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Realismus, Utopie und Selbstkritik

[Rezension]

von Christoph Jünke

Selbstkritik gehört zu jenen linken Begriffen, die nicht zu Unrecht reichlich in Mißkredit gekommen sind. Allzu oft bezeichnet sie jenes Unterwerfungsritual, das politischen Kontrahenten das persönliche Rückgrat brechen soll. Und doch kann Selbstkritik im wohlverstandenen Sinne etwas Befreiendes und Produktives sein. Vor allem dann, wenn sie weniger individuell gefaßt wird denn als Versuch einer selbstkritischen Bilanz eigener Tätigkeit im Kontext einer historisch gewordenen Bewegung, also auch mit dem Blick nach vorn. Peter von Oertzen ist so ein Mensch, der mir gezeigt hat, daß "Selbstkritik" etwas in diesem Sinne ungemein Befreiendes hat. Seine in den letzten Jahren zumeist in kleinen Zeitschriften wie "Sozialismus" oder, gelegentlich, auch der "SoZ" veröffentlichten Beiträge zur Kritik jener nun gesamtdeutschen Sozialdemokratie, für die er, wenn auch immer auf dem linken Flügel, im letzten halben Jahrhundert stand, sind bemerkenswerte Akte einer solchen Selbstkritik.

Vielleicht hängt diese Fähigkeit ja mit seiner Biographie zusammen. Geboren am 2. September 1924 in Berlin, gehört von Oertzen zu jenen Kindern aus sozial-konservativem Elternhaus, die durch die Kriegserfahrung in faschistischer Zeit gründlich desillusioniert wurden und deren ureigenster Realismus sie auf einem Weg geistiger Neuorientierung nach ganz links führte. Zwischen den Fronten des Kalten Krieges suchte er einen dritten Weg jenseits von realsozialistischem Politbürokratismus und realkapitalistischem Antisozialismus. Wohl wissend, daß einzig die klassenpolitische Selbsttätigkeit der lohnarbeitenden Klasse die Wege nach Utopia zu öffnen vermag, daß jedoch andererseits dieser Weg gerade deshalb kein automatisch sich durchsetzender, kein zwangsläufig vorherbestimmter ist, setzte er auf politische Lernprozesse dort, wo sich die realexistierende Arbeiterklasse in Westdeutschland politisch wiederfand, in der Sozialdemokratie. In den 50er Jahren arbeitete er als einer von sehr vielen linkssozialistischen (und kommunistischen!) "Entristen" in der SPD am Aufbau eines linkssozialistischen Flügels mit, der im Sinne Wolfgang Abendroths die Partei nach links ziehen sollte. Nachdem dieser Versuch Ende der 50er Schiffbruch erlitten hatte - Oertzen gehört zu den wenigen Sozialdemokraten, die der Godesberger Wende seiner Partei aktiv, aber vergeblich widerstanden haben - gründete er in den 60ern die sogenannten "Arbeitshefte" als publizistische Schnittmenge zwischen linker Sozialdemokratie und linker Gewerkschaftsszene. Die Revolte von 1968 brachte auch in sein Wirken neuen Schwung und bald schon wurde er niedersächsischer Kultusminister, Bundesvorstandsmitglied und Aushängeschild der sozialdemokratischen Programmdiskussionen.

Spätestens seitdem hat er keinen guten Ruf auf der radikalen Linken, denn mit einer tiefen Überzeugung, die er heute explizit für seinen größten politischen Fehler hält, unterstützte er damals u.a. die Berufsverbotspraxis gegen westdeutsche Kommunisten, während er sich gleichzeitig einsetzte für ebenfalls von diesen Berufsverboten betroffene Linkssozialisten unabhängiger oder trotzkistischer Provenienz. Nachdem sich der Sturm der roten 70er gelegt hatte, ging auch Oertzen zurück an die Universität und widmete sich wieder mehr der politischen Wissenschaft als der politischen Praxis.

Mitautor der in den 90er Jahren verfaßten und noch immer wichtigsten Klassenanalyse der heutigen Bundesrepublik ("Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel") war er bis zu seiner schweren Erkrankung Ende letzten Jahres einer der Initiatoren der "Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler" und kritischer Mitdiskutant sowohl in PDS-Kreisen als auch jenem Freundeskreis der Antikapitalistischen Linken, der im letzten Jahr manches innerlinkes Aufsehen erregte.

Leider sind diese letzten Jahre, in denen von Oertzen eine zum Teil heftige Selbstkritik an der realexistierenden Sozialdemokratie und auch seiner Verstrickung in deren Geschichte geübt hat, nicht in den soeben erschienenen Aufsatzband eingegangen, den enge Freunde in seinem Namen und anläßlich seines 80.Geburtstages herausgegeben haben.

Trotzdem ist der Band ein Verdienst und kommt nicht zur falschen Zeit. Es hat seinen eigenen Reiz, von einem politischen Praktiker wie Oertzen auf kleinem Raum theoretisch versiert erklärt zu bekommen, was eigentlich die dialektische Methode ist oder welche vielfältigen theoretischen Mißverständnisse dabei eine Rolle gespielt haben, daß die politische Linke die Rolle der Arbeiterklasse so reichlich mißverstanden und arbeitertümelnd eingeengt haben. Doch dies sind vor allem kleine Appetithäppchen für die großen Aufsätze des Bandes, in denen von Oertzen dem noch immer komplizierten Verhältnis von Demokratie und Sozialismus auf der Spur ist.

Von Oertzen zeigt sich hier als versierter und unbarmherziger Stalinismuskritiker, der jede Form linker erziehungsdiktatorischer Konzepte wohlbegründet ablehnt, ohne das utopische Ziel einer sozialistischen Demokratie aufzugeben. Leider nicht ganz so eindeutig bestimmt er das Verhältnis von bürgerlicher Demokratie und sozialistischer Bewegung. Zurecht von jener klassisch sozialistischen Sicht ausgehend, die die Demokratie weniger als formale Methode denn als soziale Bewegung der Subalternen versteht, kann er dies natürlich nicht konsequent durchhalten, da Demokratie eben auch eine formal bestimmte ist. Wie aber genau das Verhältnis von bürgerlicher Formaldemokratie und demokratisch-sozialer, über die bürgerliche Klassengesellschaft sozialistisch hinausgehender Bewegung aussehen kann und soll, bleibt unterbelichtet.

Dieses theoretische wie praktische Problem taucht in der Einleitung der Herausgeber interessanterweise wieder auf. Michael Buckmiller, Gregor Kritidis und Michael Vester schreiben dort, daß der moderne demokratische Verfassungsstaat, soziale Demokratie und demokratischer Sozialismus "im Grunde nichts anderes (sind) als der Versuch, diese Teilnahme (der Menschen an der Gestaltung ihres eigenen Schicksals) von dem Felde der Politik auch auf das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben auszudehnen". Was heißt: "im Grunde nichts anderes"? Und welche Bilanz müssen wir mit diesen "Versuchen" heute ziehen? Die Sozialdemokratie jedenfalls hat sich von diesem ehemaligen Ziel deutlich weg- anstatt zubewegt. Und nirgendwo ist ein glaubwürdiger Übergang vom einen zum anderen bisher gelungen.

Die zentralen Probleme, vor denen auch die deutsche Linke politisch wie theoretisch steht, sind noch immer ohne wirkliche Lösung. Die Erfahrung aber, die wir mit den vielfältig gescheiterten praktischen Versuchen haben, muß gehoben werden. Und sie kann nur ohne die typische Strömungsarroganz gehoben werden. Die theoretisch verarbeiteten Erfahrungen eines Peter von Oertzen werden in einer solchen Diskussion sicherlich nicht den letzten Platz einnehmen.

Peter von Oertzen: Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, Hannover: Offizin-Verlag 2004, 463 Seiten, 24 Euro

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sopos 11/2004