpolitische und militärische Niederlage der USA war von einer innenpolitischen Krise begleitet, deren Ausmaß man sich heute kaum vorstellen kann.

Viele Entwicklungsländer nutzten den Kalten Krieg, um zwischen den beiden Blöcken Spielräume für sich zu gewinnen. Unter dem Label "Neue Internationale Wirtschaftsordnung" traten sie für eine Umgestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ein. Die Bewegung der Blockfreien erschien als bedeutende dritte Kraft zwischen Ost und West. So genannte nationale Befreiungskämpfe, die von linken Bewegungen oder mit Verbündeten der Sowjetunion angeführt wurden, erzielten in dieser Zeit beträchtliche Erfolge. Am 11. November 1975, also vier Tage vor dem ersten Gipfel in Rambouillet, wurde Angola unabhängig. Bereits im Juli war Mosambik unabhängig geworden. Gleichzeitig erstarkten in Mittelamerika linke Bewegungen und Guerilla-Gruppen wie die Sandinisten oder die FMLN in El Salvador. Der Westen fühlte sich in der Defensive.

Der erste Ölpreisschock

Am 6. Oktober 1973 begann der vierte israelisch-arabische Krieg. Syrien und Ägypten - damals beide mit der UdSSR verbündet - griffen Israel an. Im Laufe des Krieges erhöhten die arabischen Ölförderstaaten drastisch die Ölpreise. "Öl als Waffe" war die Devise. Kurz danach schloß sich die gesamte OPEC den Preiserhöhungen an. Der Fluß des Treibstoffs des fossilen Kapitalismus war urplötzlich ins Stocken geraten. Der "Ölschock" schlug sich prompt in der Erklärung des ersten Gipfels 1975 nieder: "Wir sind entschlossen, die Energiequellen, die unsere Volkswirtschaften für ihr Wachstum benötigen, zu sichern. Unser gemeinsames Interesse erfordert es, daß wir auch weiterhin zusammenarbeiten, um unsere Abhängigkeit von Energieimporten durch Energiesparen und die Entwicklung alternativen Quellen zu reduzieren."

Das Thema "Energiesicherheit" steht auch auf der Tagesordnung des Gipfels in Heiligendamm ganz oben. Das Kommuniqué von Rambouillet wird diesbezüglich ein bezeichnendes Licht auf die tatsächliche Problemlösungsunfähigkeit der G7/8 während der seither vergangenen 32 Jahre. Denn im Vergleich zu 1975 haben sich die Energiesituation und die damit verbundenen Probleme dramatisch zugespitzt. Ebenso erwies sich das Kalkül des Westens, dank der G7/8 die internationale Finanzstabilität auch bei freien Wechselkursen zu sichern, spätestens durch die Asienkrise als Illusion.

Peter Wahl ist Mitarbeiter von WEED - Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung und Herausgeber des Buches "PR-Show oder Weltregierung? Die Bedeutung der G8 Gipfel in der globalisierten Welt" (VSA Verlag, Hamburg 2006).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 299.

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sopos 5/2007