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Plädoyer für eine Zwei-Staaten-Lösung auf Zypern

von Coskun Tözen

Wenn in den nächsten zwei bis drei Jahren eine Lösung des Konfliktes nicht in Aussicht steht, sollte der Anspruch auf Alleinvertretung der Republik Zypern revidiert und eine Zwei-Staaten-Lösung in Betracht gezogen werden.

Viele Griechen und Zyperngriechen werden ein so tituliertes Plädoyer empörend finden. Für Außenstehende und Zypernexperten mag dieses Plädoyer den Eindruck erwecken, es handele sich um jemanden, der das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker für unmöglich hielte. Mehr noch: Hier ist mal wieder jemand, der aufgrund seiner Vorurteile nicht sieht, daß zwei Staaten auf Zypern doch nicht wirklich im Interesse beider Volksgruppen sein können. Außerdem würde die völkerrechtswidrige Teilung der Insel 1974 in einen zyperntürkischen Norden und einen zyperngriechischen Süden dadurch im Nachhinein legitimiert. Schon deshalb könne eine Zwei-Staaten-Lösung nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. Dem werden viele Griechen und Zyperngriechen vorbehaltlos zustimmen.

Türkische und zyperntürkische Nationalisten hingegen werden dieses Plädoyer begrüßen - ist es doch das, wofür sie schon immer plädiert haben, weil sie ja schon immer wußten, daß sich Griechen und Türken nicht verstehen und Zyperntürken und Zyperngriechen nicht friedlich miteinander leben können. Einige Außenstehende sowie einige Zypernexperten werden in ähnlicher Weise denken mögen und hervorheben: Wer die Geschichte dieses Konfliktes sich wirklich vergegenwärtigt, wird doch nicht ernsthaft behaupten können, daß die Entwicklung, die zur Teilung geführt hat, die alleinige Schuld der Türkei und der Zyperntürken sein kann. Zudem werde eine Lösung ja nicht nur von der zyperntürkischen und türkischen Seite verhindert. Wer dies bis jetzt nicht glauben wollte, der vergegenwärtige sich die von der UN initiierten Referenda vom 24. April 2004: Die Zyperntürken haben mit 65% für eine Föderation gestimmt, die Zyperngriechen mit knapp 76% dagegen. Deshalb gab es keine Lösung und nur der zyperngriechische Teil (die Republik Zypern) ist am 1. Mai 2004 der EU beigetreten. Der Norden hatte für eine Vereinigung und damit auch für den EU-Beitritt gestimmt, bleibt aber vorerst außen vor sowie weiterhin international isoliert und nicht anerkannt.

Schließlich werden diejenigen, die mit mir über Zypern diskutiert haben, sich fragen, was dieses Plädoyer soll, weil es doch dem widerspricht, für was ich bis jetzt geworben habe.

Nun, wenn mein Plädoyer schon einem Tabubruch gleichkommt, warum nicht noch eine ergänzende Häresie: Seit wann bitte schön ist die Geschichte der Entstehung und des Niedergangs von Staaten eine Geschichte der Gewaltfreiheit?!

Spätestens jetzt werden sich auch alle Pazifisten empören. Diejenigen, die sich wissenschaftlich mit solchen Fragen auseinandersetzen, werden auch nicht erfreut sein, läßt eine solche Aussage doch vermuten, daß ich es anscheinend ganz in Ordnung finde, daß man mit Gewalt bestimmte Ziele und Interessen durchsetzen kann oder gar sollte. Die meisten Experten werden jedoch zugeben, daß, obwohl nicht erbaulich, es nicht von der Hand zu weisen ist, daß in der Regel - auch heute noch! - Gewalt ein zentrales Moment in der Entstehung von Staaten ist. Mit dieser zweiten Provokation will ich auf folgendes aufmerksam machen:

Seit der Teilung der Insel 1974 wird unter großen internationalen Anstrengungen unter der Ägide der UN vergeblich um eine Konfliktlösung gerungen. Faktisch existiert die Republik Zypern von 1960 bereits seit dem Bürgerkrieg von 1963/64 nicht mehr - also seit 40 Jahren. Legt man die Teilung der Insel 1974 zu Grunde, dann existiert seit mindestens 30 Jahren kein gemeinsamer Staat der Zyperntürken und Zyperngriechen mehr. Dieser Staat war zudem nur drei Jahre, von 1960 bis 1963, existent. Ist unter diesen Umständen eine Zwei-Staaten-Lösung wirklich so abwegig - der Ausschluß dieser Möglichkeit so unvernünftig?

Grundsätzlich läßt sich einwenden, daß eine Sezession auf ethnischer Basis nicht automatisch zu einem Frieden führt. Auch läßt sich entgegenhalten, daß eine Zwei-Staaten-Lösung dem Trend des Zusammenwachsens der Welt und der zunehmenden Interdependenz widerspricht. Außerdem, was ist, wenn dieses Beispiel Schule macht? Dies sind berechtigte Bedenken, zumal das dem `westlichen' Demokratieverständnis widerspricht. Ja, es läßt sich behaupten, daß die Demokratie gerade ethnische Begrenzungen überwinden und aufheben soll! Außerdem, wenn wir so lange eine Vereinigungs-Lösung gesucht haben, warum sollten wir es nicht weiterhin versuchen? Denn obwohl mit den jüngsten Bemühungen keine Lösung erreicht werden konnte, hat sich die Situation seit dem 1. Mai 2005 grundlegend verändert. Seitdem ist die zyperngriechische Republik Zypern EU-Mitglied. Die seit 1974 undurchdringbare Grenze, die sogenannte Green Line, ist seit April 2003 zum ersten Mal für gegenseitige Besuche und Kontakte dauerhaft geöffnet und wird von beiden Seiten ausgiebig genutzt. Schließlich hat sich die Türkei zum ersten Mal seit 1974 ernsthaft für eine Lösung eingesetzt, weil sie EU-Mitglied werden will. Sie wird auch weiterhin eine Zypernlösung anstreben, zumal die EU im Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnen wird - es sei denn die Zyperngriechen legen als EU-Mitglied ein Veto ein.

Es lassen sich auch genügend Gegenargumente anführen. Seit nunmehr drei bis vier Dekaden ist der Versuch, die Sezession zu überwinden, erfolglos geblieben. Nach 40 Jahren ist noch immer keine Lösung und damit auch kein Frieden in Sicht. Es ist nicht kategorisch auszuschließen, daß gerade eine Zwei-Staaten-Lösung sogar die Basis schaffen könnte, daß beide Volksgruppen im Rahmen der EU-Integration doch wieder näher aneinander rücken, da sie sich dann von gleich zu gleich gegenüber stehen würden. Was den globalen Trend angelangt, so verläuft dieser nicht nur in eine Richtung. Die zunehmende Interdependenz bedeutet nicht unbedingt stärkere (staatliche) Zentralisierung: Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die gewaltsame Auflösung weiter Teile des ehemaligen Jugoslawien sowie die friedliche Sezession der Tschechoslowakei, die Einführung eines Proporzsystems in Belgien sind nur einige Beispiele aus Europa! Ferner lassen sich in der jüngsten Zeit auch eine steigende Akzeptanz proporzdemokratischer Modelle und ein Trend zur Dezentralisierung ehemaliger tatsächlicher oder nomineller Nationalstaaten verzeichnen.

Zypern ist ein Beispiel dafür, wie Demokratie durch eine Mehrheitsethnie (Zyperngriechen) dazu instrumentalisiert bzw. mißbraucht werden kann, sich zur Titularnation aufzuschwingen und andere Bevölkerungsgruppen zu dominieren. Das eigene demokratische Selbstbestimmungsrecht wird über das der anderen gestellt. Die `westlichen' Demokratien haben Jahrhunderte - zum großen Teil äußerst gewalttätig - damit verbracht eine Homogenisierung und Nationalisierung durchzusetzen, so daß diese Form der `überethnischen' Demokratie erfolgreich etabliert werden konnte. Auf Zypern hat sich zu keinem Zeitpunkt eine nationale Identität als `Zyprer' herausgebildet, weshalb ein Vergleich zwischen der Teilung Deutschlands und der Teilung Zyperns beispielsweise völlig unangebracht wäre. Im übrigen wird von fast keinem Experten bestritten, daß sich auf Zypern nie eine `Nation', aber statt dessen zwei sich ideologisch diametral entgegengesetzte Ethnonationalismen entwickelt haben. Die zum Teil erheblichen Meinungsverschiedenheiten ergeben sich nicht aus Disputen um diese Tatsache, sondern beziehen sich auf die Interpretation der Frage, warum sich keine nationale Identität herausgebildet hat. Aus der Diskussion des `Warum' ergeben sich schließlich unterschiedliche `Heilungsrezepte' für die Zukunft der Insel.

Zum Hintergrund:

Wie es so schön heißt, wurde Zypern von der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien 1960 als Republik Zypern in die Unabhängigkeit entlassen. Diese Republik Zypern ist nicht als Nationalstaat gegründet worden, sondern als Partnerschaftsrepublik zwischen zwei Kollektiven bzw. Volksgruppen - den Zyperngriechen und den Zyperntürken. Faktisch gab es somit nicht ein Staatsvolk, sondern zwei Staatsvölker. Das politische System war nicht eine `normale' Mehrheitsdemokratie, sondern ein proporz-demokratisches System: Die Zyperntürken und Zyperngriechen haben in getrennten Wahlen die demokratischen Vertretungen gewählt. Sowohl die Parlamentssitze als auch der öffentliche Dienst wurden nach einem in der Verfassung festgelegten Proporz (7 zu 3) besetzt. Ferner wurden auch alle weiteren Staatsorgane nach dem powersharing Prinzip geformt. Kurz: Nur durch den Willen beider Volksgruppen zur Kooperation konnte dieser Staat funktionieren. Die Dominanz einer der beiden Volksgruppen über die andere sollte so verhindert werden. Auch war dieser Staat in anderer Hinsicht ungewöhnlich. Als Garantiemächte trugen (und tragen) Großbritannien, die Türkei und Griechenland die Verantwortung für die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung. Bereits drei Jahre nach der Unabhängigkeit brach Ende Dezember 1963 ein Bürgerkrieg zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken aus. Das Resultat: ab 1964 lebten 50% der Zyperntürken in von ihnen militärisch verteidigten und überfüllten Enklaven, zu denen sie den Zyperngriechen den Einlaß kategorisch verwehrten. Die Zyperngriechen usurpierten in der Folgezeit den gesamten Staatsapparat und die Zyperntürken bauten eine eigene Administration in ihren Enklaven auf. Bereits zu diesem Zeitpunkt war die verfassungsmäßige Ordnung der Republik von 1960 faktisch nicht mehr existent. Zwei massive militärische Interventionsvorhaben der Türkei (1964 und 1967) wurden jeweils durch entschlossene Reaktionen der USA verhindert.

Die seit 1963/64 nunmehr ausschließlich zyperngriechische Regierung wurde zum ersten Mal im März 1964 durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates als die Regierung Zyperns bezeichnet, zumal für die Stationierung von UN-Blauhelmen das Einverständnis der Regierung des betreffenden Staates notwendig ist. In der Folgezeit wurde die zyperngriechische Alleinregierung als die einzig legitime Regierung der Republik Zypern (also der gesamten Insel) international anerkannt. Die Bürgerkriegssituation mit sporadischen Kämpfen und Gefechten hielt trotz UN-Blauhelm-Präsenz an. Insgesamt trugen die Blauhelme zu einer Deeskalation bei. Zwischen 1968-1974 gab es Verhandlungen zwischen Zyperngriechen und Zyperntürken. In dieser Phase blieben größere Gewaltausbrüche aus. Eine Verhandlungslösung scheiterte maßgeblich daran, daß die Zyperntürken eine lokale Autonomie forderten und die Zyperngriechen diese nicht gewähren wollten. Zudem hätten die Zyperntürken auf ihren in der Verfassung von 1960 garantierten Volksgruppenstatus verzichten müssen und wären gezwungen gewesen, sich in einen faktisch zyperngriechischen Staat zu integrieren. In Folge eines von der griechischen Militärdiktatur dirigierten Putsches gegen den zyperngriechischen Präsidenten Makarios intervenierte die Türkei 1974 massiv militärisch. Dabei okkupierte die Türkei den Nordteil der Insel und vertrieb ca. 150.000 Zyperngriechen, ein Drittel der zyperngriechischen Gesamtbevölkerung Zyperns. Seit dem ist die Insel in einen zyperntürkischen Norden und einen zyperngriechischen Süden geteilt. Ein `Bevölkerungsaustausch' besiegelte schließlich die fast vollständige ethnische Separation. Bis heute ist jeder Versuch, den Konflikt zu lösen, gescheitert. Seit der Teilung der Insel wird unter der Ägide der UN eine bizonale (Territorialität) und bikommunale (zwei Volksgruppen) Föderation angestrebt. Auf diese Begriffe haben sich die Zyperngriechen und Zyperntürken bereits Ende der 70er Jahre geeinigt. Seither streiten sie sich mit diametral entgegengesetzten Positionen darum, was diese Begriffe konkret zu bedeuten haben. Dabei geht es im groben um folgendes: Die Zyperngriechen wollen die Revision der Teilung der Insel und eine dominante Position in einem künftigen vereinigten Staat, zumal sie ca. 80% der Gesamtbevölkerung der Insel stellen. Die Zyperntürken wollen im Falle einer Vereinigung eine Dominanz der zyperngriechischen Seite verhindert wissen. Zudem fordern sie ihren gleichberechtigten Volksgruppenstatus - wie bereits 1960 in der Unabhängigkeitsverfassung garantiert - ein.

Der jüngste, umfassendste und vielversprechendste Konfliktlösungsplan, der gescheitert ist, ist der - nach dem UN-Generalsekretär Kofi Annan benannte - UN-Plan. Die letzte Version des sogenannten Annan-Planes, welcher den beiden Bevölkerungen in getrennten und simultanen Referenda zur Abstimmung vorgelegt wurde, ist am 24. April 2004 gescheitert. Damit war die letzte Chance für eine Konfliktlösung vor einem Beitritt der Republik Zypern in die EU vertan - und dieses Mal scheiterte die Lösung eindeutig an den Zyperngriechen, nicht an den Zyperntürken oder der Türkei.

Die Situation seit Mai 2004:

Da seit dem 1. Mai 2004 nur der zyperngriechische Teil der Insel, die Republik Zypern, EU-Mitglied ist, ist genau das eingetreten, was die EU eigentlich vermeiden wollte: Sie hat eine geteilte Insel aufgenommen und damit den Zypernkonflikt importiert. Daraus ergeben sich einige Schwierigkeiten: Die zyperngriechische Republik Zypern übt de jure auch über den Norden der Insel die Souveränität aus. Damit ist rein rechtlich auch der Inselnorden der EU beigetreten. Allerdings wird im Norden der Insel das EU-Recht (aquis communautaire) nicht angewandt, da die Insel de facto geteilt ist und die zyperngriechische Seite realiter keineswegs die Souveränität über den Norden ausübt. Ferner sind die Zyperntürken de jure EU-Bürger, zumal sie aufgrund der internationalen Rechtsposition eigentlich Staatsbürger der Republik Zypern sind. Die Zyperntürken können jedoch faktisch ihre Rechte und Pflichten als EU-Bürger nicht wahrnehmen, weil im Norden der Insel das EU-Recht keine Anwendung findet. Aber hier hören die Schwierigkeiten noch lange nicht auf. Zum ersten Mal sieht sich die EU mit der Tatsache konfrontiert, daß ein Teil ihres Territoriums bzw. dasjenige eines Mitgliedstaates von einem anderen Land - der Türkei - besetzt ist. Absurd ist zudem der Umstand, daß das Land, welches einen Teil des EU-Territoriums besetzt hält, erstens seit 1995 mit der EU eine Zollunion eingegangen ist. Zweitens ist die Türkei seit 1999 ein EU-Beitrittskandidat. Drittens wird die EU noch dieses Jahr mit der Türkei die Beitrittsverhandlungen eröffnen - falls die Republik Zypern nicht ihr Veto einlegt. Darüber hinaus ist die Türkei seit 1952 ein NATO-Mitglied und damit auch ein militärischer Bündnispartner vieler EU-Staaten.

Am 1. Mai 2004 wurde die Republik Zypern in die EU aufgenommen, obwohl deren politische Führung, entgegen ihren Beteuerungen, eine Konfliktlösung nach dem Annan-Plan abgelehnt und die zyperngriechische Bevölkerung mit überwältigender Mehrheit gegen die Vereinigung der Insel gestimmt hat. Im Gegensatz dazu hat sich eine große Mehrheit der Wahlbevölkerung in Nordzypern für eine Konfliktlösung entschieden und damit gleichzeitig für die Aufnahme in die EU votiert. Trotzdem bleibt der Inselnorden aufgrund der Umstände außen vor.

Bis zu den Referenda wurde von der EU angenommen, daß eine Konfliktlösung nur durch die Haltung der Türkei und der Zyperntürken verhindert wird und daß die Zyperngriechen tatsächlich die EU-Option als Katalysator für eine föderative Lösung des Konfliktes betrachten. Statt dessen mußte die EU nun erkennen, daß das primäre Ziel der zyperngriechischen Führung der EU-Beitritt ohne Konfliktlösung war. Von einem EU-Beitritt versprachen bzw. versprechen sich die Zyperngriechen eine weitere Festigung ihrer Positionen im Konflikt, mehr Sicherheit und eine bessere Ausgangslage, um eine Lösung nach ihren eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Seit dem Scheitern der Konfliktlösung versucht die EU im Einklang mit der Forderung des UN-Generalsekretärs Kofi Annan, die ökonomische Isolation des Nordens mit Finanzmitteln und einigen wirtschafts-politischen Maßnahmen abzumildern und so die Chancen auf eine künftige Konfliktlösung zu erhöhen. Schließlich hatte die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Republik Zypern 1998 auch mit dem Ziel begonnen, daß beide Inselteile von dem Prozeß der EU-Integration profitieren sollten. Nun sieht sich die EU damit konfrontiert, daß die Republik Zypern all diese Maßnahmen zu verhindern versucht, weil sie den Druck auf den Norden aufrechterhalten will, um eine Lösung in ihrem Interesse durchzusetzen. Somit hat sich für die EU seit dem 1. Mai 2004 die Situation umgekehrt. Sie hatte dem Argument der Zyperngriechen nachgegeben, daß, wenn die EU die politische Lösung des Konfliktes zur Vorbindung einer EU-Aufnahme der Republik Zypern macht bzw. aufrechterhält, die EU der Türkei und den Zyperntürken faktisch ein Vetorecht gegen eine Aufnahme einräumt, da diese an einer Lösung nicht interessiert seien und den EU-Beitritt verhindern wollen. Zudem hatte Griechenland dieses Argument entscheidend u.a. durch die Drohung gestützt, notfalls mit ihrem Veto die gesamte EU-Osterweiterung zu verhindern. Nun steht die EU vor dem umgekehrten Problem: Das neue Mitglied Republik Zypern betreibt eine Obstruktionspolitik, die das Interesse der EU, eine für beide Volksgruppen akzeptable Konfliktlösung für Zypern zu erreichen, behindert. Ferner werden das Gesamtinteresse der EU und damit die weitere Entwicklungsperspektive der Union in wirtschaftlicher, sicherheits-politischer und strategischer Hinsicht nun von der Republik Zypern gefährdet. Denn die Republik Zypern schickt sich an, vielleicht ein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzulegen, falls die Türkei ihre Truppen aus Zypern nicht abziehe und die Republik Zypern nicht anerkenne. Die Republik Zypern hat die heutige Situation willentlich herbeigeführt. Sie stellt ihr Interesse gegen das Interesse der gesamten Union. Gefährdet wird dabei der regionale Friedensprozeß zwischen Griechenland und der Türkei. Zudem nutzt die Republik Zypern ihre Position als EU-Mitglied aus und instrumentalisiert damit die EU, um ihre ethnonationalistischen Ziele durchzusetzen.

Die Republik Zypern hat sich mit ihrer obstruktiven Haltung weitgehend in der EU isoliert. Es bleibt zu hoffen, daß der Druck durch die anderen EU-Staaten dazu führt, daß die Republik Zypern ihre bisherige Obstruktionspolitik aufgibt und einlenkt. Wenn dies aber nicht geschieht, steht die EU bald vor der Entscheidung entweder die Republik Zypern gewähren zu lassen oder einen Politikwechsel in Bezug auf die Alleinvertretungsansprüche der Zyperngriechen zu prüfen. Nicht zuletzt stellt sich auch die Frage, ob es mit den demokratischen Prinzipien zu vereinbaren ist, daß die Zyperngriechen das politische Selbstbestimmungsrecht der Zyperntürken in dieser Weise ignorieren dürfen. Denn ein Souveränitätsanspruch, dem keinerlei Legitimation durch die Zyperntürken zuerkannt wird, ist schlicht nicht demokratisch. Daß die Republik Zypern die Interessen der Zyperntürken vertritt, die unter der Besatzung durch die Türkei leben und deshalb nicht frei für sich entscheiden könnten, ist ein Märchen, das spätestens durch die jüngsten Referenda entkräftet sein dürfte.

Fazit

Wenn in den nächsten zwei bis drei Jahren eine Lösung des Konfliktes nicht in Aussicht steht, weil die Republik Zypern ihren Obstruktionskurs beibehält; und vorausgesetzt, daß die zyperntürkische und türkische Seite weiterhin ihre Kompromißbereitschaft im Konflikt beibehalten, sollte der Alleinvertretungsanspruch der Republik Zypern revidiert werden. Damit würde eine Zwei-Staaten-Lösung mit bestimmten Konditionen zu einem Alternativmodell avancieren.

Falls die EU-Beitrittsverhandlungen im Oktober diesen Jahres eröffnet werden sollten, ist die Beibehaltung der Kompromißbereitschaft der Türkei im Zypernkonflikt höchst wahrscheinlich. Selbst wenn es dabei zu Verzögerungen - eben wegen des Zypernkonfliktes - kommen sollte, wird die Türkei ihre Positionen nicht zwangsläufig sofort revidieren. Wahrscheinlich werden vor dem Oktober 2005 auf Basis des Annan Plans neue Zypernverhandlungen beginnen. Für Verhandlungen setzt sich u.a. bereits der türkische Premierminister Erdogan ein. Sollten allerdings die avisierten Zypernverhandlungen scheitern bzw. erst gar nicht stattfinden und die EU die Beitrittsverhandlungen nicht eröffnen, dann besteht die Gefahr, daß die Türkei ihre Kompromißhaltung aufgibt.

Auf zyperntürkischer Seite hat Mehmet Ali Talat bereits Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Talat, ein entschiedener Verfechter der Konfliktlösung, war mit seiner Partei in den Parlamentswahlen im Dezember 2003 in Nordzypern als Sieger hervorgegangen und wurde Premierminister. Inzwischen ist die Koalition zerbrochen und Talat zurückgetreten. Deshalb finden in diesem Jahr erneut Parlamentswahlen in Nordzypern statt. Sollten die Pro-Lösungs-Parteien (was wahrscheinlich ist) diesmal mit einer komfortablen Mehrheit gewinnen, so dürfte dies eine Fortsetzung des Konfliktlösungskurses bedeuten. Ferner stehen ebenfalls Präsidentenwahlen an, zu denen der `ewige' Präsident und Lösungsgegner Rauf R. Denktas wahrscheinlich nicht mehr antreten wird. Dies könnte sich ebenfalls positiv auf die Lösungschancen auswirken.

Griechenland hat nach wie vor ein Interesse daran, daß die Türkei in die EU integriert wird und unterstützt seit einigen Jahren die EU-Perspektive der Türkei. Auch steht Griechenland dem Annan-Plan positiv gegenüber. Zwar wird Griechenland wohl nicht öffentlich gegen den Kurs der Republik Zypern agieren, aber diplomatisch auf Nikosia einwirken, ihre intransigente Haltung aufzugeben.

Unter diesen Umständen könnte die Republik Zypern zu der Einsicht gelangen, daß der bisherige politische Kurs ihr mehr schadet als Vorteile bringt. In der nächsten Zeit könnte die zyperngriechische Öffentlichkeit realisieren, daß es eine Illusion ist, zu glauben, ihre Maximalziele im Konflikt auf diese Weise durchsetzen zu können. Ihr derzeitiger Präsident Tassos Papadopoulos ist genauso wie Denktas ein `Hardliner', dessen Partei eigentlich nur eine Unterstützungsbasis von 15% der Wahlbevölkerung hat und im Februar 2003 nur durch die massive Unterstützung der AKEL (einflußreiche sozialistische Partei, die stets 30-35% der Wahlbevölkerung hinter sich weiß) die Wahlen für sich entscheiden konnte. Somit ist es nicht unwahrscheinlich, daß er die nächsten Wahlen verlieren könnte und damit eine neue Kompromißbereitschaft auf Seiten der Zyperngriechen zu verzeichnen sein könnte. Ein solches Szenario würde bedeuten, daß eine Konfliktlösung im Sinne einer Föderation auf Basis des Annan Plan schließlich doch erreicht werden könnte. Zweifelsohne wäre dies die beste Option. In Anbetracht der bisherigen Konfliktgeschichte sollte bereits jetzt eine Zwei-Staaten-Lösung durchdacht werden: Eine EU-Mitgliedschaft auch des Nordens (und damit offene Grenzen zwischen Inselnorden und Inselsüden); oder zwei Staaten, aber eine gemeinsame Vertretung in der EU, oder getrennte EU-Repräsentation.

Im Übrigen würde vielleicht sogar eine ernsthafte Debatte einer solchen Alternative auf zyperngriechischer Seite ein Umdenken und Einlenken fördern. Denn die Intransigenz der zyperngriechischen Seite lebt von der Gewißheit, daß sie den Alleinvertretungsanspruch hat, den ihr niemand wegnehmen kann - warum also einlenken?

Es sei abschließend daran erinnert, daß der Alleinvertretungsanspruch der Republik Zypern hauptsächlich auf die politische Anerkennung durch den UN-Sicherheitsrat ab 1964 zurückzuführen ist. Politische Entscheidungen aber lassen sich revidieren.

Dieser Beitrag erschien zuerst in: Roter Falke, Ausgabe 30, Februar 2005, S. 26-35.

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