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Der folgende Text ist das Vorwort aus Jürgen Elsässers neuem Buch „Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess". Wir danken der freundlichen Zustimmung des Kai Homilius Verlages.
 

Kriegslügen

Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess

von Jürgen Elsässer

 

Der deutsche Krieg

Der Krieg der Nato gegen Jugoslawien und die Lügen, die ihm vorausgingen und ihn begleiteten, sind Geschichte. Neue und grausigere Geschehnisse haben die Erinnerung an das Jahr 1999 überlagert: die Terrorangriffe des 11. September 2001 , die Niederwerfung Afghanistans im selben Jahr, der Feldzug gegen den Irak im Frühjahr 2003. Und während auf dem Balkan zumindest vorläufig Ruhe eingekehrt ist, geht in anderen Weltgegenden das Sterben weiter, nicht nur in den von den USA besetzten sogenannten Schurkenstaaten, sondern auch in Schwarzafrika, in Tschetschenien, in Kolumbien, in Israel und Palästina. Warum also sollte man ausgerechnet dieses Buch lesen?

Weil es um ein deutsches Verbrechen geht. Das hier behandelte Thema ist die Zerstörung Jugoslawiens, die im Krieg 1999 ihren Höhepunkt hatte, und diese Zerstörung war vor allem das Werk der deutschen Außenpolitik. Dabei wurde eine Traditionslinie sichtbar, die das gesamte zwanzigste Jahrhundert geprägt hatte. „Serbien muß sterbien“ war schon die Parole im Ersten Weltkrieg gewesen. Dieser begann 1914 als Rachefeldzug Österreichs und Deutschlands gegen die Serben, weil einer von denen es gewagt hatte, die Waffe gegen die Kolonialmacht auf dem Balkan zu erheben und den österreichischen Thronfolger zu erschießen. Die Rache war fürchterlich: Serbien verlor ein Viertel seiner Bevölkerung, 52 Prozent der erwachsenen Männer. Kein anderes Land hatte im Schlachten zwischen 1914-1918 prozentual einen ähnlich hohen Blutzoll zu entrichten.

Das 1918 aus dem bisherigen Königreich Serbien und den aus der Habsburgerherrschaft befreiten Gebieten gebildete Königreich Jugoslawien1 war dem Deutschen Reich auch im Zweiten Weltkrieg 15 ein Hindernis. Ein zunächst von der Belgrader Regierung mit Nazi-Deutschland geschlossener Pakt wurde Ende März 1941 durch putschende Militärs unter dem Jubel der Bevölkerung annulliert. Daraufhin überfielen die Nationalsozialisten das Land am 6. April 19 41 ohne Kriegserklärung. Aufgrund des unerwarteten Widerstandes wurden starke Wehrmachtsverbände auf dem Balkan gebunden, die dann zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 nicht zur Verfügung standen. Dieses Mal rächten sich die Angreifer noch schlimmer als im Ersten Weltkrieg: Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Wien schätzt, daß im Nazi-Satellitenstaat Kroatien ein Viertel der zwei Millionen Serben, 77 Prozent der über 30.000 Juden und 20.000 Zigeuner ermordet wurden. Das Alliierte Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg gab die Toten des faschistischen Terrors für ganz Jugoslawien mit 1.251.000 an – Opfer von Kriegshandlungen nicht mitgerechnet. Die meisten Morde fanden im berüchtigten kroatischen KZ Jasenovac statt, für den jugoslawischen Historiker Vladimir Dedijer „das jugoslawische Auschwitz“.

Nach Kriegsende wurde von den im Kampf gegen die Nazis erfolgreichen Partisanen Jugoslawien ein zweites Mal gegründet. Unter Führung von Staatschef Josip Brosz Tito galt das Land auch im Westen viele Jahrzehnte lang als Verwirklichung eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht.“ Das Einparteiensystem wurde nach dem Bruch mit der Sowjetunion 1948 durch weitreichende Mitentscheidungsmöglichkeiten der Bürger im Rahmen der Arbeiterselbstverwaltung demokratisiert, dem Staatsbesitz stand eine breite Palette von Betrieben im Eigentum der Beschäftigten und ein bürgerlicher Mittelstand gegenüber. Der Lebensstandard war in den sechziger und siebziger Jahren durchaus mit dem in Italien oder in Spanien vergleichbar, das Ausbildungsniveau und die Produktivität genossen internationale Anerkennung. Millionen von Urlaubern aus Westdeutschland lernten die Gastfreundschaft und Liberalität des Landes kennen, umgekehrt kamen viele Hunderttausend Jugoslawen als Arbeitsemigranten zu uns, manche blieben für immer. Auch der unpolitische Otto Normalverbraucher bekam in jener Zeit eine Ahnung davon, wie sehr der jugoslawische Staat auch noch seine zurückgebliebensten Regionen fit für den Weltmarkt machte: In fast jedem Supermarkt gab es Rotwein aus dem Kosovo – den Amselfelder (Amselfeld ist die deutsche Übersetzung für Kosovo Polje, die historische Zentralebene der Provinz). Die Vergabe der Olympischen Winterspiele im Jahre 1984 demonstrierte die Wertschätzung, die die Welt insbesondere dem Vielvölkerstaat Jugoslawien entgegenbrachte: Der Austragungsort Sarajevo stand für das gleichberechtigte Miteinander von Orthodoxen, Katholiken, Juden und Muslimen, das in dieser Form nirgendwo sonst in Europa gelungen war.

Als Ende der achtziger Jahre das Land in Schwierigkeiten geriet, traten die Großmächte in Ost und West zunächst für die Beibehaltung des Gesamtstaates ein und mahnten die abspaltungswilligen Teilrepubliken zur Zurückhaltung. Deutschland aber nutzte sein mit dem Anschluß der DDR gewonnenes Gewicht für einen Sonderweg: Im Jahre 1991 beschloß Bonn die einseitige Anerkennung von Kroatien und Slowenien und stachelte insbesondere die Regierung in Zagreb mit finanziellen Zusagen und Waffenlieferungen an. Hierbei spielte der Bundesnachrichtendienst eine wichtige Rolle, der seine vom NS-Geheimdienst in Kroatien übernommenen Agenten in der Sezessionsbewegung tätig werden ließ. Auch bei den nationalistischen Strömungen der Muslime in Bosnien-Herzegowina und bei den Albanern im Kosovo waren Kräfte aktiv, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert hatten. Beide Volksgruppen hatten für die SS eigene Divisionen gestellt.

Das wiedervereinigte Deutschland arbeitete also mit jenen Seilschaften zusammen, die schon dem Dritten Reich bei der Jagd auf Juden und Slawen hilfreich gewesen waren. Zusammen mit den USA, die nach dem Amtsantritt von Präsident William („Bill“) Clinton im Januar 1993 den aggressiven anti-serbischen Kurs übernahmen, forderte die deutsche Regierung im bosnischen Bürgerkrieg (1992 – 1995) ein einseitiges Eingreifen der Nato gegen die Serben, während Großbritannien, Frankreich und Rußland auf einer Vermittlung durch die UNO bestanden. Es gelte, Serbien „in die Knie zu zwingen“, so ein Bonmot des damaligen Außenministers Klaus Kinkel. Als Begleitmusik zur zunehmenden Einmischung auf dem Balkan nahm ab Ende der achtziger Jahre die anti-serbische Propaganda zunächst in Deutschland, dann in allen westlichen Staaten beträchtlich zu. Dieser Propaganda zufolge hatten die Serben schon in titoistischen Zeiten Jugoslawien beherrscht und die anderen Nationalitäten unterdrückt und ausgebeutet. Insbesondere seit dem Aufstieg Slobodan Milosevics zum starken Mann der Teilrepublik Serbien Mitte der achtziger Jahre habe sich diese Entwicklung verstärkt und dann in der Abschaffung der Autonomie für das Kosovo 1990 einen ersten Höhepunkt erfahren. Um dem Würgegriff des sogenannten großserbischen Nationalismus zu entkommen, hätte schließlich das „Völkergefängnis Jugoslawien“ – so die Standardformel der deutschen Presse – gesprengt werden müssen. Nach Ausbruch des offenen Bürgerkrieges wurden die Serben immer öfter mit den Nazis gleichgesetzt. Das war ein geschichtsvergessener Zynismus, hatten doch die Serben neben den Juden am meisten unter der Okkupation des Balkans durch die Nazis gelitten. Viele Politiker in den sezessionistischen Teilrepubliken beriefen sich dagegen ganz ungeniert auf faschistische Traditionen, ohne daß dies in der westlichen Öffentlichkeit registriert wurde.

Der Inhalt des Buches

Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit, hört man oft. Doch der Satz ist falsch oder zumindest ungenau: Die Wahrheit stirbt lange vor dem Krieg, sonst gelänge es gar nicht, ihn zu entfesseln. In diesem Sinne können die eben referierten Stereotype, mit denen die Bevölkerung in den gesamten neunziger Jahren in den Massenmedien indoktriniert wurde, in ihrer Bedeutung als massenpsychologische Kriegsvorbereitung gar nicht überschätzt werden. Im Dokumentenanhang findet der interessierte Leser Material, um diese Propaganda mit den Tatsachen zu vergleichen. Der wissenschaftliche Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit der Intervention der Nato 1999 im engeren Sinne und zerfällt in drei Hauptkomplexe: die Lügen vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg.

Das Schlüsselereignis, das den direkten deutschen Kriegseintritt vorbereitet, fand noch während der Kämpfe in Bosnien statt: die Eroberung der muslimischen Enklave Srebrenica durch serbische Streitkräfte im Juli 1995. Ohne dieses Ereignis oder vielmehr die Verzerrung dieses Ereignisses in der öffentlichen Darstellung wäre es niemals zur späteren Kriegsteilnahme der Bundeswehr gekommen. Bis Mitte 1995 gab es in der deutschen Gesellschaft nämlich einen starken Widerstand gegen Bundeswehreinsätze im Ausland, der von der SPD noch 1994 bis vor das Bundesverfassungsgericht getragen worden war. Erst durch Falschdarstellung der tragischen Ereignisse in Srebrenica wurde diese Opposition gebrochen. „Srebrenica war für mich die Wende“, nämlich die Wende zur Befürwortung militärischer Gewalt – diese Feststellung des späteren Außenministers Joseph („Joschka“) Fischer galt für die Mehrheit der Deutschen. In diesem Sinne könnte man die damalige Medienmanipulation als „die Mutter aller Lügen“ bezeichnen, jedenfalls in der Bundesrepublik.

Im Jahr vor der Nato-Aggression rückte das Kosovo ins Zentrum der bundesdeutschen Politik und der Medien. Gezielt wurde der Eindruck erweckt, als herrschten in der Provinz völkermörderische Zustände – das war später die Hauptlegitimation, mit der das kriegerische Eingreifen als Akt der Notwehr verkauft werden konnte. Die Wirklichkeit sah anders aus: Zwar boykottierte die große Mehrheit der Kosovaren seit der Beschneidung der Autonomie ihrer Provinz im Jahre 1989/90 die jugoslawischen und serbischen Institutionen, doch die Spannungen waren in den Folgejahren abgeflaut. Nur weil die Extremisten sich mit Waffen ausrüsten konnten, verschlechterte sich ab 1996/97 die Lage in der Provinz. Verantwortlich hiefür waren militärische Lieferungen aus dem gesetzlosen Nachbarstaat Albanien sowie finanzielle und logistische Hilfe aus Deutschland.

Während die Bundesregierung also eine erhebliche Mitschuld am Entstehen der albanischen Untergrundbewegung UCK trägt, führte die US-Administration diese Organisation noch bis zum Frühjahr 1998 auf der Liste der zu bekämpfenden „terroristischen Organisationen.“ Berlin und Washington setzten in der Folge sowohl in den Nato-Gremien wie auch auf der Konferenz von Rambouillet gezielt auf Eskalation. Die Erfindung eines serbischen Massakers in Racak Mitte Januar 1999, das für die Auslösung des Krieges entscheidend war, war ein Gemeinschaftswerk der deutschen und US-amerikanischen Politik.Ausschließlich „made in Germany“ war der dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zugeschriebene Hufeisenplan. Mit Verweis auf die darin angeblich vorgesehene ethnische Säuberung des Kosovo konterte die Bundesregierung erfolgreich die Kriegsmüdigkeit, die sich in den ersten Tagen nach Bombardierungsbeginn ( 24. März 1999 ) in der Öffentlichkeit einstellte. Während Fantasiemeldungen über angeblich Hunderttausende getötete Albaner in der Folge zum Standardrepertoire der Propaganda in allen westlichen Ländern gehörte, blieben exzessive Vergleiche zwischen der serbischen und der nationalsozialistischen Politik eine deutsche Spezialität. Nach dem Waffenstillstand am 10. Juni 1999 übernahm die Bundeswehr einen der fünf Nato-Besatzungssektoren im Kosovo und zeichnete sich durch ein ausgesprochen laxes Verhalten gegenüber den UCK-Terroristen aus. Das daraus notwendig folgende Übergreifen der albanischen Guerilla vom Kosovo auf Südserbien und Mazedonien wurde von Außenminister Fischer mit dem Ausspruch „Die albanische Frage ist offen“ belohnt.

Der deutsche Diplomat Michael Steiner sorgte als Leiter der UNZivilverwaltung der Provinz überdies dafür, daß die aus der UCK hervorgegangene politische Partei PDK zu Beginn des Jahres 2002 federführend an der Regierung beteiligt wurde. Diese übt seither immer stärkeren Druck auf die Umwandlung des UN-Protektorats in einen eigenen Staat aus, ihre außerparlamentarischen Aktivisten fordern gar die Vereinigung mit anderen Gebieten zu einem Großalbanien.

Ein Resümé

Läßt man die neunziger Jahre Revue passieren, so sind in der Folge der Einmischung der Nato aus Titos Vielvölkerstaat selbständige Mini-Republiken entstanden, die alle ethnisch homogen sind: Slowenien, Kroatien und das streng in einen serbischen sowie einen kroatisch-muslimischen Teil gespaltene Bosnien-Herzegowina. Eine ethnisch gesäuberte Kosovo-Republik würde den Reigen vervollständigen. Einzig die Republik Serbien hat, der westlichen Propaganda zum Hohne, ihre Multikulturalität bewahrt und ist Heimat auch für viele nicht-serbische Minderheiten geblieben.

Mit der auf westlichen Druck im Januar 2003 erfolgten Auflösung der Bundesrepublik Jugoslawien, die Serbien 1992 zusammen mit Montenegro als kleinen Nachfolger der vorherigen sozialistischen föderativen Republik gebildet hatte, erlischt jede Erinnerung an „Brüderlichkeit und Einheit“ (Tito) zwischen den verschiedenen Balkanvölkerschaften. Mit anderen Worten: Während die Mächtigen der Nato und der Europäischen Union viel von einer transnationalen Vereinigung der Welt im Rahmen der Globalisierung fabulieren, haben sie die transnationale Vereinigung, die es in Südosteuropa in Gestalt Jugoslawiens gab, zerstört.

Ohne Zweifel tragen die Vereinigten Staaten die Hauptverantwortung für die Kriegführung gegen Jugoslawien und die oft gezielte Bombardierung der Zivilbevölkerung. Hinter dieser Feststellung sollte aber nicht die Tatsache verschwinden, daß Deutschland durch die frühzeitige Unterstützung der sezessionistischen und terroristischen Bewegungen den Zerfall Jugoslawiens 1990/91 und die Krise im Kosovo überhaupt erst provoziert hat. Zusammenfassend könnte man sagen: Die Krauts waren die Brandstifter, die Yankees löschten mit Benzin.

Der Krieg gegen Jugoslawien war der erste Krieg in der Geschichte der Nato und der erste Krieg in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zu seiner Entfesselung wurde das Völkerrecht gleich mehrfach gebrochen – sowohl die UN-Charta, wie das Nato-Statut und das Grundgesetz verbieten einen Angriffskrieg. Es sollte auch nicht vergessen werden, daß es eine Bundesregierung aus Sozialdemokraten und Grünen war, die die Aggression autorisiert und sogar mit vorangetrieben hat. Besonders deprimierend ist, daß der vorher und später verspottete Verteidigungsminister Rudolf Scharping ausgerechnet in jener Zeit den Höhepunkt seiner Popularität erreichte, als er die absonderlichsten Lügengeschichten erzählte.

Die deutschen Medien brauchten keinen Joseph Goebbels, der sie zur Gleichschaltung zwang. Auch im Nachhinein kann von einer kritischen Aufarbeitung nicht die Rede sein, obwohl gerade der Haager Prozeß gegen Milosevic eine Fülle an Details zu Tage förderte, die kritische Journalisten zum Nachdenken bringen müßte.

Durch den Angriff auf Jugoslawien hat sich Deutschland verändert – zur Kenntlichkeit verändert, muß man angesichts der deutschen Geschichte sagen. Mit dem ersten Sieg in einem Krieg seit 1871 sind einige der Verantwortlichen übermütig geworden. Die Verteidigung Deutschlands finde am Hindukusch statt, lautet jetzt die Devise. Wo soll das enden? Wo werden wir in zehn Jahren stehen?

Doch die Sorge des Autors gilt weniger den Deutschen als den Jugoslawen – und jenen, die ihr Schicksal in Zukunft teilen werden. Viele von uns hier haben unter den Lügen der Politiker und der Medien gelitten. Die Menschen auf dem Balkan aber haben unter den Bomben gelitten.

 

Jürgen Elsässers Buch "Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess" ist im Kai Homilius Verlag erschienen und kann dort in der edition zeitgeschichte bestellt werden.

ISBN 3-89706-884-2, 336 s., geb., 18 EUR

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https://sopos.org/aufsaetze/4061d1f88f092/1.phtml

sopos 3/2004