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Dimitroff revisited

Orthodox-marxistische Faschismustheorien, die einseitig ökonomische Konstanten an den Nationalsozialismus anlegen, sind verkürzt

von Utz Anhalt (sopos)

Die These vom Faschismus als Diktatur der "reaktionärsten und chauvinistischsten Teile des Großkapitals" verdeckt die Massenbasis und Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus. Die aktive Teilnahme von Kleinbürgern und Arbeitern am Nationalsozialismus erscheint als Verführung eines an sich reinen Proletariats. Der Stereotyp des "ewigen Juden", der zugleich Kapital rafft und den Bolschewismus einführt, wird zu einem Täuschungsmanöver, um die "wahren Zwecke des Kapitals" zu verschleiern.

Einer Aufarbeitung des Nationalsozialismus sind solche Thesen nicht dienlich. Im Gegenteil: Sie waren bereits in Weimar fatal. Mit dem militaristisch verzerrten "schlagt die Faschisten wenn ihr sie trefft", reduzierte sich die Analyse auf eine Kampfsituation. Antinazis wie Sozialdemokraten rückten in die Nähe des Faschismus (Sozialfaschisten). Gleichzeitig gab es Überläufer von der KPD zur NSDAP (Querfront). Die ganz unterschiedlichen Traditionen des antinazistischen Widerstandes, ihre konträren Ziele und ihre politischen Feindschaften verwirren über die Politik der Nazis. Theorien, die einzelne Opfergruppen gegenüber anderen hervorheben, zeigen eher die Zerstrittenheit der damaligen und heutigen Nazigegner als "den Anfängen zu wehren".

Die Tatsache, dass Teile des Großkapitals mit den Nazis kooperierten und vom Krieg profitierten ist allein nicht stichhaltig. Die Zerschlagung der Arbeiterbewegung war das wichtigste Etappenziel der NSDAP in den ersten Jahren nach 1933. Krupp, Thyssen, Blohm etc. profitierten vom NS-System. Zu Juden gemachte Großkapitalisten nicht! Das ist der entscheidende Punkt.

Was haben Kommunisten mit Bankern, Sozialdemokraten mit Zeugen Jehovas, Zeugen Jehovas mit Liberalen und sie alle mit Juden zu tun? In einem materialistisch-linken Gesellschaftsverständnis wenig. In der inneren Logik der Nazi-Ideologie sehr wohl. Hitlers Kernziele waren es, "die vierzig Parteien aus Deutschland hinauszufegen" und "die Tafeln von Sinai zu zerschmettern". An diesem Punkt kommen wir der Nazi-Ideologie und dem Komplex Auschwitz näher: Hitler machte die Ethik dafür verantwortlich, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte. Er beschwor in unzähligen Reden, was zu dieser Ethik gehörte, Humanismus, Marxismus, Liberalismus, Judentum und "Christentum". "Mein Kampf" war eine Zusammenfassung der Theorien der deutschen Rechten, der Ungleichheit. Nur in dieser inneren Logik versteht man die Politik der Nazis, die anfangs eine Stoßrichtung gegen Teile des Kapitals hatte.

Eine Ethik der Gleichheit aller Menschen sollte durch eine Ethik der Ungleichheit, eine Ethik der Unantastbarkeit des Menschenlebens durch eine Ethik des Selbstaufopferung und des Tötens ersetzt werden. An diesem Punkt wird der Antisemitismus als Hebel und entscheidende Dynamik des Nationalsozialismus erklärbar. Die "Tafeln von Sinai", die zehn Gebote waren die erste überlieferte Erklärung des Tötungstabus für Stammesfremde in der Geschichte. Aus Nazi-Sicht hatten Juden, bibeltreue Christen, bürgerliche Kapitalisten und Sozialisten eine gemeinsame Grundlage, die Gleichheit:

Im Judentum war es das gleiche Recht auf Leben für alle Menschen, die Basis des Universalismus der Menschenrechte. Im Christentum war es, wörtlich genommen wie bei den Zeugen Jehowas, die Gleichheit aller Menschen vor Gott und die Verweigerung des Kriegsdienstes. Im "Kapitalismus", dem bürgerlichen Liberalismus war es die rechtliche Gleichheit aller Menschen. Im Sozialismus ging es um die soziale Gleichheit aller Menschen.

Die Vernichtung der Gleichheit und ihrer philosophischen Wurzel, der jüdischen Kultur, war für den Nationalsozialismus konstituierend. Das Volksgemeinschaftskonzept stand gegen die Gesellschaft der Staatsbürger. Es konnte nur über die Ungleichheit aufrecht erhalten werden.

Erstens materiell: Die Vernichtung der zu Juden ernannten Mitbürger bereicherte nicht allein das "Großkapital". Die zu "Volksdeutschen" ernannten Menschen, nämlich auch Proletarier und Kleinbürger, wurden mit dem Raubgut beschenkt. Die Vernichtung der Juden und die Versklavung der Slawen stellte den Parteigängern der Nazis Beute in Aussicht. Der zum Arier ernannte Landarbeiter ging nicht einer "Strategie des Großkapitals" auf den Leim, sondern der konkreten Aussicht, in Polen Herr über Andere werden zu können.

"Es sind nicht die Juden (...) es sind die Krupp, Thyssen, Mannesmann, Flick usw. (...) in deren Auftrag Hitler bereit ist, das deutsche Volk wieder in einen Krieg hineinzuopfern." (KPD November 1938) - Es gehörte zum Standard der KPD, dass die Arbeiter und Kleinbürger sich gegen den falschen Feind aufhetzen ließen. Die Verwicklung bestimmter (!) Fraktionen des Kapitals in den NS-Apparat ist eine Tatsache. Die Vorstellung, dass sogar der harte Kern der Nazis in deren Auftrag gehandelt hätte, ist falsch.

Zweitens ideell: Eine Ethik der Gleichheit und sei es nur des Lebensrechtes wird einer Kriegs- und Massenmordpolitik entgegenstehen. Menschen, die mit dieser Ethik aufwachsen, werden Terrormaßnahmen zum eigenen Vorteil höchstens mit schlechtem Gewissen, halbherzig, vollführen. Allein aus diesem Grund war die KPD-Parole "Schlagt die Faschisten, wenn ihr sie trefft" absurd, denn Linke, die eine Spur von humanistischen Denken verinnerlicht haben, werden Nazis im Straßenkampf nicht schlagen können. - "Immer (...) hat die Reaktion (...) sich der (...) Judenhetze (...) zum Zwecke der Ablenkung von den wahren Schuldigen am Volkselend bedient." (KPD, 1938)

Die damaligen Kommunisten lagen falsch, indem sie die NS-Politik mit dem tradierten Antisemitismus der deutschen Reaktion gleich setzten. Thyssen, Krupp etc. hätten ihre Geschäfte sehr wohl mit Juden abwickeln können. Diese kommunistische Lesart denkt die NS-Politik in kommunistischen, nicht in NS-Kategorien. Die Nazis dachten in Rassenkategorien. Die jüdische Lebensethik war für Hitler das Haupthindernis beim "Kampf um Lebensraum" - seinen eigenen Worten zufolge. Lebensraum und Judenvernichtung waren die Essenz der NS-Diktatur.

Drittens politisch: "Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem." (Himmler in Posen, 1943). - Das ist eben nicht die Logik der entwickelten kapitalistischen Ökonomie, die das Geschäft über die Blutsbande stellt. Das ist vor allem nicht die Logik der "jüdischen" zehn Gebote und nicht der Grundsatz der Nächstenliebe im Christentum. Es ist erst recht nicht die Logik der internationalen Solidarität. Diese Ersetzung der Gesellschaft durch die Gemeinschaft, diese Übertragung eines rassistischen Mafiaprinzips auf die Staatsebene war keine Ablenkung, sondern zentrales Element der Volksgemeinschaftspolitik. Deutlich wird vor allem, dass die "Zugehörigkeit zum eigenen Blut" mit Vorteilen verbunden ist. "Anstand" und "Ehrlichkeit" gegenüber dem "eigenen Blut" sichern den Raubmord an den Ausgeplünderten. Gerade das zeichnet den Nationalsozialismus, die Soldateska auf Staatsebene, aus. Thyssen, Krupp und andere Großindustrielle waren schuldig in höchstem Ausmaß. Sie waren aber nicht die Soldaten aus Wehrmacht und Waffen-SS, die den Bauern in Polen, Russland oder Böhmen den Speck, Käse und das Brot stahlen, die Höfe und Felder verbrannten.

Eine zu Raubgemeinschaften umerzogene Industriegesellschaft kann ihre internen Klassenkonflikte, die Repression, die Zerstörung von Freiheit und Recht, erodierte Milieus und die Retardierung der kulturellen und intellektuellen Entwicklungen nur über eine Kriegsökonomie dynamisieren. Diktatur, Terror, Aufrüstung und Krieg sind die innere Dynamik dieses Systems und die Nazis machten daraus von Anfang an kein Hehl. Daraus ergibt sich der NS-Imperialismus. Darin unterscheidet er sich vom Imperialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Hitler definierte sich folgerichtig nicht über Rockefeller und Krupp, sondern über Dschingis Khan. Der Mongolenführer des Mittelalters einigte die Stämme der Reiternomaden und formte ein ganzes "Volk" in eine Kavallerieeinheit um, die Asien und Europa verheerte.

Der ideelle Hintergrund erhellt das zwiespältige Verhältnis der Kirchen, der Stalinisten bis 1939, aber auch des Bürgertums. Der Nationalsozialismus stand zwar den Christen in Feindschaft gegenüber, die die Ethik des Lebens ernst nahmen, erfüllte aber die Praxis des Klerus gegenüber den "gottlosen Kommunisten" und den "jüdischen Christusmördern". Der Nationalsozialismus war zwar ein Todfeind der Idee der sozialen Gleichheit, die Praxis Stalins hätte eine Aufteilung Europas unter einem deutschen und großrussischen Reich jedoch plausibel gemacht. Der Nationalsozialismus eliminierte zwar die bürgerlichen Freiheitsrechte, befriedigte aber das bürgerliche Bedürfnis nach nationalem Mythos und Zerstörung der Arbeiterbewegung.

Der Nationalsozialismus zerschlug die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften, verschaffte den Denunzianten und Mittätern unter den "kleinen Leuten" aber mit "Kraft und Freude" den ersten bezahlten Urlaub. Das heißt, nicht allein das Großkapital, sondern große Segmente des Volkes konnten -zumindest bis 1939 - vom Nationalsozialismus profitieren. Die Schnittmenge lautete, Vorteile bei Unterordnung unter die Volksgemeinschaft oder Terror bis zum letzten bei Opposition.

Viertens kategorisch: Die These, der Faschismus (gemeint ist Nationalsozialismus) sei die terroristische Antwort des Kapitals auf die Krise gerät in gefährliche Nähe zu Verschwörungstheorien. Die Nazis unterschieden zwischen "schaffendem" und "raffendem" Kapital. Die Nazis unterschieden aber genauso zwischen dem "arischen Arbeiter und Bauern" und dem "jüdischen Geldverleiher, Zuhälter und intellektuellem Schmarotzer". Die Spaltung zwischen "Gut und Böse" zieht sich in der Nazi-Ideologie nicht an den Klassengrenzen. Die SA posaunte vor ihrer Entmachtung: "Dem Klassenkampf der Marxisten setzen wir unseren Rassenkampf bis aufs Kastrationsmesser entgegen. Nach der nationalen folgt jetzt die soziale Revolution." Das Vermögen des jüdischen Bankiers finanzierte auch den "Blut und Boden Bauern" ihre tägliche Erbsensuppe. Erst dieses Versprechen ließ Freikorps-Asoziale, völkische Landarbeiter, Junker, Klerikalfaschisten und die Hugenberg-Leute gemeinsame Sache machen. Eine Ausrichtung auf die "reaktionärsten Kräfte des Großkapitals" allein hätte dem Nationalsozialismus keine Massenbasis beschert.

Die bittere Wahrheit ist, dass viele Anhänger aus den Mittel- und Unterschichten nicht vom Nationalsozialismus "verführt" wurden, sondern dass er ihren Ansichten entsprach.

Die These vom als Faschismus bezeichneten Nationalsozialismus als Antwort der chauvinistischsten und reaktionärsten Kräfte des Großkapitals auf die Krise negiert die Besonderheit des NS-Regimes. Es waren nicht wie 1914 die "Imperialisten aller Länder", die 1939 das Grauen über die Welt brachten, sondern die deutschen Nazis und ihre Verbündeten. Man muss die damaligen Großkapitalisten in Frankreich, England und den USA nicht mögen, historische Basics reichen aus: Keiner der Alliierten stürzte sich mit Begeisterung in den Krieg gegen Hitler-Deutschland. Das Kernmotiv "Marxismus ist der Schutzengel des Kapitalismus", "Rasse statt Klasse", "statt Bolschewismus und jüdischem Kapitalismus deutscher Sozialismus", "Gemeinschaft kontra Gesellschaft", "Homogenität statt Pluralismus" kennzeichnet NS-Schriften und die Tagebücher und Briefe der Mitmacher und Jubler.

Die Stalinisten hatten ein vitales Interesse, diesen Zusammenhang zu verdecken. Zum einen hatte Stalin an die Stelle der Weltrevolution die alte Idee des großrussischen Reiches gesetzt, andererseits spielte er die Karte der Ethnisierung und insbesondere des Antisemitismus selbst aus. "Die herrschenden Klassen Englands, Frankreichs und Deutschlands führen Krieg um die Herrschaft der Welt. Dieser Krieg ist die Fortsetzung des (...) Streites im Lager des Kapitalismus." (Kommunistische Internationale 1939).

1939, das heißt nach der jahrelangen Appeacementpolitik, die den Nazis den krieglosen Raub Tschechiens und Österreichs ermöglicht hatte, waren solche Aussagen ideologische Blindheit. Dieses Zitieren des Ersten Weltkrieges verdeckte die Qualität des Attentats auf die Menschheit, das in Auschwitz seine Konsequenz fand.

Die Praxis des Stalinschen Massenterrors stellt nicht die Idee der sozialen Emanzipation in Frage. Die Praxis der kapitalistischen Ausbeutung stellt nicht die Idee der Rechtsgleichheit der Individuen in Frage. Die Praxis der Kreuzzüge, Hexenprozesse und des Völkermordens im Trikont stellt nicht die Idee der christlichen Nächstenliebe in Frage. Eine Kritik an Scharon darf niemals das Existenzrecht Israels und die jüdische Ethik in Frage stellen.

Auschwitz führte aber die Idee des Nationalsozialismus zur Vollendung. Wer diesen entscheidenden Punkt ignoriert oder aus politstrategischen Gründen relativiert, macht sich mitschuldig. 1948 hat die jüdische Ethik nach dem Holocaust einen späten Sieg errungen: Als Konsequenz trat die Konvention der UNO über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes in Kraft.

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sopos 4/2005