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Eine Gesellschaft der "kollaborativen Commons"

Jeremy Rifkins Perspektive einer Transformation der Ökonomie wie wir sie kennen

von Wilfried Gaum

Rezension: Jeremy Rifkin, Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft – Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Campus Verlag Frankfurt a.M. 2014, 525 Seiten

In dieser Buchvorstellung versuche ich in einem ersten Schritt, die grundlegenden Gedanken in Jeremy Rifkins letztem Buch vorzustellen, bevor ich in einem zweiten Abschnitt seine Überlegungen zu einer "Kommunikations-Energie-Matrix" referiere. Diese Matrix spielt für die Transformation des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, eine zentrale Rolle. In einem letzten Schritt will ich einige kritische Überlegungen und Gedanken zu diesem breit rezensierten und kritisierten Buch entwickeln.

I. Der rote Faden: der Aufstieg der "kollaborativen Commons" und die Ablösung des Kapitalismus zu Grenzkosten nahe Null

Rifkin behauptet, dass ein neues Wirtschaftssystem die ökonomische Weltbühne betritt, die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus als Paradigma nehme ab mit der Tendenz zu seiner Ablösung. Demgegenüber hätten die "kollaborativen Commons" als erstes, wirklich neues Paradigma Wurzeln zu fassen begonnen. Dieses neue Wirtschaftssystem berge sowohl die Möglichkeit einer drastischen Verringerung der Einkommenskluft als auch einer Demokratisierung der Weltwirtschaft und last but noch least die Chance zum Aufbau einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft.

Das Buch beschreibt einerseits die Entwicklung der technologischen Basisinnovationen und die wirtschaftlicher Praxen, die seine These stützen. Interessanterweise setzt er sich aber auch mit den Narrativen auseinander, die über Jahrhunderte die Selbstverständlichkeit des Kapitalismus und seine Überlegenheit über alle jeweiligen Alternativen zur herrschenden Ideologie machten.

Wir befinden uns nach Rifkin zurzeit in einer Phase einer Hybridbildung zwischen kapitalistischem Markt und kollaborativen Commons. Aber bereits jetzt sei deutlich, dass die gesellschaftlichen Kräfte des Kapitalismus ihren Höhepunkt überschritten und im Niedergang begriffen seien. Die Ursache dafür fänden wir in der wachsenden Tendenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise, Güter und Dienstleistungen zu "Grenzkosten nahe Null" herzustellen. Gemeint ist damit, dass durch eine immer schlankere Technologie extreme Produktivität entsteht und Produkte zu Kosten nahe Null hergestellt werden können. In der Folge bricht der Profit – unter Wettbewerbsbedingungen – weg, weil die Konkurrenten bei sinkenden Grenzkosten ihre Preise an der Summe von Produktions- und Transaktionskosten ausrichten und die Gewinnspanne so immer geringer wird.

"Grenzkosten nahe Null" werden möglich aus dem Produktivitätszuwachs, der sich aus dem "Internet der Dinge" ergibt. Produktion, Distribution und Information sowie alle dafür erforderlichen Transaktionen werden durch ein integriertes, weltumspannendes Netz, "Big Data" in kürzesten Zeiträumen verfügbar und verknüpft. "Diese Big Data werden rund um die Uhr analysiert, um das Inventar von Zulieferern, Herstellern und Distributoren zu rekalibrieren; darüber hinaus initiieren sie neue Geschäftspraktiken zur Verbesserung der thermodynamischen Effizienz und Produktivität über die ganze Wertschöpfungskette."(S. 26)

Durch diese Umwälzung der technologischen Basis werden aber auch die gesellschaftlichen Beziehungen tiefgreifend verändert. War der Konsument bislang darauf verwiesen, aus einer Anzahl konfektionierter Produkte auf der Grundlage mehr oder weniger vollständiger Information seine Kaufentscheidungen zu treffen, so macht nun das "Internet der Dinge" auf der Grundlage von "Big Data" einen neuen Typus von Verbraucher stark. Dieser von Rifkin als "Prosument" bezeichnete Verbraucher trifft seine Entscheidungen auf Grundlage seiner individuellen Bedürfnisse, mit Hilfe von seinen Nutzenvorstellungen angepassten Software-Programmen vor Ort, stellt im 3-D-Drucker das gewünschte Produkt selber her und konsumiert es. Damit werden Transaktionskosten en masse eingespart und das Produkt folgt den Bedürfnissen des Käufers.

Da solche Softwareprogramme in zunehmendem Maße als freie Software von Vielen entwickelt und umsonst zur Verfügung gestellt werden, würde sich eine neue Art von "kollaborativen Commons" entwickeln. Rifkin bezieht hier nicht nur Bau- und Gebrauchsanleitungen für Güter ein, sondern auch Dienstleistungen wie Lern- und Wissensprogramme. In den weiteren Kontext gehört hierher auch die "Share Economy", also das Teilen von Gebrauchsgütern, angefangen von Werkzeugen bis hin zu PKW oder Wohnungen. Hier zeichnet sich ein anderer Zugang zur Nutzung von Gütern und Dienstleistungen ab.

Die Commons haben nicht nur eine lange Geschichte, sie sind – worauf Rifkin zu recht hinweist – die älteste Form demokratischer, selbstverwalteter Aktivitäten. In diesen werde das Sozialkapital der Gesellschaft generiert. Dabei denkt er an moderne Institutionen wie karitative Einrichtungen, künstlerische und kulturelle Gruppen, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Genossenschaften, ja sogar Religionsgemeinschaften. Gemein ist ihnen, dass sie nicht marktgesteuert und damit nicht auf Gewinnstreben und Eigennutz aufbauten, sondern sich am Interesse an Zusammenhalt und Teilhabe ausrichteten. Das "Internet der Dinge" ist somit die technische Seelenverwandte zum Reich der Commons. Es ist auf dem Weg, zu einem technischen kollaborativen Common zu werden. Denn: das Internet ist von Natur aus dezentral, ermöglicht die Zusammenarbeit Vieler zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke und ist systematisch auf der Suche nach Synergien. Es ist daher der natürliche technologische Rahmen für die Entwicklung und Förderung der Sozialwirtschaft.

Aber nicht nur von dieser Seite her gerät die kapitalistische Wirtschaftsweise unter Druck. Das zweite Gesetz der Thermodynamik macht ihr ebenso zu schaffen: die Umwandlung von gebundener in ungebundene Energie führt zum Verlust nutzbarer Energie und schränkt damit die energetische Basis immer stärker ein. Die dezentrale Erzeugung erneuerbare Energien und das Wachstum der Energieffizienz bei Produktion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen setzt die kapitalintensive, ressourcenverschwendende und hierarchisch organisierte Energieerzeugung im Kapitalismus unter Druck.

Die drei genannten Elemente "Internet der Dinge", kollaborative Commons und die sich entwickelnde Ökonomie des Teilens zieht Rifkin zusammen zu einer erstmals überzeugenden Alternative zum Kapitalismus und sieht in ihrem Erstarken ein alternatives Ursachenbündel für das im Gefolge der Großen Rezension rückläufige Wachstum. In der weiteren Zukunft sieht Rifkin für den Kapitalismus nur noch eine Residualfunktion, die sich beschränkt auf die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen, deren Grenzkosten hoch genug sind, um ihren Austausch auf einem Markt zu rechtfertigen und genug Profit abwerfen, um eine Rendite auf Investitionen zu garantieren.

II. Die Bedeutung der "Kommunikations/Energiematrix" für die Transformation von Ökonomie und Gesellschaft

Rifkin zu Folge steht die Welt vor einem Paradigmenwechsel, also dem grundsätzlichen Wechsel, "der Annahmen hinter den herrschenden ökonomischen und wirtschaftlichen Modellen ebenso…(wie des) Glaubenssystems, das sie begleitet, und …(der) Weltsicht, die sie legitimiert….Zu verstehen, wie der Wechsel zu einer neuen Kommunikation/Energie-Matrix jeweils in ein neues ökonomisches Paradigma auslöste….wird uns zu einem besseren Verständnis der evolutionären Mechanismen hinter der ökonomischen Entwicklung verhelfen, die uns in die Gegenwart geführt haben. Erst dieses Verständnis gibt uns die nötige historische Perspektive, um mit den stürmische ökonomischen Veränderungen fertigzuwerden, die wir heute weltweit im Zuge der Anbahnung des neuen Paradigmenwechsels von den kapitalistischen Märkten hin zu kollaborativen Commons sehen."(S. 46)

Mit diesem Ziel präsentiert Rifkin in einem Abschnitt seines Buches seine historisch-ökonomische Analyse:

III. Jeremy Rifkins neues Jahrhundert einer sozialen Demokratie?

Jeremy Rifkins These von der sich technologisch und ökonomisch vollziehenden Ablösung des letzten, aktuellen Stadiums eines finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ist sympathisch. Er beobachtet die vielen parallelen Bewegungen und Tendenzen, die sich vor unseren Augen entwickeln, von der Share Economy über das neue Erstarken der Genossenschaftsbewegung und –idee, die sich in der Tat herausbildenden jungen Commons bis hin zur Transformation unserer Städte durch die Transition Town-Bewegung. Mit Naturgewalt, ja, wenn nicht mit Naturnotwendigkeit, entwickelt sich eine neue historische Bewegung der kollaborativen Commons, zu einer am Abnehmer orientierten Güter- und Dienstleistungswirtschaft, die zudem nicht mehr fossilistisch ausgerichtet ist und unseren schon schwer verschnupften Planeten die dringend erforderlich Rekonvaleszenz gönnt.

Allein, das erinnert zu sehr an die us-amerkanische Variante eines Fortschrittsoptimismus', der in der sozialdemokratischen Fraktion der Arbeiterbewegung und im frühen Liberalismus seinen europäischen Konterpart fand: "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf." Dieser Fortschrittsoptimismus führte wie wir wissen, entweder in hilflosen sozialdemokratischen Attentismus oder leninistischen Modernisierungsfuror, der über Millionen von Leichen ging. Von dieser grundsätzlichen Anmerkung einmal abgesehen, scheint mir Rifkin allzu sehr zu vergessen, dass jede einzelne der von Rifkin entwickelten Kommunikations-Energie-Matrizen mit spezifischen politischen Bedingungen einherging, dass sie sich eben nicht von selbst installierten und durchsetzten, sondern im politischen und philosophischen Getümmel behaupten mussten. Und schon die Kapitulation der Sozialdemokratie in der Großen Koalition vor den Interessen der Energiekonzerne bei der Förderung erneuerbarer Energie zeigt beispielhaft, wie mächtig und wie profund die Interessen der alten Kräfte gegen jedes neue Paradigma in der Produktion und im Narrativ des Alltagsbewußtsein anwirken. Rifkin streift diese politische Machtkonstellation, die in der Arena der Politik zu verändern ist, an der einen oder anderen Stelle. So berichtet er davon, dass die alte Ordnung im Kern auf die Bildung von Monopolen abzielen muss, um sich an der ökonomischen Macht zu halten. Aber eine systematische Beschäftigung mit den aus den technologischen und ideologischen Entwicklungen hervorgehenden politischen Kräfteverhältnissen ist in dem Buch nicht zu finden. So kann die von Rifkin gewünschte Entwicklung zu einer Gesellschaft der kollaborativen Commons auch politisch blockiert oder verhindert werden.

Abgesehen davon muss – gleichsam auf einer Metaebene - gefragt werden, ob die von ihm untersuchten Bewegungen tatsächlich das Potenzial haben, in der Produktion, Lebensweise und bei den Narrativen hegemonial zu werden. Sind das alles nicht nur Nischen – ökonomisch, technologisch, sozial, philosophisch? Ist die vorherrschende und zumindest in den Schwellenländern angestrebte Formation nicht immer noch fossilistisch, proprietär, individualistisch, profitorientiert? Wird es den positiven Bewegungen gelingen, diese Tendenz nicht nur einzuholen, sondern zu überholen und dem Kapitalismus, wie wir ihn kennen, tatsächlich eine Residualfunktion zuzuweisen? Und wie geht eine Gesellschaft der kollaborativen Commons damit um, dass Millionen von qualifizierten Arbeitskräften - bis hinein in die Intelligenz als Massenschicht - freigesetzt werden und fehlende Beschäftigung mit fehlendem Einkommen flankiert wird?

Gleichwohl: diese Fragen sollten bei der Diskussion des sympathisch eingängig und leserfreundlich geschriebenen Buches nicht davon abhalten, Rifkins Ausführungen als einen ernsten und wertvollen Beitrag zur Diskussion einer Ökonomie und Gesellschaft jenseits des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, zu würdigen.

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sopos 4/2015