Zur normalen Fassung

Die Marktfundamentalisten

Die WTO-Tagung in Katar weicht jeder Kritik an der Globalisierung aus

von Stephan Günther


Arabische "Schurkenstaaten" sind so nah, daß die Organisatoren sich nicht einmal vor Raketen geringer und mittlerer Reichweite sicher fühlen. Doha hat sich vom idyllischen Rückzugsgebiet zum Sicherheitsrisiko gewandelt.

Bei der Suche nach einem Tagungsort für ihre nächste Ministerrunde spielten bei der Welthandelsorganisation WTO Sicherheitsüberlegungen eine zentrale Rolle. Denn anders als beim letzten Treffen Ende 1999 im US-amerikanischen Seattle oder im Sommer diesen Jahres während des Weltwirtschaftsgipfels in Genua sollten militante Proteste und große Demonstrationen möglichst vermieden werden. Doha, die Hauptstadt des Emirats Katar, war insofern eine perfekte Wahl. Wenn dort Anfang November die Delegationen von 142 WTO-Mitgliedsstaaten zusammenkommen, sind sie vor kritischen Meinungsäußerungen weitestgehend geschützt - die sind in dem Wüstenstaat nämlich verboten. Es gibt dort nicht einmal ein Parlament.

Doch seit dem 11. September und mehr noch seit dem Beginn des Krieges in Afghanistan haben sich die geographischen wie politischen Koordinaten grundlegend verschoben. Jetzt liegt der Golfstaat nicht mehr abseits der "Globalisierungs-Gegnerschaft", sondern in deren Zentrum, umringt von arabischen "Schurkenstaaten": Afghanistan, der Iran und der Irak im Norden wie auch der Jemen und der Sudan im Süden sind so nah, daß die Organisatoren sich nicht einmal vor Raketen geringer und mittlerer Reichweite sicher fühlen. Doha hat sich vom idyllischen Rückzugsgebiet zum Sicherheitsrisiko gewandelt.

Doch obgleich sich WTO-Generalsekretär Mike Moore "sehr besorgt" zeigte und sich mit Singapur ein relativ sicherer Ersatz anbot, beschlossen die Verantwortlichen nach langem Security-Check schließlich doch, den Gipfel wie vorgesehen in Katar abzuhalten. Das Gerangel um den Austragungsort ist dabei mehr als eine der zahlreichen Folgen der Anschläge von New York und Washington. Es symbolisiert nachdrücklich das Verhältnis der WTO zu Demokratie und Kritik, das eher als Nicht-Verhältnis zu bezeichnen ist. Die Kritik an den Folgen der ökonomischen Globalisierung, nicht erst seit Seattle geäußert, hat die Organisation nicht nur zurückgewiesen, sie ignoriert sie fast vollständig und schottet sich mit polizeilichen und militärischen Mitteln ab. Diese Burgmentalität, die die Staats- und Konzernchefs seit Jahren schon im schweizerischen Davos zur Schau stellen, scheint sich jetzt auch bei anderen Gipfeln durchzusetzen: In Genua war es ein Kreuzschiff, das die Gipfelteilnehmer beherbergte, und das nächste G8-Treffen soll in den kanadischen Bergen stattfinden.

Die Staatschefs tragen auf diese Weise zu einem eindimensionalen Bild bei, gemäß dem die "Macher des Freihandels" in lokalisierbaren Zentren des Kapitalismus zu verorten seien. Nicht wenige Kritiker der ökonomischen Globalisierung greifen diese Symbolik bereitwillig auf und begründen darauf ein zumeist undifferenziertes Feindbild. Dieses kommt nicht zuletzt in jenen Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September zum Ausdruck, in denen sie als "Angriff auf den Kapitalismus" interpretiert werden. Nahezu spiegelbildlich verhält es sich mit der Propaganda, wie sie der italienische Staats- und Medienchef Silvio Berlusconi betreibt: Danach sind all diejenigen "Terroristen", die sich gegen die kapitalistische Globalisierung stellen; von den Protestierenden von Genua und Seattle zieht er eine direkte Linie zu den Taliban und Osama bin Laden.

Zwar steht Berlusconi nicht für die WTO. Die Art und Weise aber, wie die Welthandelsorganisation und die Protagonisten des Neoliberalismus dem Terrorismus den "freien Markt" und totalitären Regimes die "liberale Gesellschaft" gegenüberstellen, zeigt allerdings, daß auch sie ihre Politik für die einzig tolerierbare halten. Ihr Marktfundamentalismus duldet keine Alternativen.

So verwundert es auch nicht, daß sich die Positionen seit der gescheiterten Millennium-Runde von Seattle kaum bewegt haben. Das Ziel - mehr Markt - verfolgen im Grunde alle Verhandlungsstaaten, allerdings jeweils den eigenen Interessen folgend. Die USA fordern die Öffnung auch der europäischen Märkte für gentechnisch veränderte Produkte, weil z.B. Soja bereits zu 70 Prozent aus Gentech-Saatgut gezogen wird. Die Europäische Union drängt ihrerseits auf den weltweiten Dienstleistungssektor: Das GATS, das "Allgemeine Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen" soll endlich umgesetzt werden, damit die schleppende Privatisierung etwa im Bildungsbereich oder in der Wasserversorgung vorankommt. Ende Oktober beschlossen schließlich die in der Gruppe G 77 zusammengeschlossenen Entwicklungsländer, in Doha nur dann einer neuen Liberalisierungsrunde zuzustimmen, wenn die EU ihre Agrar- und Textilmärkte öffnet. Für alle Verhandlungsgruppen gilt also die Zielsetzung: Die eigenen konkurrenzschwachen Produkte schützen und für die eigenen konkurrenzstarken Produkte weltweit die Märkte öffnen.

Die ökonomische Liberalisierung war es vor allem, die vor zwei Jahren für heftigen Protest sorgte: Landwirte wehrten sich gegen die Öffnung der Märkte, weil sie sonst der internationalen Konkurrenz ausgeliefert wären, die vor allem durch die großen Agrarkonzerne droht. Umweltschützer warnten wegen des steigenden Energieverbrauchs durch die wachsenden Transportwege vor einer weiteren Ausweitung des weltweiten Handels und vor der Verbreitung gentechnisch veränderter Pflanzen. Und Gewerkschaften forderten die Einführung international gültiger Sozialstandards, die Kinder- und Sklavenarbeit verbieten und Mindestlöhne vorschreiben.

Dieselben Forderungen stehen auch heute im Raum. Während solcherlei marktbremsende Maßnahmen rundweg abgelehnt werden, bewegen sich die Verhandlungspartner kurz vor Beginn der Tagung aufeinander zu. Zumindest die USA und die Europäische Union haben bereits Kompromißbereitschaft gegenüber den G 77 signalisiert: Für einige landwirtschaftliche und Textilprodukte könnten weitere Zollschranken fallen, wenn sich die Entwicklungsländer im Gegenzug den Dienstleistungssektor öffnen. Angesichts einer drohenden weltweiten Rezession könnte diese Bereitschaft noch steigen, erhoffen sich die Industriestaaten von einer neuen Liberalisierungsrunde doch einen neuen Wachstumsschub. Während die WTO in einer solchen Runde einen Schritt in Richtung Freiheit und gegen den Terrorismus sieht, befürchten die Kritiker eine weitere Verschärfung weltweiter Ungleichheit - und damit neue Ursachen von Gewalt. Kein Wunder also, daß sie zu Hause bleiben müssen.


Stephan Günther ist Mitarbeiter des iz3w.
Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 257 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/3bfe7386121c9/1.html