Zur normalen Fassung

Im Zweifel für den Zweifel

Rezension

von Gregor Kritidis

Henning Fischer, Uwe Fuhrmann, Jana König, Elisabeth Steffen und Till Sträter, (Hrsg.), Zwischen Ignoranz und Inszenierung. Die Bedeutung von Mythos und Geschichte für die Gegenwart der Nation. Westfälisches Dampfboot. Münster 2012.

Vor allem fünf eng miteinander verbundene Aspekte heben den vorliegenden Sammelband aus der Fülle von zeithistorischen Publikationen heraus: Ersten handelt es sich um das Produkt intensiver wissenschaftlicher Kooperation, die, allen Floskeln der universitären Manager zum Trotz, im akademischen Kapitalismus eher die Ausnahme und nicht die Regel ist. Zweitens basiert diese Kooperation auf einer außerinstitutionellen, Unabhängigkeit garantierenden Selbstorganisation. Drittens bewegt sich die Diskussion auf einem für empirisch arbeitende Historiker äußerst hohen theoretischen Niveau. Viertens handelt es sich um eine grundsätzliche Infragestellung der ausgesprochenen und unausgesprochenen methodischen und inhaltlichen Selbstverständlichkeiten der zeithistorischen Forschung, wie sie in den letzen zwanzig Jahren eher selten gewesen ist. Und fünftens reflektieren die Autor_innen gemeinsam ihr methodisches Vorgehen. Letztere Aspekt soll hier diskutiert werden.

Es dürfte wenig überraschen, dass das Autorenkollektiv in seiner einleitenden Erörterung "Mythos und Nation. Zur Methode dieses Sammelbandes" auf die Überlegungen Walter Benjamins zurückgreift, dessen Thesen über den Begriff der Geschichte bereits vielen Historikerinnen eine kritische Orientierung geboten haben. Ihr Ziel besteht darin, historische Mythen zu dekonstruieren, die die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse der Gegenwart legitimieren. Als Mythos wird dabei im Anschluß an Roland Barthes eine identitätsstiftende Erzählung begriffen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Gesellschaften sinnhaft miteinander verbindet und damit den sozialen Spaltungen und Antagonismen entgegenwirkt. "Die mythische, weil sinngebend vereinfachende Rückschau auf die nationale Vergangenheit legitimiert den Bestand der Nation und der Gesellschaft so, wie sie ist." (S.9). Dabei werde eine Kontinuität und Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung unterstellt, wobei historische Alternativen ausgeblendet blieben. Dagegen richte sich der kritische Blick "auf das Abgebrochene und Vergessene, auf die geschichtlichen Möglichkeiten". Die Geschichte werde "durch die Folie ihres Ergebnisses betrachtet, nicht auf der Suche nach ihren Möglichkeiten" (S. 20), wobei störende, dem Mythos widersprechende Momente ausgeblendet bleiben.

Dagegen betonen die Autor_innen die Bedeutung des Ausgangspunkts der historisch Forschenden in der Gegenwart sowie ihre expliziten und impliziten Erkenntnisinteressen, die im vorherrschenden Wissenschaftsbetrieb kaum reflektiert werden, sodaß die historische Forschung teils freiwillig, teils unfreiwillig selbst zum Mitproduzenten der mythologischen nationalen Narrative werde. Geschichtsschreibung müsse daher mit der Kritik an den nationalen historischen Mythen ansetzen. "An die Analyse der Konstruktion dominanter nationaler Mythen muss unseres Erachtens immer auch der Versuch anschließen, diesen Umgang mit Geschichte zu brechen, ihm die Sprengkraft einer unabgeschlossenen Vergangenheit entgegenzusetzen und die im nationalen Unbewußten ausgeblendete Rolle der Gegenwart ins Licht zu rücken" (S. 21). In diesem Kontext verwerfen die Autor_innen den Begriff der "kollektiven Erinnerung", da dieser eine Aura von Authentizität suggeriere, welche die Vermittlungen, die mit dem Prozeß des Erinnerns verbunden sind, unterbelichte. Dagegen eröffne der Begriff der "Geschichtspolitik" "den Blick auf ein breites Spektrum von Praxen und AkteurInnen, die an der Konstruktion und Transformation von hegemonialen Vergangenheitsbezügen beteiligt sind" (S. 24).

Sieht man einmal davon ab, dass der Begriff der kollektiven Erinnerung, wie er im Anschluß an Maurice Halbwachs - auf diesen geht der Begriff des kollektiven Gedächtnis' zurück - entwickelt wurde, durchaus im Sinne der Autor_innen verwendet wird, handelt es sich um ein kritisches Forschungsprogramm im besten Sinne. Damit fangen aus Sicht der Autor_innen die Probleme von Geschichtsschreibung jedoch erst richtig an: Wie muß eine kritische Geschichtsschreibung im emanzipatorischen Sinne beschaffen sein, damit sie nicht selbst ins Mythologische zurückfällt und von gesellschaftlichen Gruppen instrumentalisiert wird? Wie läßt sich vermeiden, dass gegen das Interesse der Forschenden ihre Ergebnisse in die dominanten Erzählungen integriert und damit Teil des vorherrschenden Narrativs werden?

In der abschließenden Diskussion werden diese Fragen aus unterschiedlicher Perspektive diskutiert, wobei sich die Frage stellt, ob es sich nicht mitunter um Scheinprobleme handelt. Denn eine historische Untersuchung, welche die widersprüchlichen historischen Dynamiken im Sinne der Autor_innen analysiert, d.h. die antagonistische Struktur der sozialen, kulturellen und politischen Konflikte in Klassengesellschaften herausarbeitet und in den Kontext der gegenwärtigen Entwicklungen stellt, wird kaum Gefahr laufen, in nationale Mythen integriert zu werden. Denn der Mythos als im Kern widerspruchsfreie, nicht in Frage zu stellende Erzählung ist mit der Vorstellung antagonistischer, in ihrer Grundstruktur nicht vermittelbarer Widersprüche unvereinbar. Zudem, und das wird in der Diskussion auch hervorgehoben, stellt es durchaus einen Fortschritt dar, wenn Ergebnisse kritischer Wissenschaftler_innen Allgemeingut werden, selbst wenn das mit Ausblendungen und Umdeutungen verbunden ist. (S. 166ff.). Dieses Argument ließe sich sogar noch weiter zuspitzen: Die seit den 1970ern etablierte Sozialgeschichte stellt zweifelsohne einen riesigen Fortschritt gegenüber der Personen- und Ereignisgeschichte dar, weil sie überhaupt so etwas wie Klassen(kampf)geschichte anschlußfähig macht. Dass sie maßgeblich von denjenigen inspiriert wurde, die - wie Werner Conze - im Dritten Reich zu den Protagonisten der "Volksgeschichte" gehörten, ist eine besondere Ironie der Geschichte.
Wesentlich schwerer wiegt neben institutionellen Zwängen das Problem der Beeinflussung und Instrumentalisierung durch gesellschaftliche Strömungen, die den Forschenden nahestehen. Aus der Diskussion lassen sich zwei idealtypische, sich konträr gegenüberstehende Positionen destillieren, die innerhalb der politischen Linken in Deutschland vertreten werden (S. 168ff):
Die eine Position distanziert sich kategorisch von historischen Bewegungen und Kräften und negiert in der Konsequenz die eigene Verstrickung in die Gesellschaft und ihren geschichtlichen Kontext. Eine derartige Flucht aus der Geschichte stellt zwar die notwendige Distanz zum Forschungsgegenstand sicher, wird jedoch mit einer Flucht aus der Gegenwart in einen abstrakten Idealismus erkauft. Nun hat ein derartiges, im Kern "bürgerliches" Wissenschaftsverständnis durchaus seine Vorteile, tendiert jedoch dahin, sich vorherrschenden Paradigmen anzupassen.

Die zweite Position bezieht sich zwar nicht kritiklos auf vergangene und gegenwärtige emanzipatorische Strömungen, fragt aber, inwieweit die (unbewußte) Konstruktion von Mythen in sozialen Bewegungen nicht möglicherweise unvermeidlich oder sogar notwendig ist (S. 180f.). Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade Forscher_innen, die sich intensiv mit sozialrevolutionären oder indigenen Bewegungen befaßt haben, sozialen Mythen durchaus auch positive Aspekte abgewinnen können. Zweifelsohne stabilisieren Mythen soziale Gruppen, und viele Aktivisten hätten Konzentrationslager und Verbannung ohne sie nicht überstanden. Ein Mythos ist jedoch auf Dauer nicht lebensfähig, wie sich am Beispiel der sagenumwobenen CNT zeigen läßt: Nach dem Sturz des Franco-Systems konnte sich der Anarchosyndikalismus als sozialrevolutionäre Massenbewegung nicht wieder reorganisieren, weil die Exilanten nach ihrer Rückkehr nach Spanien keine Antworten auf die neuen Herausforderungen fanden. Dennoch, und das zeichnet die Diskussion aus, werden soziale Mythen nicht per se und in toto verworfen, etwa bei der Frage, ob nicht "die eher fortschrittliche Erzählung" gegen den reaktionären Mythos zu verteidigen sei (S. 180).

Auch der "progressive" soziale Mythos bezeichnet ein Problem wie sich am Beispiel von Georges Sorels "Reflexionen über die Gewalt" zeigen läßt. Sorel als theoretischer Exponent der radikalen syndikalistischen Strömungen in der Arbeiterschaft versuchte, das theoretische-methodische Problem, das aus der scharfen Kritik der Syndikalisten an der Praxis der französischen Marxisten resultierte, zu lösen. Der Marxismus der Zweiten Internationale hatte um die Jahrhundertwende seine transzendentalen Kraft und damit seine Praxis motivierende und anleitende Wirkung eingebüßt - Sorel brachte in dieser Situation als Ersatz den Mythos eines Generalstreiks in die Diskussion. Man mag es absurd und gefährlich finden, einen Mythos als Instrument für den Klassenkampf zu propagieren, und Sorel ist zu unrecht vorgeworfen worden, ein Vordenker des Faschismus zu sein. Aber eine falsche Antwort auf ein reales Problem läßt sich nicht einfach negieren, ohne alternative Wege aufzuzeichnen. Wie aber kann ein solcher Weg aussehen?

Die Aufgabe kritischer Geschichtswissenschaft muß m.E. darin bestehen, konsequent die immanente Logik ihres Gegenstandes zu durchdringen und gleichzeitig seine transzendenten Momente - die alternativen Möglichkeiten - aufzuzeigen. Wenn geschichtsphilosophisches Denken heute noch Sinn machen kann, dann in der radikalen Rückholung von Philosophie in das Handgemenge des historisch Gewordenen. Nur aus der Kritik des Bestehenden lassen sich realitätsgesättigte Vorstellungen für die Zukunft entwickeln. Ernst Blochs Begriff der "konkreten Utopie" oder Boaventura des Sousa Santos "Soziologie des Entstehenden" bieten dafür Anknüpfungspunkte.
Das ist etwas anderes, als die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit "in der Beantwortung der Frage, was in der Gegenwart das richtige politische Verhalten ist" zu sehen (S. 169). Der Anspruch eines "richtigen" Verhaltens im Falschen würde eher eine poltische Kultur befördern, die die hohlen Leistungsnormen der Gesellschaft reproduziert. Das Gegenteil würde der politischen Linken gut tun: eine Kultur, die den politischen Irrtum als unvermeidliches, notwendiges Moment begreift und die soziale Entwurfsphantasie entfesselt, die die realen Möglichkeiten konkreter Utopie in den Blick nimmt.
Die Autor_innen begreifen ihren Band als Beitrag einer weitergehenden Suchbewegung und verweigern sich dem Anspruch, fertige Konzepte vorlegen zu wollen. Die Organisierung einer solchen kollektiven Suchbewegung ist zweifelsohne eine notwendige Aufgabe. Der vorliegende Band hat einen wichtigen Beitrag zu einer Diskussion geliefert, die trotz der Erschütterung bisheriger Gewissheiten sich in Deutschland immer noch in den Anfängen bewegt.

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sopos 3/2014