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Vielerlei Holocaust?

Teil II einer Diskussion mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann


Im folgenden zweiten Teil der Dokumentation dreht sich das Gespräch vor allem um die deutsche und die israelische Rezeption des Holocaust. Diese schlägt sich nicht zuletzt im Umgang mit dem Nahostkonflikt nieder. Immer wieder stellt sich dabei die Frage, ob der Holocaust einen partikularen (also vor allem als spezifische jüdische Leidensgeschichte begreifbaren) oder einen universellen Charakter hat.


Christian Stock: In unserem Disput über arabischen Antisemitismus ist deutlich geworden, dass es unterschiedliche Sprechorte gibt: Sie sprechen als Vertreter einer bestimmten linken Strömung in Israel, und hier wurde aus einer bestimmten Richtung in der deutschen Linken gesprochen, die beim Thema Antisemitismus erheblich früher Alarm schlägt als Sie das tun. Wie schätzen Sie denn die – ja ebenso wie die israelische nicht gerade homogene – deutsche Debatte über den Nahost-Konflikt ein?

Moshe Zuckermann: Insgesamt scheint mir die deutsche Debatte sehr gut zu sein. Vor allem, was in den halboffiziellen und vor allem auch in den eher subkulturellen Gefilden herausgearbeitet wird, ist durchaus imposant. Aber ich bin jedesmal erstaunt, wenn ich zu Vorträgen eingeladen werde, dass dort Diadochen-Kämpfe zwischen irgendwelchen Strömungen ausgetragen werden und ich dann immer versuchen muss, darauf zu pochen, dass wir auch über den Nahen Osten reden könnten...
An zwei polaren Punkten würde ich also Kritik äußern: Auf der einen Seite ist es Idiotie, wenn man abstrakt das Existenzrecht Israels wegdiskutiert. Begriffe wie Imperialismus, Zionismus und Rassismus werden da häufig sehr schnell vermengt und dann stellt sich heraus, dass Israel eigentlich kein Existenzrecht habe. Auf der anderen Seite tut man Israel auch mit einer unbedingten und fast schon mechanischen Solidarität um jeden Preis keinen Gefallen. Ich habe das Gefühl, dass beides eher mit deutschen Befindlichkeiten zu tun hat als mit der nahöstlichen Realität. Also: Ihr Problem hier ist ein Problem, dass wir als Ihr Problem hier debattieren können. Aber die Realität im Nahen Osten verlangt, dass sie Maßstab der Betrachtung ist und nicht projizierte Befindlichkeiten.

Jörg Später: Die Rezeptionen des Nahostkonflikts in Deutschland gehen ja zumindest in Teilen zurück auf den unterschiedlichen Umgang mit dem deutschen Faschismus und dem Antisemitismus. Darüber haben Sie bereits in Ihrem Buch »Zweierlei Holocaust« geschrieben, in dem es um die unterschiedlichen Bedeutungsfunktionen des geschichtlichen Ereignisses des Holocaust in Israel und in Deutschland geht. Sie beschäftigen sich dabei mit der Diskrepanz zwischen dem Wesen des Holocaust und seiner politisch-ideologischen bzw. seiner kulturindustriell verformten Rezeption. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von rituellen Beschwörungen des Holocaust – als Rechtfertigungsstrategie für politische Interessen und als kulturindustrielle Veralltäglichung des Besonderen, einer Simplifizierung, wie sie in vielen Holocaust- und NS-Filmen zu beobachten ist.
In Bezug auf Israel stellen Sie den Holocaust vor allem als eine Legitimationsideologie für die jüdisch-israelische Gesellschaft dar, welche die eigentliche Erinnerung verdrängt oder verunmöglicht habe. Der Holocaust sei »zionisiert« und zu einem mythischen Bild geronnen, statt dass er als historisches Ereignis eine universelle zivilisatorische Bedeutung erhalten hätte – als Bild für den Endpunkt eines allgemeinen Zivilisationsprozesses, der sukzessive den Menschen entmenschlicht und das Individuum entindividualisiert. Dieser an Israel gerichtete Vorwurf der Instrumentalisierung des Holocaust bereitet mir Bauchschmerzen. Denn: Wie wollen Sie sich vor der Instrumentalisierung dieses Instrumentalisierungsbefundes schützen? Ist Ihnen nicht unbehaglich, wenn dieser Begriff quasi wortgleich in einer Debatte aufgenommen wird, die eine ganz andere Intention verfolgt? Zu erinnern wäre etwa an Walsers ,Moralkeule Auschwitz'.

Moshe Zuckermann: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: In dem hebräisch geschriebenen Buch, »Holocaust im abgedichteten Raum« betrachtete ich 1993 die israelische Presse während des zweiten Golfkriegs von 1991. Dieses Buch war sehr zionismuskritisch und analysierte, was in Israel damals an hanebüchenen, überspannten Äußerungen zu vernehmen war. Der damalige Holocaust-Diskurs war eine Konstellation von deutschem Gas, Bunkern, Gasmasken und aus dem Nichts kommenden Langstreckenraketen. Diese lösten in der israelischen Gesellschaft eine verständliche Panik aus. Die israelische Presse betrieb aber sechs Wochen lang die allerschlimmste Trivialisierung und Banalisierung des Holocaust, die ich je vernommen habe. In diesen Wochen hat sich für mich herausgestellt, wie sehr diese Trivialisierung des Holocaust-Begriffes bis in die allerkleinsten Nischen des israelischen Alltags übergegangen war.
Als das Buch fertig war, bekam ich Bauchschmerzen, weil drei deutsche Verlage an mich herantraten, die es veröffentlichen wollten. Ich hatte Skrupel, denn ich wollte keinen Beifall aus der falschen Ecke – damit meine ich in Deutschland Neonazis oder Linksliberale. Ich habe das Buch in Deutschland also nicht übersetzen und veröffentlichen lassen. Irgendwann hat es dann aber der israelische Schriftsteller Yoram Kanjuk kurz in der deutschen Presse zitiert. Damit war mein ganzer Versuch der Kontrolle gescheitert – auf einmal wurden meine Thesen diskutiert. Das Buch wurde übersetzt, und als einige Wochen später Bestellungen per E-Mail aus Neuseeland kamen, ist mir klar geworden, dass wir tatsächlich in einer zumindest medienmäßig globalisierten Welt leben. Das heißt: Entweder haben Sie ihre Wahrheit, und dann müssen Sie mit dieser Wahrheit raus, oder Sie haben keine Wahrheit, dann sollten Sie sowieso schweigen.
Das führt uns zur Frage der Instrumentalisierung: Die Frage ist doch nicht, ob Geschichte instrumentalisiert wird – denn sie wird immer instrumentalisiert. So haben meine Forschungen zur Rezeption der Französischen Revolution mich davon überzeugt, dass es keine Französische Revolution gab, sondern nur 200 Jahre Rezeption der Französischen Revolution. Und die ist so heterogen, dass sie sich je nach Generation, politischer Einstellung und Zeitpunkt permanent ändert; manchmal aus wissenschaftlichen, manchmal aus politischen, aus ideologischen oder Zeitgeist-Gründen.
Die Frage, die sich daher stellt, ist die nach der Absicht der Instrumentalisierung. Walser etwa prangerte die Instrumentalisierung von Auschwitz an und instrumentalisiert damit den Holocaust erneut – denn nicht im stillen Kämmerlein, sondern vor 80 Millionen Menschen erklärte er, persönlich die Schnauze voll zu haben von der Trauer und der »Präsentation unserer Schande«. Das waren keine privaten Gewissensquälereien, vielmehr wollte Walser einen neuen deutschen Diskurs einläuten, was ihm ja auch gelungen ist. Wenn man also prinzipiell gar nicht anders kann, als das Vergangene zu vereinnahmen, wird meine Frage immer die nach der Absicht der Vereinnahmung sein: Weisen Analyse und Erinnerung der Vergangenheit in eine emanzipative Richtung? Und in dieser Hinsicht würde ich einen großen Unterschied zwischen meiner Wenigkeit und Herrn Walser machen.

Jörg Später: Aber wie ist diese emanzipative Absicht objektiv feststellbar? Jemand, der die Politik der Jewish Claims Conference skandalisiert, kann das im Interesse der Opfer tun oder um Entschädigungszahlungen generell unter Verdacht zu stellen...

Moshe Zuckermann: Man kann das diskursiv feststellen. Die israelische Siedlerbewegung etwa rechtfertigt die Besiedlung der Westbank unter anderem mit Israels Sicherheit, die es zu wahren gelte, denn als das jüdische Volk sollten wir in alle Ewigkeit gedenken, was der Holocaust uns angetan hat. Hier wird eine Unterdrückungspolitik im Namen der Opfer gerechtfertigt. Die Opfer werden für die Schaffung neuer Opfer vereinnahmt. Das ist etwas ganz anderes, als den Holocaust zu vereinnahmen, indem man sagt, es solle nie wieder Opfer geben, und an sie erinnert als Objekte einer ihnen gegenüber angewandten Gewalt.
Israel war nie fähig, der Opfer im Stande ihres Opferseins zu gedenken. Der Grund liegt darin, dass der Zionismus, also die israelische Staatsideologie, mit zweierlei operierte: Für den Zionismus galt es, das diasporische Dasein, das Exilleben der Juden zu negieren. Komplementär dazu sollte »der neue Jude« geschaffen werden. Er sollte wehrfähig und produktiv im Sinne eines neuen Bauerntums werden, er sollte eine aufrechte Haltung an den Tag legen können und eben nicht der Gejagte, Geplagte, sich in der Zirkulationssphäre seinen Lebensunterhalt Verdienende und vor allem nicht mehr der Wehrlose sein.
Das bedeutete, dass – um den Staat überhaupt gründen zu können – das Diasporische ins Land kommen musste, die ,importierten' Exiljuden aber zugleich negiert wurden. Man war nicht fähig, dem, womit man für die Gründung des Staates argumentierte, in die Augen zu schauen und zu sagen: »Komm in meine Arme, ich nehme dich auf«. Das war sozusagen eine Wiederkehr des Verdrängten. Es gab in den 50er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel ein Verschweigen des Holocaust. Und dieses Schweigen hing damit zusammen, dass man genau solche Leute wie meinen Vater und andere Geschundene aus den Vernichtungslagern als solche nicht haben und ihre Ohnmacht nicht sehen wollte, denn sie waren eben nicht »der neue Jude«. Und so blieben die Opfer immer nur ein Argument für Kriege, wurden aber nie Gegenstand einer Reflexion über diesen Zustand, der Menschen zu ohnmächtigen Opfern von Gewalt und Repression macht.
Noch einmal zu Walsers Instrumentalisierungsform: Können Sie sich an dieses Versöhnungsgespräch von Martin Walser und Ignatz Bubis erinnern? Walser gab diesen unseligen Satz von sich: »Ich, Herr Bubis, habe mich mit diesen Dingen beschäftigt, als Sie noch mit ganz anderen Sachen befasst waren.« Bubis antwortete vollkommen perplex: »Aber ich konnte mich damit gar nicht befassen, ich musste ja überleben.« Damit sagte er etwas Existenzielles – vielleicht kennen Sie dieses Überlebenssyndrom, dass viele Menschen ihre Erinnerungen beiseite schieben müssen, bevor sie sich damit auseinandersetzen können. Für viele Überlebende des Holocaust galt das. Walser antwortete Bubis jedenfalls: »Naja, deshalb habe ich mich ja damit auseinandergesetzt, denn auch ich musste überleben.« Womit das Überleben von Walser und Bubis austauschbar wurde. Walser ist Opfer, und Bubis ist Opfer.

Jörg Später: Was lernt man aus diesem »zweierlei Kontext«? Sie sagen: Wenn die Aussage A wahr ist, dann muss sie in Israel und in Deutschland wahr sein, obwohl eine Aussage hier natürlich nicht dieselbe ist wie dort.

Moshe Zuckermann: Man lernt daraus, dass wir den israelischen Diskurs und dann den deutschen Diskurs analysieren müssen – also zum Beispiel Walser dekonstruieren. Das Problem der Instrumentalisierung kann uns ja nicht zum Schweigen verpflichten. Schweigen lässt die Dinge im Vor- oder Nichtbewussten und räumt das Feld ganz denen, die ohnehin instrumentalisieren, wie eben Walser. Sie müssen die Sachen anpacken und sich in Gefahr begeben. Ein Satz bedeutet nicht überall das Gleiche, aber der Kontext, in dem er unwahr wird, ist ja für Intellektuelle, für Linke ideologiekritisch zu untersuchen. Das ist, glaube ich, unser Job, und ich verdiene damit sogar meinen Lebensunterhalt.

Jörg Später: In Israel kritisieren Sie also die partikulare Rezeption des Holocaust nach dem Motto »Der Holocaust gehört uns Juden«. In Deutschland war es aber genau umgekehrt. Dort hat man nach dem Krieg alles versucht, um den Holocaust zu entnationalisieren und zu sagen, der Nationalsozialismus sei alles andere als partikular, das heißt alles andere als deutsch. Er sei eben, so hieß es unter anderem, eine totalitäre Ideologie. So wurden – auch durch die Faschismustheorien Ende der 60er Jahre – auf eine neue Art und Weise die Opfer, konkret: die Juden, aus dem Blickfeld verloren. Ich denke, es wäre für die deutsche Linke eine große Weiterentwicklung, wenn sie erkennt, dass der Nationalsozialismus einen spezifischen antisemitischen Kern hatte: die Vernichtungspolitik. Den Blick darauf zu konzentrieren, also das Partikulare dieses Ereignisses (das natürlich auch eine universale Bedeutung hat) zu erkennen und auszusprechen, dass der Nationalsozialismus deutsch war und die Opfer Juden waren, wäre im deutschen Kontext ein Erkenntnisfortschritt. Sie aber stellen für Israel den umgekehrten Befund fest.

Moshe Zuckermann: Und damit kommen Sie nicht zurecht? Es gibt den israelischen Kontext und es gibt den deutschen, weil Israel eben nicht Deutschland und Deutschland eben nicht Israel ist. Wenn ich das auf einen Slogan bringen kann: Israel täte es sehr gut, wenn es den Universalcharakter des Holocaust endlich in seinen politischen Diskurs einbringen würde, ebenso wie es Deutschland sehr gut täte, den Partikularcharakter der Vernichtungspolitik stärker ins Blickfeld zu rücken. Beides stimmt: Der Holocaust hat einen Partikularcharakter, weil seine Hauptprotagonisten auf der Opferseite die Juden waren und Täterseite die Deutschen. Daran lässt sich nicht rütteln. Zugleich sagt Dan Diner – damals noch in der Nachfolge von Horkheimer und Adorno – dass der Holocaust ein weltgeschichtliches Ereignis gewesen ist, etwas Zivilisatorisches und etwas, das über die Frage von Juden und Deutschen hinausgeht.
Wenn ich aber feststelle, dass in Deutschland der Holocaust universalisiert wird, um die deutsche Schuld oder Verantwortung oder was auch immer damit ad acta zu legen, dann muss ich natürlich ideologiekritisch sagen: »Denkt mal darüber nach, was ihr hier tut!« Desgleichen gilt für Israel: Wenn ich feststelle, dass die Sache partikularisiert wird, um damit eine Repressionsideologie und -politik zu rechtfertigen und zu verfestigen, dann muss ich sagen: »Euch fehlt der universelle Aspekt der Betrachtung des Opfers im Stande seines Opferseins.« Man fährt immer zu kurz, wenn man entweder – oder sagt.
Darüber hinaus glaube ich nicht, dass die Linke Ende der 60er Jahre Strategien entwickelt hat, um den Holocaust sozusagen zu »entholocaustisieren«, ihn auf eine Totalitarismus-, Faschismus- oder eine Nationalsozialismustheorie zu reduzieren und damit zu entsorgen. Vielmehr trat der Holocaust damals noch nicht ins Blickfeld, weil er das schwierigste Kapitel in der gesamten Geschichte ist und deshalb ja auch als ,Zivilisationsbruch' bezeichnet wurde. Tatsächlich hatten die Leute in den 60ern zum Teil einen total überspannten Faschismusbegriff, ich übrigens auch. Man trat den Eltern mit einer Vehemenz entgegen, die mehr mit Vatermord zu tun hatte als mit politischer Erkenntnis. Dennoch haben diese Leute neue Fragestellungen in die politische Sphäre Deutschlands gebracht. Damals fand ein Strukturwandel der Öffentlichkeit statt, den man nicht so einfach wegschnippen kann. Und: Geschichte schreitet eben so voran, dass bei jedem neuen Erkenntnisschritt einiges verdrängt wird und dann neu aufgearbeitet werden muss.

Stefan Vogt: Dennoch hatte etwa Adornos Weigerung, sich für die Studentenbewegung einspannen zu lassen, auch mit einem auf die historische Erfahrung des Nationalsozialismus zurückgehenden Misstrauen gegenüber allen Formen von Volksbewegungen vor allem innerhalb Deutschlands zu tun. Das Problem der Linken mit dem Holocaust war ja, dass sie bis in die 70er Jahre an der Überzeugung festgehalten haben, es ginge darum, eine Volksbewegung zu mobilisieren. Genau auf diesem Wege sind sie zu einer falschen Universalisierung gekommen. Adorno ging es dem gegenüber vielmehr darum, die Möglichkeit von Emanzipation, die nach dem Nationalsozialismus in Deutschland zumindest für die absehbare Zukunft abgeschrieben war, zu rekonstruieren, bevor man überhaupt einen Gedanken daran verschwendet, das in irgendeiner Form in Praxis umzusetzen.

Moshe Zuckermann: Das ist richtig. Nur wäre es wirklich eine ,Entadornisierung' Adornos, wenn man zu der Schlussfolgerung gelangte, dass er mit »absehbarer Zeit« die nächsten Millionen Jahre gemeint hat. Weder Adorno noch Marcuse haben von den Kategorien der Emanzipation abgelassen.

Jörg Später: Noch einmal zurück zur Rezeption des Holocaust. Meines Erachtens ist »Ambivalenz« das richtige Wort. Der Holocaust war sowohl partikulares als auch universelles Ereignis.

Stefan Vogt: Mir gefällt der Begriff Ambivalenz nicht, weil er bedeutet, dass die beiden Seiten unverbunden nebeneinander stehen. Ich würde lieber von Dialektik sprechen. Ich würde also insofern zustimmen, als dass das partikularistische Verständnis des Holocaust ohne ein universalistisches keinen Sinn macht und umgekehrt genauso wenig. Wenn man nämlich den Universalismus verallgemeinert, kommt man wahrscheinlich zu totalitarismustheoretischen oder anderen »modernen« Vorstellungen vom Holocaust, die genau das Spezifische ausblenden. Wenn umgekehrt der Partikularismus verallgemeinert und verabsolutiert wird – das gibt es natürlich auch in einem nicht-israelischen Kontext –, gelangen wir zu einer Vorstellung, die etwa in einer »modernen« Form des Revisionismus versucht, den Holocaust aus der Geschichte herauszuheben und als einmaliges, nicht mit dem Gesamtverlauf der Geschichte verbundenes Ereignis darzustellen.

Moshe Zuckermann: Auch für mich ist Ambivalenz nichts sich gegenseitig Ausschließendes. Der Freudsche Begriff der Ambivalenz bedeutet vielmehr, dass sich das eine nur mit dem anderen begreifen lässt. Unter anderem ist mit ihm gemeint, dass man einen Zugang zu diesem Zustand einer objektiven Hin- und Hergerissenheit entwickelt. »Ambivalenz aushalten« heißt dann, dass ich sowohl das eine als auch das andere will oder das eine will und das andere eben nicht. Dieser Zustand ist aber nicht nur libidinös, sondern auch intellektuell zu verstehen, ja ich würde ihm fast ontologischen Charakter verleihen wollen. Über ihn sind die Dinge miteinander verzahnt und verkettet. Gerade das Entweder-oder, das in der Erinnerungspolitik und der Andenkenskultur immer wieder zum Fetisch erhoben wird, macht keinen Sinn, solange wir unfrei oder uns frei dünkend in einer unfreien Praxis leben. Und für meine Begriffe hat jeder, der das nicht reflektiert hat, das Minimale noch nicht getan, das nur über das Ambivalente machbar ist.

Miriam Meier: Dieser Befund der Neutralisierung der Ambivalenz ist Ihre Kritik an der israelischen Vergangenheitsbewältigung? Wenn Sie sagen, jede Geschichtsschreibung sei partikular und es gebe nichts anderes als Instrumentalisierungen, bleibt doch die Frage, ob trotzdem so etwas wie Erinnern möglich ist, das frei von solchen Instrumentalisierungen ist.

Moshe Zuckermann: Zunächst möchte ich für Deutschland wie für Israel festhalten, dass die Holocaust-Erinnerung absolut nicht monolithisch ist. Es gibt heute mindestens fünf, sechs oder sieben Holocaust-Diskurse in Israel. Es ist vollkommen klar, dass aschkenasische Juden sich ganz anders an den Holocaust erinnern als orientalische Juden, dass orthodoxe Juden anders darüber reden als säkulare. Und es ist vollkommen klar, dass die über 1,2 Millionen in Israel lebenden Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft sich ganz anders an den Holocaust erinnern als die in Israel lebenden Juden. Noch einmal anders erinnern sich wegen ihrer politischen Sozialisation in der Sowjetunion die aus Russland eingewanderten eine Million Juden, von denen ja 30–40 Prozent gar keine Juden sind.
Der Zionismus wiederum hat den Holocaust in ein Narrativ eingebunden. Hier kulminieren zweitausend Jahre Verfolgungs- und Opfergeschichte im Holocaust, was durch den Zionismus mit der Gründung des israelischen Staates beantwortet wird. Die Staatsgründung ist somit – ich verwende jetzt die aus dem hebräischen übersetzte Wendung »die Erlösung«, die Wiedererrichtung des jüdischen Volkes aus seiner Katastrophe. Für die orthodoxen Juden oder bestimmte ultraorthodoxe Stömungen bedeutet der Holocaust aber noch einmal etwas ganz anderes: Sie gehen von der klassischen Frage aus, wie Gott eine solche Katastrophe zulassen konnte und haben folgende Erklärung gefunden: Gott hat das jüdische Volk für zweierlei bestraft. Erstens dafür, dass es den Weg des halachischen, mithin authentischen Judentums verlassen hat und den Weg der jüdischen Aufklärung gegangen ist. Zweitens dafür, dass es den Staat Israel als eine Neugründung des alten Königreichs Israel errichtet hat, bevor der jüdische Messias angekommen ist. Der politische Zionismus und die Errichtung des Staates Israel waren demnach die schlimmstmögliche Hybris gegen Gottes Willen.
Abstrakt gesprochen: Für den orthodoxen Juden ist der Zionismus der Grund des Holocaust. Für den Zionismus hingegen ist der Holocaust der Grund für die Gründung des Staates Israel. Beide Diskurse, die miteinander schlechterdings inkompatibel sind, werden in Israel ausgetragen. Um also von Israel zu reden, müssen wir uns zunächst immer überlegen, von welchem der vielerlei Israels wir reden. Worüber man sich dann unterhalten sollte, ist die Art und Weise, wie das zweifellos und ja verständlicherweise in Israel bestehende tiefe Trauma fetischisiert und zur Ideologie gewendet wird.
Für eine emanzipatorische Perspektive bedeutet Erinnerung für mich folgendes: Ich will erst einmal dem Gedenkverständnis eines Walter Benjamin das Wort reden, also die Vergangenheit als katastrophische Vergangenheit begreifen und die Gründe für diese Katastrophe reflektieren sowie an die in dieser Vergangenheit untergegangenen Menschen erinnern. Aber nur wenn diese Erinnerung sich politisch in die emanzipative Richtung eines »Nie mehr wieder soll dies passieren!« wendet, wenn sie sich für die Schaffung gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Strukturen stark macht, die das Opfersein überflüssig machen – nur dann gedenkt man der Katastrophe im Stande ihres Katastrophischen. Für mich bedeutet Erinnerung also auch immer eine Ausrichtung auf Gegenwart und Zukunft. Erinnerung nur um der Erinnerung willen hat immer schon den affirmativen Charakter des Regressiven und des Reaktionären.

Das hier redaktionell stark gekürzte und bearbeitete Gespräch protokollierten Jasmin Dean und Thomas Altmeyer. Eine vollständige Fassung kann als ca. 50-seitiger Reader im iz3w für 4.– € (incl. Porto) bestellt werden.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 262 der iz3w – blätter des informationszentrums 3. welt.

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