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"Ich glaube an die Mittel der Aufklärung"

Interview mit Micha Brumlik über die Aktualität des Antisemitismus in Deutschland und anderswo



Die Bundeswehr schützt in Kabul einen antisemitischen Premierminister. Ob sich Verteidigungsminister Struck das so gedacht hat, als er meinte, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt?

Frage: Nach 1945 gingen selbst kritische Zeitgenossen davon aus, daß mit der Niederringung des Nationalsozialismus auch der Antisemitismus zu einer marginalen Erscheinung geworden sei. Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland heute ein?

Brumlik: Aus Umfragen wissen wir, daß im Vergleich zu den 1950er Jahren die Anzahl der Personen, die sich in irgendeiner Weise gegenüber Juden oder dem Judentum feindlich äußern, von etwa 60 auf 25 Prozent zurückgegangen ist. Und zwar insbesondere bei gebildeteren Schichten und in den großen Städten. Das bedeutet natürlich nicht, daß antisemitische Haltungen und Neigungen völlig verschwunden sind, sie standen nur jahrelang unter einem sehr starken politischen Meinungsdruck. In letzter Zeit schöpfen aber diejenigen, die bei solchen Haltungen verblieben sind, wieder Mut und bekunden ihre Ansichten auch öffentlich. Das hat sich im Gefolge der Skandale um Martin Walser und Jürgen Möllemann angebahnt. Walser fungierte mit seiner Friedenspreisrede und insbesondere mit seinen späteren Ausfällen gegen Ignatz Bubis ebenso als "Eisbrecher" wie Jürgen Möllemann mit seiner antisemitischen Kampagne gegen Michel Friedman. Inzwischen, das wissen wir etwa aus einer Untersuchung von Klaus Ahlheim von der Universität Essen, nimmt auch unter akademischen Gebildeten und Studierenden eine bestimmte Form der Judenfeindschaft, die den Juden vorwirft, den Holocaust wirtschaftlich auszubeuten, wieder zu. Hier geht man von etwa 15 Prozent mit antisemitischen Ansichten aus.

Frage: Innerhalb Deutschlands äußert sich Antisemitismus in unterschiedlichen Formen, bis hin zu Mordanschlägen auf Synagogen.

Brumlik: Die Schwierigkeit in Deutschland besteht darin, und dafür gibt es natürlich gute historische Gründe, daß man immer an die Gaskammern von Birkenau oder Treblinka denkt, wenn man "Antisemitismus" hört. Das Verlangen danach würde ich den Leuten, die sich heute judenfeindlich äußern, nicht unterstellen. Im übrigen spreche ich immer dann von "Judenfeindschaft" und nicht von "Antisemitismus", wenn dahinter "nur" ein dumpfes Ressentiment, aber keine ausgeformte Ideologie steht. Es handelt sich bei den heutigen Judenfeinden und ihren Äußerungen um das, was die jüdische Schriftstellerin Ruth Klüger einmal so genannt hat: "... das ist der gute alte Rischus, Risches". "Risches" war um 1920 herum ein volkstümlicher jüdischer Ausdruck für das judenfeindliche Ressentiment, das aber nicht unbedingt mörderisch sein mußte. Also ein kultureller Code, mit dem man unverstandene gesellschaftliche Umstände, Ressentiments, Aggressionen und anderes auf Juden richtet.

Frage: Aber darin erschöpft sich doch Antisemitismus in Deutschland heute nicht. Wenn Juden - wie in Berlin geschehen - allein wegen des Tragens eines Davidsterns auf offener Straße angegriffen werden, äußert sich eine sehr aggressive Form der Judenfeindschaft.

Brumlik: Es gibt in Deutschland tätliche Angriffe auf Juden oder auf Personen, die für Juden gehalten werden. Zwar glücklicherweise sehr viel weniger als etwa in den 90er Jahren gegen Personen mit dunkler Hautfarbe oder bunten Haaren, aber natürlich: Jeder Angriff ist einer zuviel.

Frage: Gibt es heute einen spezifisch deutschen Antisemitismus? Etwa in Form des sekundären Antisemitismus, bei dem die Juden gerade ‚wegen Auschwitz' gehaßt werden?

Brumlik: Mein Eindruck ist, daß im Zuge der "Renormalisierung" Deutschlands diese Form des verdrängenden Antisemitismus - Martin Walser hat ihn in seiner Friedenspreisrede artikuliert - gerade unter Jüngeren an Boden verliert. An seine Stelle tritt ein unartikuliertes Ressentiment, das sich vor allem an der israelischen Besatzungspolitik festmacht.

Frage: Sie sagen, daß die heutigen Formen nicht identisch seien mit dem Antisemitismus, der zu den Gaskammern von Auschwitz geführt hat. Besteht dennoch die Gefahr einer Wiederholung?

Brumlik: Grundsätzlich ja, aber man muß sich einen gewissen soziologischen Realismus bewahren. Die Gaskammern von Auschwitz konnten sich nur im Laufe eines Krieges und unter den Bedingungen einer willkürlichen, rechtsstaatsfeindlichen und undemokratischen Diktatur entwickeln. Daß so etwas heute, auch in Zeiten der Krise, absehbar ist, dafür spricht derzeit überhaupt nichts. Was möglich und absehbar ist, sind Pogrome, Stimmungsmache in den Medien sowie massive Kränkungen auf der Ebene des Alltags. Das alles wäre furchtbar genug, hat aber mit "Auschwitz" nichts zu tun.

Frage: Sie sind also verhalten optimistisch. Gehen Sie als Erziehungswissenschaftler davon aus, daß dem Antisemitismus mit pädagogischen Mitteln beizukommen ist?

Brumlik: Ich glaube an die Mittel der Aufklärung, und die letzten Jahrzehnte der BRD belegen ihre Wirksamkeit. Es ist kein großer, aber doch ein deutlicher Erfolg, wenn erklärte Judenfeindschaft von etwa 60 Prozent in der Nachkriegszeit auf heutzutage 25 zurückgegangen ist. Aufklärung alleine tut es freilich nicht, wenn die sozialen Bedingungen so sind, daß Menschen ihre Ressentiments ungezügelt entfalten können. Mein verhaltener Optimismus bezieht sich nur darauf, daß sich so etwas Monströses wie Auschwitz - nach allem, was wir derzeit wissen - nicht wiederholen wird. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß es in Deutschland immer wieder Überfälle auf Juden und Farbige gibt.

Derzeit kommt es darauf an, keine französischen Verhältnisse entstehen zu lassen. Dort ist der Judenhaß gegenwärtig sehr viel stärker und verbleibt nicht nur im Meinungsbereich, sondern äußert sich durch eine Fülle von Angriffen, Friedhofsschändungen oder Brandanschlägen auf jüdische Institutionen. Diese Anschläge werden nicht so sehr von der traditionell antisemitischen Rechten um Le Pen verübt, sondern von männlichen Migranten aus nordafrikanischen Staaten, vornehmlich aus Algerien. Der französische Sozialwissenschaftler Pierre André Taguieff konnte freilich auch zeigen, daß es hier Querverbindungen von Islamisten zur traditionellen revisionistischen Rechten und zu Auschwitzleugnern gibt.

Frage: Nicht nur in Frankreich kleidet sich der Antisemitismus oft in antizionistische Parolen. Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt für den heutigen Antisemitismus?

Brumlik: Antisemitismus ist lange vor dem Nahostkonflikt entstanden und hat unabhängig von ihm weiterexistiert. Aber Leute mit antisemitischen Einstellungen sehen sich in ihrem einseitigen Blick auf die - in der Tat völkerrechts- und menschenrechtswidrige - Besatzungspolitik der gegenwärtigen israelischen Regierung bestätigt. Insofern spielt die furchtbare Tragödie des Nahostkonfliktes eine katalysatorische Rolle, ohne für den Antisemitismus ursächlich zu sein.

Frage: Halten Sie die Formulierung "Israel ist der Jude unter den Staaten" für sinnvoll?

Brumlik: Diese Redewendung des französisch-russisch-jüdischen Forschers Léon Poliakov finde ich deshalb sinnvoll, weil man nur eine Zeitung aufschlagen muß, um zu sehen, daß es an vielen anderen Orten der Welt eine mindestens ebenso brutale Besatzungspolitik gibt. Nur interessiert das kaum jemanden. Man denke nur an Tschetschenien.

Frage: Gegen die UNO wird in diesem Zusammenhang der Vorwurf erhoben, sie neige zur einseitigen Verurteilung Israels.

Brumlik: Die Rolle der UNO hat sich in den letzten Jahren gebessert. Nach wie vor als unverzeihlich empfinde ich die Resolution der UN-Vollversammlung von 1975, die den Zionismus pauschal als Rassismus qualifizierte. Bei einer Reihe von Organisationen unterhalb der Vollversammlung, etwa bei der UNESCO, muß man eine anti-israelische Blickverengung feststellen. Diese zeigte sich auch auf der Anti-Rassismus-Konferenz der UN in Durban 2001, wo die NGO leider ebenfalls eine fragwürdige Rolle gespielt haben. Wenn innerhalb der UNO andere Menschenrechtsverletzungen mit der gleichen Energie verurteilt würden, müßte man den Vorwurf der Einseitigkeit gar nicht erheben.

Frage: Wie schätzen Sie diesbezüglich die deutsche Außenpolitik ein?

Brumlik: Gerhard Schröder hat bei seiner jüngsten Reise durch arabische Staaten den israelischen Angriff auf Syrien kritisiert. In der Sache würde ich ihm durchaus beipflichten. Schröder scheint aber nicht bemerkt zu haben, daß dieser Vergeltungsschlag auf das Djihadlager überhaupt keiner anderen Logik gefolgt ist als der Krieg der NATO gegen Taliban-Afghanistan. Damals war der Bundeskanzler vollmundig mit unbegrenzter Solidarität dafür. Heute verurteilt er Israel für eine im Grundsatz identische militärische Operation. Das zeigt eine gewisse Unwahrhaftigkeit.

Frage: In der UNO wird vor allem von Dritte-Welt-Staaten Front gegen Israel gemacht. Ist die Dämonisierung Israels Ausdruck eines fehlgeleiteten antiimperialistischen und antikolonialen Weltbildes?

Brumlik: Auf jeden Fall. Fehlgeleitet ist sie insofern, als dem Staat Israel eine besondere Rolle bei der Aufrechterhaltung ungerechter und neokolonialer Verhältnisse im Mittleren Osten zugewiesen wird. Dabei würde ein Blick auf Saudi-Arabien genügen, um zu zeigen, daß die Politik dieses Staates mindestens ebenso destruktiv ist. Der Antisemitismus beginnt dort, wo das von Juden begangene Unrecht stärker gewichtet, gefürchtet und bekämpft wird als das Unrecht anderer.

Frage: Das israelische Stephen Roth Institute führt den Anstieg von antisemitischen Aktivitäten in den Jahren 2002/ 2003 unter anderem auf den Irakkrieg zurück, der weltweit antiamerikanische und antiisraelische Stimmungen ausgelöst habe. Teilen Sie diese Einschätzung als Gegner des Irakkrieges?

Brumlik: Mich hat bei der Debatte über den Irakkrieg von Anfang an irritiert, daß man sehr leichtfüßig den Protest gegen die Politik der USA als Antiamerikanismus bezeichnet und dann in einem zweiten Schritt in vielen Fällen den Antiamerikanismus mit Antisemitismus gleichgesetzt hat. Zum einen, weil nicht jeder Protest gegen die Kriegsführung im Irak antiamerikanisch ist, zum anderen weil Antiamerikanismus nicht dasselbe ist wie Antisemitismus. Obwohl es historisch nicht zu bezweifeln ist, daß zumindest im Nationalsozialismus sich der Hass auf die Juden immer auch auf die USA bezogen hat - aber zugleich auch auf die Sowjetunion.

Dennoch hat der Irakkrieg eine katalysatorische Rolle für antisemitische Stimmungen gespielt. Bei Anti-Kriegs-Demonstrationen habe ich Bilder und Karikaturen gesehen, hakennasige Personen mit krausem Haaren, Wulstlippen und bluttriefenden Händen, in der einen ein Dollarschein, in der anderen einen Globus. Das ist die Ikonographie des Antisemitismus der 1920er und 30er Jahre. Und innerhalb von Attac gibt es heftige Debatten um Antisemitismus anläßlich der Frage, ob man den Export von Waren aus dem Westjordanland, der über Israel läuft, boykottieren soll.

Frage: Viele Kritiker des Antisemitismus stellen fest, daß dieser derzeit besonders in den arabischen Ländern virulent ist. Gibt es einen spezifisch arabischen Antisemitismus?

Brumlik: Ganz offensichtlich, wobei wir genauer von einem islamistischen Antisemitismus sprechen müssen. Die in der Antike entstandenen judenfeindlichen Aussagen des Korans sind in den 1920er und 30er Jahren von den Ideologen der Muslimbrüder Hassan al-Banna und Sayyid Qutb zusammen mit Versatzstücken des europäischen Antisemitismus und Rassismus in eine totalitäre antisemitische Ideologie verwandelt worden. Sie findet sich in Reinkultur bei der Charta der Hamas von 1988 wieder, in der die Juden und die Zionisten als Urheber der französischen und der russischen Revolution wie auch der Weltkriege bezeichnet werden.

Frage: Antisemitische Strömungen hat es doch nicht nur in der islamistischen, sondern auch in der säkularen panarabischen Bewegung gegeben.

Brumlik: Natürlich, aber mein Eindruck ist, daß derzeit alles vom radikalen Islamismus aufgesogen wird. Ich würde heute sogar bewußt von einem "islamischen Antisemitismus" sprechen, oder besser von einem Antisemitismus des politischen Islam. Die antisemitische Rede, die der scheidende malaysische Premier Mahatir kürzlich auf dem Kongreß Islamischer Länder (OIC) gehalten hat, wurde von allen anwesenden Regierungsvertretern mit prasselndem Beifall bedacht. Diese Ansprache war die erste Rede eines Staatsmanns seit Adolf Hitler, in der nicht "nur" der Zionismus, sondern "die Juden" einer Weltverschwörung verdächtigt wurde.

Von besonderer Ironie ist, daß auch der als Staatsmann auftretende Bürgermeister von Kabul, Hamid Karsai, Beifall spendete. Die Bundeswehr schützt in Kabul also einen antisemitischen Premierminister. Ob sich Verteidigungsminister Struck das so gedacht hat, als er meinte, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt?

Frage: Ist der Antisemitismus in arabischen Ländern ein "Import" aus Europa und Deutschland?

Brumlik: Das ist nicht ganz falsch. Die islamischen Gesellschaften waren den Juden gegenüber, wie übrigens auch den Christen, in sehr unterschiedlicher Weise tolerant. Mit dem Ende des Osmanischen Reiches, mit der christlichen Mission und mit der Unterstützung christlicher Minderheiten durch die europäischen Mächte zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten christlich-antijudaistische und bald auch rassistische Ideologeme - vor allem der Kindermordvorwurf - im arabischen Raum Fuß fassen. Richtig ist auch, daß islamistische Ideologen wie Sayyid Qutb, die sich im Westen aufgehalten haben, offensichtlich von dort etwas importiert haben. Diese Ideologeme sind aber nicht gegen den Willen der Bevölkerung eingeschleppt worden, es gab auch aktive Aneignungsprozesse.

Frage: Ist es gerechtfertigt, von großen ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen dem islamistischen Antisemitismus und der NS-Ideologie zu sprechen, wie beispielsweise Matthias Küntzel in seinem Buch "Djihad und Judenhaß"?

Brumlik: Diese These ist teils richtig, teils nicht ganz so stimmig. Eines muß man dem Islamismus zu Gute halten: er ist nominell nicht rassistisch. Schon allein deswegen, weil die islamistischen Ideologen die Evolutionstheorie ablehnen. Aber wenn man einmal von dieser Unterscheidung absieht: Ihr Hass auf die Juden erstreckt sich keineswegs nur auf das strittige Gebiet Israel/Palästina, sondern auch auf die USA. Diese erscheinen im Blick der radikalen Islamisten - und hier stimmt die Verbindung von Antiamerikanismus und Antisemitismus - als ein Gebilde von Juden und Kreuzfahrern. Hierin steht der radikale Islamismus der NS-Ideologie sicher am nächsten.

Frage: Sie haben sich viel Ärger zugezogen, als Sie den Suhrkamp-Verlag aufforderten, das Buch "Nach dem Terror" des Philosophen Ted Honderich zurückzuziehen. Sie begründeten dies damit, Honderich verbreite darin "antisemitischen Antizionismus". Worin besteht das Antisemitische in Honderichs Aussagen?

Brumlik: Daß er nach einer genauen Aufzählung des ganzen Elends in der Welt und nach Überlegungen, wo es überall Widerstand dagegen geben könne, nur den islamistischen Terrorismus der Hamas, des islamischen Djihad und der Al Aksa Brigaden rechtfertigt. Honderich schreibt, daß palästinensische Terroristen, die einen Autobus mit Kindern in die Luft jagen, ein moralisches Recht ausübten. Nach gewundenen Untersuchungen kommt er zu dem Schluß, daß die Anschläge vom 11.9.2001 nicht gerechtfertigt gewesen seien, weil hier keine echte Erfolgsaussicht auf eine Verbesserung des Elends in der Welt bestünde, wohl aber die Anschläge in Israel. Wenn der Erfolg das Kriterium ist, dann versteht der Autor entweder von der dortigen Lage überhaupt nichts, oder aber eine gewisse Wut auf die Juden ist bei ihm so groß, daß er entgegen der eigenen utilitaristischen Logik für Mordtaten speziell gegen Juden plädiert.

Frage: Honderich würde Ihnen entgegenhalten, daß es ihm nicht darum geht, Hass auf Juden zu verbreiten, sondern daß "Widerstandsaktionen" auf Grund der Besatzungspolitik Israels moralisch gerechtfertigt seien.

Brumlik: Wenn palästinensische Organisationen israelische Besatzungssoldaten angreifen würden, dann fiele das unter den völkerrechtlich geregelten Kombattantenstatus. Das Problematische und Provozierende an Honderich war ja, daß er ausdrücklich Terror auch und gerade gegen israelische Zivilpersonen moralisch rechtfertigt. Und ich glaube, er weiß, wovon er schreibt. Er meint Brand- und Mordanschläge auf unschuldige Einzelpersonen. Damit vertritt er im besten Fall eine Theorie der Kollektivschuld, die ebenso untragbar ist wie die Annahme, daß Unschuldige aus einem Erfolgskalkül heraus getötet werden dürfen. Mit dieser Begründung sind alle politischen Massenmorde des 20sten Jahrhunderts und auch noch des beginnenden 21sten gerechtfertigt worden. Der Hinweis, daß die Liquidationspolitik der gegenwärtigen israelischen Regierung - die Putativerschießungen vermeintlicher palästinensischer Terroristen - nichts anderes tut, ändert daran nichts. Denn auch diese Politik ist moralisch nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern verwerflich.

Frage: Ist Honderich repräsentativ für große Teile der linken Akademiker?

Brumlik: Zumindest in Großbritannien ist Ted Honderich keineswegs der einzige Wissenschaftler, der beispielsweise einen Boykottaufruf gegen israelische Wissenschaftsinstitutionen unterschrieben hat. Es hat dort vielfältige Bemühungen gegeben, die Zuschüsse der EU für israelische Wissenschaftsorganisationen zu streichen. Es gab auch Fälle, wo ohne jede Betrachtung der persönlichen politischen Haltung der israelischen Wissenschaftler Beiträge in britischen Fachzeitschriften nicht mehr gebracht wurden. Diskriminierende - und das heißt in diesem Fall rassistische - Politik beginnt, wenn jemand allein auf Grund der ethnischen Zugehörigkeit stigmatisiert und gebannt wird.


Das Interview führte Christian Stock, Mitarbeiter im iz3w.
Micha Brumlik ist Professor für Theorien der Bildung und Erziehung an der Universität Frankfurt/M. sowie Direktor des Fritz Bauer Instituts - Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust und seiner Wirkung. Schon seit vielen Jahren mischt er sich in die Debatten um Antisemitismus, Erinnerungspolitik und den Nahostkonflikt ein, unter anderem mit den Buchveröffentlichungen "Kein Weg als Deutscher und Jude" (Berlin 2000) und "Deutscher Geist und Judenhaß" (München 2000). Im August 2003 forderte Brumlik in einem Offenen Brief den Suhrkamp-Verlag auf, das Buch "Nach dem Terror" des britischkanadischen Philosophieprofessors Ted Honderich aus dem Programm zu nehmen, weil es "antisemitischen Antizionismus" verbreite.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt - iz3w, Nr. 273.

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sopos 12/2003