Zur normalen Fassung

Hartz IV

Wir fegen die Straße, wenn das Haus brennt

von Utz Anhalt (sopos)

Die Gesetze zur Zusammenlegung von Arbeit und Sozialhilfe sind sozial ungerecht - das ist in aller Munde, zumindest bei den ärmeren Teilen der Zweidrittelgesellschaft. Bei dem Ruf nach sozialer Gerechtigkeit gerät die Begründung dieses Gesetzentwurfes und seiner Begleitmusik (Ich-AGs etc.) leicht aus dem Blickfeld. Sehen wir uns einmal einen sogenannten Arbeitslosen an: einen Obdachlosen. Er ist ständig tätig, sucht nach einem Schlafplatz, bettelt (erarbeitet) sich sein Überleben, organisiert systematisch seine tägliche Existenz. Er arbeitet, er ist im Sinne der Lohnarbeit erwerbslos - ein Unterschied.

Eine andere Perspektive ist die einer Stellenausschreibung für Geisteswissenschaftler. 150 Bewerber kandidieren für ein Volontariat. Alle sind qualifiziert, viele haben einen zusätzlichen Bonus, Sprachkenntnisse oder Auslandsaufenthalte. Einer bekommt die Stelle, 149 nicht. Das ist Fakt - ob die Bewerbung eher nach dem Lotteriesystem oder Sympathie verläuft, ist unwichtig. Auf eine Stelle zur Fleischereifachverkäuferin kommen vielleicht "nur" acht Kandidaten. Nehmen wir an, vier von denen sind stinkefaul, subversiv oder haben Geschlechtsverkehr mit dem Teufel. Lassen wir sie kopfüber die Kartoffeln aus der Jauchegrube holen, schicken wir sie zum Steine schleppen, dann bleiben immer noch drei, die die eine Stelle nicht bekommen - die Anzahl der Stellen steigt nicht mit dem Anziehen der Daumenschrauben.

Die Idee der Ich-AG, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und die Zwei-Euro Jobs haben die gleiche Logik. Erwerbslose müssen mit Zuckerbrot und Peitsche an die (Lohn-)Arbeit gebracht werden. So etwas konnten sich nur Sozialdemokraten ausdenken.

Der Populismus von halblinks bis ganz rechts bekommt damit eine Steilvorlage; auch wenn manche subtiler argumentieren als die Greise von der MLPD mit "Hartz IV ist Dreck, und Dreck muß weg!" Man müsse von den Reichen statt von den Armen nehmen, Schröder soll in die CDU gehen und und und. Einfache Erklärungen gibt es viele; die Bündnispolitik der Anti-Hartz Demonstrationen wird fast nur noch von der Love Parade übertroffen. In Hamburg schaffte es der Lautsprecherwagen Parolen zur Rettung des Sozialstaates mit "Kapitalismus kann nicht reformiert werden" zu verbinden. Am Ende sang man Bandiera Rossa, um zu betonen, daß keine Faschisten auf der Demo sind.

Es ist richtig, wenn Menschen gegen Hartz IV auf die Straße gehen; ich finde es wichtig, die Schieflage nicht des Sozialstaates, sondern der Idee bloßzulegen. Das Kapital selbst weiß mit Outsourcing, Rationalisierung, Automatisierung und der "Flexibilisierung der Arbeitswelt" längst, was Sache ist. SPD-Politiker tun so, als ob die Arbeitsmarktsituation mit individueller Tüchtigkeit oder Moral zu tun hätte. Die Produktionskräfte haben ein Niveau erreicht, in dem wenige Spezialkräfte Arbeit steuern können, für die vor Jahrzehnten noch die Hände vieler nötig waren. Daran wird sich nichts ändern - im Gegenteil. Ärmel hochkrempeln und in die Hände spucken beim Ebay-Einkauf? Jedes Unternehmen, das auf den neuen Märkten bestehen will, wird die Zahl der Mitarbeiter minimieren. Wenige, mal wieder sozialdemokratische Politiker behaupten oder glauben, daß es für die Unternehmensstruktur eine Rolle spielt, ob der erwerbslose Binnenschiffer Manfred aus Magdeburg am Bahnhof sitzt und Schnaps trinkt oder im Stadtpark Laub harkt. Hartz IV und Ich-AG verbreiten die Illusion, daß diejenigen eine Chance hätten, die keine haben. Die Dead Zones in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern verwahren diese Menschen, von denen eine Schlagzeilen macht, weil sie als Pornostar in San Francisco angekommen ist. Wer in den Vorstädten von Paris oder den Barrios in Lateinamerika war, kennt diese Dead Zones. Eine Ökonomie, die die "Unqualifizierten" nicht braucht, weckt den Traum durch harte Arbeit aus der Schattenwelt zu entkommen. Die Kapitalströme fließen global, Mobilität und Schnelligkeit sind die Zauberworte des virtuellen Kapitalismus, der kaum etwas außer sich selbst reproduziert. Und während dieses scheue Reh Kapital mal hierhin, mal dorthin flieht, ist sich die Babyglatze aus Usedom sicher, daß an der sozialen Misere diejenigen schuld sind, die nicht genug angepackt haben.

Was heute Ich-AG heißt, waren früher Aushilfstätigkeiten, Nachbarschaftshilfe, Schwarzarbeiten oder Gefälligkeitsdienste. Sei es drum. Vielleicht sind wir bald mit einer Schwarzmarktkultur im Ostblockausmaß konfrontiert. Wer soll sie kontrollieren, die Überlebenskünstler, die Hamsterers, wie sie in den 1920er Jahren hießen? Ich-AG mit Zigarettenschmuggel als erstem und Gemüseanbau im Hinterhof als zweitem Standbein? Mafia meldet sich nicht arbeitslos. Warten wir es ab. Die "Verschlankung" der Unternehmen durch einen Tritt in den Allerwertesten derer zu zähmen, die von diesen Unternehmen weder gebraucht noch gewollt werden, kann nur von deutschen Sozialdemokraten kommen. Das Haus des "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz" steht in Flammen, was ein anständiger Sozialdemokrat ist, der hat einen Geistesblitz: Die Kellerbewohner fegen die Straße - vielleicht brennt das Haus dann weniger. Wenn der Straßenfeger Fortschritte macht, rettet Schröders Feuerwehr das soziale System. Margret Thatcher hat wenigstens nicht so viel Blödsinn erzählt.

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sopos 9/2004