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[Türkei]


Ihr Platz ist die Mitte

Die türkischen Islamisten setzen auf Marktwirtschaft und EU-Integration

von Jan Keetman

Wichtig ist die Feststellung, daß es in den sogenannten islamischen Ländern auch andere wichtige politische Strömungen gibt.

Wenige Attentäter und viele Berichte haben es in den vergangenen Monaten geschafft, den Islam als Bedrohung der Zivilisation erscheinen zu lassen. Vielleicht nicht ganz unwillkommen für diejenigen, die auf ein konservatives Europa im Zeichen des Christentums setzen. Wohlmeinende Orientalisten haben dagegen gehalten, daß die Attentäter sich des Islams nur bedienten und ihnen sogar diesen oder jenen Verstoß gegen die reine Lehre vorgehalten – so als würden sie sie am liebsten exkommunizieren. Dabei ist die Debatte um die religiöse Legitimation der Terroristen so müßig wie die, ob sich der Papst zu recht als Nachfolger Petri bezeichnen darf. Weit wichtiger ist die Feststellung, daß es in den sogenannten islamischen Ländern auch andere wichtige politische Strömungen gibt.

Gerade hat ein Drittel der türkischen Wähler mit der islamischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) eine solche Kraft weit vor allen anderen Parteien in die Regierung gewählt. Und die möchte nun keineswegs die Scharia, das islamische Recht, einführen, sondern mehr Demokratie. Die AKP hat den Platz im Parteiensystem eingenommen, den ihr die heruntergewirtschaftete konservative Mitte überlassen mußte. Die Politik ihres Parteiführers Recep Tayyip Erdogan erinnert an Turgut Özal und seine Mutterlandspartei (ANAP) in den achtziger Jahren: durchaus angelehnt an ein konservativ-religiöses Weltbild, zugleich aber hochgradig pragmatisch, beweglich und für Marktwirtschaft und Westbindung. Tatsächlich besteht ein Teil des neuen Führungspersonals – sieben der 24 Minister – aus ehemaligen Mitgliedern der ANAP. Einige von ihnen haben den Absprung gerade noch geschafft, bevor das ANAP-Schiff unter Mesut Yilmaz unterging. Mitgenommen haben sie Yilmaz’ vordringliches Ziel: die Integration der Türkei in die EU.

In dieser Entwicklung kommt ein Richtungswechsel innerhalb der türkischen islamischen Bewegung zum Ausdruck. So verdankt die AKP ihre neue Beweglichkeit vor allem der Trennung von den verbliebenen Anhängern Necmettin Erbakans und dessen islamischer Wohlfahrts- (später: Tugend-)Partei, die Ende der 90er Jahre Teil der Regierungskoalition war. Zwar war auch Erbakan keineswegs ein Anhänger der Scharia. Vielmehr träumte er von einer mehr auf den Islam gründenden Türkei. Der Nationalismus des Staatsgünders Kemal Atatürk sollte durch den Islam relativiert und damit zugleich ein Weg aufgezeigt werden, wie das Anfang der 90er Jahre so heftig empfundene Problem des kurdischen Nationalismus zu entschärfen sein könnte. All dies widersprach aber den Interessen und dem Selbstverständnis des Militärapparats, gegen dessen Willen in der türkischen Politik noch immer nichts geht. Zudem waren unter den oft vom Lande kommenden Türken, die nach Europa migriert waren, radikalere islamistische Gruppen entstanden, deren Ideologie sich bei der Identitätssuche in der Fremde entwickelt hatte. Sie waren vom türkischen Staat nicht zu kontrollieren und auch Erbakan konnte oder wollte diese Kräfte in seiner Bewegung nicht eindämmen. Schlußendlich zwang ihn das Militär zum Rücktritt als Regierungschef. Seine Wohlstandspartei (RP) wurde, wie bereits andere seiner Parteien zuvor, verboten, er erhielt ein Politikverbot, das aber nächstes Jahr ausläuft.

Aus diesen Erfahrungen haben die gemäßigten Teile in der islamischen Strömung gelernt. Nachdem auch die Erbakan noch immer treue Nachfolgepartei der RP verboten war, gründeten die Gemäßigten um Abdullah Gül die AKP, während die Radikaleren größtenteils in die noch immer auf Erbakan wartende Glückseligkeitspartei (SP) gingen. Mit nur 2,5 % Wählerstimmen sind sie marginalisiert. Die AKP hängt zwar weiter an konservativ-islamischen Werten, lebt aber doch in dieser Welt und träumt nicht wie viele Anhänger der SP von der Re-Islamisierung des politischen Lebens in der Türkei als der Lösung für alle Probleme.

Vorerst ist es nun Abdullah Gül, der die Staatsgeschäfte für den wegen Volksverhetzung verurteilten Erdogan offiziell führen darf. Auf Gül dürfte auch der Begriff »Entwicklung« im Namen der Partei zurückgehen. Noch unter Erbakan hatten die immer wieder mal verbotenen »islamischen« Parteien stets einen Begriff in ihrem Namen geführt, der weltlich, aber auch als Anspielung auf den Koran verstanden werden konnte. Unterstrichen wurde dies dadurch, daß es sich um arabische Worte handelte, die in der Alltagssprache längst durch türkische ersetzt worden waren. »Entwicklung« ist dagegen ein Wort, das nicht im Koran steht und sich auch in kein religiöses Konzept einbauen läßt, das sich als fundamentalistisch versteht – sind doch religiöse Weltbilder tendenziell statisch, laufen auf einen Messias oder das Jenseits zu oder suchen ihr Heil in der Wiedererlangung alter Werte oder eines goldenen Zeitalters. So fordert der islamische Fundamentalismus die Rückkehr zum Staate von Mohammed in Form der Scharia-Einführung – einmal Reform und dann für alle Zeiten Schluß. Entwicklung kann man das nicht nennen.

Noch etwas spricht dafür, daß die neue islamische Strömung ihr Heil nicht im Jenseits sucht: Die anhaltende Wirtschaftskrise zeigt, daß politische Instabilität viel Geld kosten kann. Vor diesem Hintergrund sind die unter Krisen und einem schlecht funktionierenden Staat besonders leidenden kleineren und mittleren Geschäftsleute, die die AKP unterstützen, sowie die Migranten, die Geld in islamisch orientierten Holdings investiert haben, an ideologisch bedingten Querelen nicht interessiert. Auch die breite Wählermasse wird die AKP in erster Linie an ihrem ökonomischen Erfolg messen. Wie gnadenlos sie das tut, haben gerade die desaströsen Wahlergebnisse der drei alten Regierungsparteien gezeigt.

So lange also die AKP eine Chance auf ökonomischen Erfolg hat, wird sie sich nicht radikalisieren und ihren Platz in der Mitte zu halten suchen. Nur wenn sie an die Wand gedrückt wird, könnte die noch immer vorhandene fundamentalistische Ader aufbrechen. Allerdings dürfte sie selbst dann im Rahmen der bestehenden Ordnung bleiben. Man sollte nicht vergessen, daß der Islam hauptsächlich das Weltbild einer konservativen Strömung prägt. Und die neigt nicht zu Revolutionen – unter welchem Vorzeichen auch immer.


Jan Keetman arbeitet als Journalist in Istanbul.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 266 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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sopos 1/2003