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Modernisierungsgewinner an der Kahlschlagpolitik

Widerworte gegen den neoliberalen mainstream

von Jürgen R. Karasch

Die ökonomische und sozialstaatliche Krise in Deutschland wird von den hiesigen wirtschaftspolitischen Eliten genutzt, um den Sozialstaat schrittweise zu entsorgen.

Der neoliberale mainstream in Politik, Arbeitswelt und Wissenschaft ist mächtiger denn je. Unanfechtbar erscheint die mediale Hegemonie der Modernisierungsgewinner. Ihre Annahmen über die Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung, auch über die angebliche Reformunfähigkeit des Landes sowie über die Ursachen der ökonomischen Schwierigkeiten bestimmen den öffentlichen Diskurs. Die Neoliberalen scheinen die Hoffnung zu haben, daß - indem viele ihre Rezepte nachbeten - die Unwahrheit zur Wahrheit werde.

Neoliberale Forderungen:

Tatsächlich sind jedoch weder die sogenannte Reformunfähigkeit noch die "Modernisierung", d.i. Abschaffung der Sozialsysteme, Ursache der ökonomischen Probleme. Das Allheilmittel zur Krisenbewältigung kann zudem nicht in der Senkung der "Lohnnebenkosten" liegen. Es gab auch keinen "Reformstau", oder allzu lang hinausgezögerte, längst fällige Reformen. Schrittweise Veränderungen, die der ungeheuren Komplexität der modernen Systeme adäquat sind, finden unentwegt statt. Das Problem liegt vielmehr in der Hektik: Während der nächste Reformschritt schon geplant wird, ist der letzte noch gar nicht beendet, d.h. seine Wirkung analysiert. Dem Reformprozeß täte daher eine etwas ruhigere Hand gut.

Sparpolitik verhält sich in dieser Zeit wirtschaftlichen Abschwungs prozyklisch und damit gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv. So erlahmt gerade wegen der Einsparungen im Sozialbereich sowie aufgrund der Steuersenkungen für das Großkapital die Wirtschaft noch mehr, woraufhin die Staatseinnahmen weiter sinken und der Subventionsbedarf der Sozialkassen zunimmt, so daß am Ende eines solchen gesamtwirtschaftlichen Wirkungsprozesses gerade die Sparabsicht den Sparerfolg zunichte macht. Dabei sind die Nutznießer des Sozialbereichs Menschen mit niedrigem Einkommen oder Bezieher von Lohnersatzleistungen, die jeden Euro ausgeben müssen und damit die Binnennachfrage stärken, während mittlere und höhere Einkommensbezieher jeden überschüssigen Euro sparen oder gewinnbringend anlegen und damit die konjunkturelle Binnennachfrage schwächen.

In einer solchen Situation bräuchte es nicht weniger, sondern mehr Staat, und er müsste auf allen Ebenen investieren, anstatt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, auf die Einhaltung der ökonomisch unsinnigen und politisch willkürlichen Maastricht-Kriterien zu achten. Zwar hat der staatliche Schuldenberg inzwischen die Höhe von mehr als 1200 Milliarden Euro erreicht, doch stehen dem Schuldenberg auch private Vermögenswerte in mindestens gleicher Höhe gegenüber. Die nächste Generation erbt zwar die Schulden, aber zugleich auch eine intakte Infrastruktur und zusätzlich die Anleihen, mit denen der Staat diese Investitionen finanziert hat.

Im übrigen müßte der Staat ja gar nicht so viele Schulden machen, wenn er, statt Ausgaben zu kürzen, seine Einnahmeseite verbessern würde, indem er die Vermögenden und die Kapitalgesellschaften endlich im vergleichbaren Umfang wie die Arbeitnehmer zur Steuerkasse bitten würde.

Umgekehrt könnte das Problem gelöst werden: Die Beitragszahlerbasis durch Abschaffung der Bemessungsgrenzen und Einbeziehung aller Selbständigen, Freiberufler, Beamten und Politiker zu verbreitern und die Unternehmen nicht mehr nach der Lohnsumme, sondern nach der Wertschöpfung zu bemessen; dies würde im übrigen auch die sogenannten Lohnnebenkosten senken.

Die ökonomische und sozialstaatliche Krise in Deutschland wird von den hiesigen wirtschaftspolitischen Eliten genutzt, um den Sozialstaat schrittweise zu entsorgen. Wer wollte leugnen, daß die Masse von vier Millionen Arbeitslosen ein schwerwiegendes Problem dieses Landes bedeutet. Die Ursachen hierfür sind jedoch vielfältig: von der demografischen Entwicklung über die Wiedervereinigung, technologische Umwälzungen und weltwirtschaftliche Verwerfungen bis zur mangelnden Binnennachfrage. Diese Krise läßt sich vor allem nicht mit neoliberalen Rezepten von gestern lösen, sondern nur mit Augenmaß: ursachenadäquat, sozial gerecht und gesamtwirtschaftlich vernünftig.


Literatur:

Hengsbach/Möhring-Hesse: Aus der Schieflage heraus. Demokratische Verteilung von Reichtum und Arbeit, Dietz Berlin 1999.


Jürgen R. Karasch ist Politologe und Verwaltungswirt. Seit 1976 ist er in verschiedenen Funktionen für die Bundesanstalt für Arbeit tätig, zur Zeit Arbeitsvermittler und Arbeitsberater für Angehörige hochqualifizierter Berufe im Hochschulteam Köln.

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sopos 12/2003