Zur normalen Fassung

»Das verbotene Dorf« – Das Geheimdienstgefängnis der Briten im Badehaus Bad Nenndorf

Die Initiative »Bad Nenndorf ist bunt statt braun« und mit ihr viele Bad Nenndorfer beziehen offen Stellung dagegen, dass ihre Stadt ein »brauner Wallfahrtsort« wird, stellen sich den Neonazis entgegen, die auch in diesem August durch das norddeutsche Kurbad marschieren.

Die Nazis begründen ihre Aufmärsche mit der angeblich »verschwiegenen Wahrheit« der »Verbrechen der Alliierten« im Verhörzentrum Wincklerbad von 1945 bis 1947. 1945 besetzten britische Soldaten das Badehaus im Zentrum Bad Nenndorfs und bauten es zu einem Gefängnis um. Dieses sollte als »Interrogation centre« für hohe und höchste Nazis dienen, für hochrangige Offiziere des deutschen Heeres und Spitzenkräfte aus der Wirtschaft, die das NS-System mitgetragen hatten. Einen Aufhänger für die Propaganda der Neonazis liefert einerseits die bisher nicht erfolgte Aufarbeitung der Geschehnisse im Geheimdienstgefängnis. Andererseits knüpfen sie an die Tatsache an, dass das Wachpersonal tatsächlich Häftlinge misshandelte. Und dafür »schlucken sie dann auch die Kröte«, dass viele der Folteropfer Kommunisten waren. Die längst überfällige kritisch-historische Dokumentation über die Geschehnisse im zum Verhörzentrum umfunktionierten Bad Nenndorfer Badehaus erscheint unter dem Titel »Das verbotene Dorf« im Frühherbst 2010 im Offizin Verlag.

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der Niederlage Nazi-Deutschlands. Die Oberbefehlshaber der vier Besatzungszonen, nämlich Eisenhower, Montgomery, Tassigny und Schukow bildeten den Alliierten Kontrollrat und übernahmen in den jeweiligen Zonen die Oberherrschaft. Die Regierungen der vier Siegermächte übernahmen die oberste Regierungsgewalt und sämtliche Befugnisse. Friedenssicherung und Entmilitarisierung Deutschlands gehörten ebenso dazu wie die Entnazifizierung. Noch war es vollkommen unklar, was mit Deutschland geschehen sollte, wie eine Verwaltung, wie eine Gesellschaft in diesem Land der Täter aussehen könnte. Unklar war den Alliierten auch, wie sie mit Millionen von aktiven Nazis, Verantwortlichen und Mitläufern umgehen sollten. Denn die Siegermächte hatten die Nazis zwar militärisch, nicht aber ideologisch besiegt. Nicht deutsche Widerstandskämpfer, sondern alliierte Soldaten hatten das Dritte Reich geschlagen.

Entnazifizierung bedeutete in der britischen Besatzungszone dreierlei: »Personelle Säuberung«, also die Entlassung von aktiven Nazis aus öffentlichen Ämtern und Schlüsselstellen und ihr Ersatz durch politisch Unbelastete, Aburteilung, also die Bestrafung von persönlich Verantwortlichen, insbesondere von Kriegsverbrechern und drittens die Internierung von potenziell Gefährlichen. Die Alliierten befürchteten, dass Werwolfkommandos, eine Untergrundorganisation der SS, einen Partisanenkrieg führen könnten und Nationalsozialisten ihre Ideologie erneut verbreiteten. Diese Gefahr versuchten die britischen Besatzer dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie die entsprechenden Personen in Gewahrsam nahmen. Ein Ziel sollte die Umerziehung zu Demokraten sein. Bei notorischen Nazis diente die Internierung dazu, sie von der Gesellschaft zu isolieren, damit sie eine Demokratisierung Deutschlands nicht verhinderten.

Die Internierungshaft war also eine Art Präventivstrafe und wurde verurteilten Nazi-Verbrechern von dem gerichtlichen Strafmaß abgezogen: Das Gros der Internierten stellten diejenigen, die in den mittleren Hierarchien den NS-Apparat, das KZ-System und die Kriegsorganisation getragen hatten. Den Partisanenkrieg der »Werwölfe«, die der letzte Trumpf gegen die Alliierten nach der Niederlage der Nazis sein sollten, gab es dann ebenso wenig wie den »Endsieg«. Viele Insassen der Internierungslagern entpuppten sich als musterhafte autoritäre Charaktere, die Befehle ausführten und weiterleiteten, ohne deren Sinn zu hinterfragen, wie sie es in der NS-Zeit bereits getan hatten.

Beim Wincklerbad in Bad Nenndorf handelte es sich gerade nicht um ein gewöhnliches Internierungslager, wie zum Beispiel in Hamburg-Neuengamme, sondern um ein Verhörzentrum des militärischen Geheimdienstes Großbritanniens. Die Verhöre sollten dazu dienen, von Guerillahandlungen der Werwölfe zu erfahren, beziehungsweise Spione umzudrehen. Der vermutlich bedeutendste Gefangene des CSDIC Bad Nenndorf war Oswald Ludwig Pohl, der nach Himmler wichtigste Mann der SS, der oberste Organisator und Vollstrecker des Holocaust. Die Briten griffen ihn am 27. Mai 1947 bei Verden an der Aller auf. Von dort wurde er über Minden nach Bad Nenndorf verbracht. Als Leiter des Wirtschafts-Verwaltungshauptamtes der SS (SS-WVHA) war er einer der ranghöchsten Gefangenen im Wincklerbad. Pohl führte und leitete die Planung und Durchführung des Holocausts, die Vernichtung der europäischen Juden. Unter seinem Kommando begann der industrielle Bau der Gaskammern mit dem Zweck des Massenmordes. Er organisierte führend die logistischen Voraussetzungen für die Menschenvernichtung. Pohl war ebenfalls zuständig für die wirtschaftliche Verwertung der riesigen Mengen an beweglichem Beutegut; dazu gehörte auch das heraus gebrochene Zahngold und die Haare der Frauen. Penible Listen mit den Wertgegenständen schickte er direkt an Heinrich Himmler.

Am anderen Ende des Spektrums der Inhaftierten standen vollkommen Unschuldige, die als vermeintliche Sowjetspione oder wegen ihrer politischen Einstellung als Linke in das Gefängnis gerieten. Viele der Häftlinge kamen indes aus dem Mittelbau des NS-Systems, keine Haupttäter wie Pohl, Göring oder Göbbels, sondern hohe Offiziere, die planten, gegen die Alliierten zu putschen, Ritterkreuzträger, Kriminalräte der Gestapo oder HJ-Führer.

1945 als Gefängnis gegründet, sollte das Wincklerbad als Gefängnis für hohe und höchste Nazis dienen, für Offiziere des deutschen Heeres und Spitzenkräfte aus der Wirtschaft. 1946 und 1947 kamen mit dem zugespitzten Konflikt zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion zunehmend Kommunisten in das Lager. Bad Nenndorf war von der Außenwelt abgeriegelt; den Gefangenen der Briefverkehr und der Kontakt zu Einheimischen untersagt. Das Interesse galt jetzt den Strukturen des sowjetischen Geheimdienstes. So gibt es Hinweise darauf, dass Offiziere der britischen Armee und des britischen Geheimdienstes nicht von einem »Kalten Krieg« ausgingen, sondern sich auf einen Krieg mit der Sowjetunion, einen dritten Weltkrieg vorbereiteten, und auch zu diesem Zweck angebliche oder wirkliche Sowjet-Spione verhörten.

Einige dieser Verhörten waren schweren Misshandlungen ausgesetzt. Der Leiter des Verhörzentrums, Robin Stephens setzte auf Psychoterror und nicht auf körperliche Folter, weil er meinte, dass die physische Tortur zu Falschaussagen führe. Mit diesen Methoden war Stephens außerordentlich erfolgreich, er deckte hunderte von Spionagefällen auf, überführte höchste Nazitäter und überzeugte Spione, als Doppelagenten zu arbeiten. Bis heute gilt er in britischen Geheimdienstkreisen als vorbildlich. Er praktizierte psychische Folter bis an die äußerste Grenze. Körperliche Misshandlung lehnte er zwar als Verhörtechnik ab, gab den Wachen dafür aber einen »Freifahrtsschein« im Gefängnisalltag. Belegte Quälereien an Häftlingen umfassen Schläge und Tritte, Isolationshaft, Übergießen mit kaltem Wasser bei Minusgraden und das Herausreißen von Zehennägeln. Bei anderen Leiden der Häftlinge ist unklar, ob es sich um gezielte Torturen, Vernachlässigung oder um ein Ergebnis der Nachkriegsverhältnisse handelte. Dazu gehörten mangelhafte Ernährung, katastrophale medizinische Versorgung und unzureichende Kleidung. Mehrere Häftlinge starben an den Folgen der Haft. Eines der Opfer, Heinz Biedermann, hatte 20 Kilogramm Gewicht verloren, Untertemperatur, keine Fettpolster und Ödeme an den Schenkeln. Starke Unterernährung, schwere Depressionen als Folge der Isolation von der Außenwelt, schlechte körperliche Verfassung als Folge von Schlafentzug und Kälte wurden als Todesursache der Gefangenen festgestellt. Die Männer hatten bis zu einem Jahr in kalten »bath rooms« mit Steinböden verbracht und ohne Bettzeug geschlafen. Die Räume wurden im Januar nicht geheizt.

Ein katholischer Geistlicher, der Vikar Magar, hörte im Internierungslager Fallingbostel von den Misshandlungen in Bad Nenndorf und ließ sich von dem Häftling Parbel Einzelheiten schildern. Die schickte er dem Bischof von Hildesheim. Der kam persönlich nach Bad Nenndorf und hörte die Geschichten der Gefangenen. Die Protokolle schickte er zum englischen Kardinal Griffy. Griffy wiederum informierte die Öffentlichkeit in Großbritannien und das britische Parlament. Der Labour-Unterhausabgeordnete Richard Stokes reiste zum Geheimdienstgefängnis und befragte die Insassen über erlittene Misshandlungen. Inspektor Tom Hayward von Scotland Yard schickte einen Bericht über die Zustände an die britische Militärregierung in Deutschland. Daraufhin wurde 1947 das Verhörzentrum geschlossen. Der britische Sozialreformer und Politiker Frank Pakenham sagte, »dass wir Internierte in einer Art behandelt haben, die an die deutschen Konzentrationslager erinnert.« Der Außenminister Großbritanniens sah die britische Glaubwürdigkeit beschädigt, da jedes Mal, wenn Briten die Polizeimethoden in Osteuropa kritisierten, jemand nur »Bad Nenndorf« rufen müsste. Vier Offiziere des Verhörzentrums wurden wegen der Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt. Nur der Lagerarzt Smith wurde wegen Vernachlässigung von Gefangenen schuldig gesprochen und aus der Armee entlassen. Die anderen Angeklagten erhielten Freisprüche. Der Gefängnisleiter Stephens blieb ein wichtiger Offizier des MI 5, des britischen Geheimdienstes.

Haben die Neonazis also Recht, wenn sie gegen die »Verbrechen der Alliierten gegen die Menschlichkeit« demonstrieren? Das Wachpersonal, die Verhörer, die Gefängnisleitung beging Verbrechen: Folter, Demütigung, Verstümmelung, Fälle von fahrlässiger Tötung und Verletzungen mit Todesfolge. Dieses Verhalten lässt sich nur insofern als »Nazi-Methoden« bezeichnen, als die Nazis alle diese Gewalttaten auch begingen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Entfesselung eines Weltkriegs waren es keinesfalls, sondern Übergriffe, die leider von diversen Männerbünden weltweit bekannt sind – auch heute noch.

Der Unterschied liegt nicht in der Psyche der Täter, sondern darin, ob diese rechtsstaatlich und von einer Zivilgesellschaft kontrolliert werden oder ihre Gewalt systematisch entfesseln können. In Großbritannien handelte es sich gerade nicht um ein faschistisches System, das die Menschenrechte abschaffte bzw. Rechte nur für »Volksgenossen« gelten ließ.

Die kritische Öffentlichkeit in Großbritannien, die es im Faschismus per se nicht gibt, sorgte dafür, dass das Gefängnis geschlossen wurde. Die Misshandlungen im Wincklerbad zeigen zugleich die Grenzen der Zivilgesellschaft und die Ambivalenz formaldemokratischer Staaten gegenüber ihren Geheimdiensten und Militärorganisationen. Der Sieg des Rechtsstaates wäre glaubwürdiger gewesen, wenn die Täter zu angemessenen Strafen verurteilt worden oder von Anfang an bei ihren Taten behindert worden wären. Der Gewaltforscher Klaus Theweleit hält die westlichen Staaten bis heute für nicht willens, die Folter ihrer Geheimdienste zu unterbinden. Wenn nämlich in den Gefängnissen Vertreter von Menschenrechtsorganisationen anwesend wären, hätte sich das Problem erledigt. Alle Staaten des Westens haben die Anti-Folter-Konvention unterschrieben. Eine Idee ist nichts, eine Unterschrift ist nichts. Es bedarf Gesetzen, Gesetzen, die bis in das Militär, bis in die Geheimdienste hineinreichen. Solange demokratische Regierungen meinen, die Menschenrechtsverletzungen, die »besonderen Tätigkeiten« von Sondereinheiten und Geheimdiensten zu brauchen, werden solche Misshandlungen weiter stattfinden.



Nach der Besetzung Deutschlands 1945 richteten die Alliierten Internierungslager ein. Sie befürchteten den Aufbau einer NS-Untergrundarmee (Wehrwolf). Der britische Geheimdienst baute daher im niedersächsischen Bad Nenndorf ein Verhörgefängnis auf, um Informationen zu erhalten. Ursprünglich vorgesehen für höchste Nazis, wurden hier ab 1946 zusehends Kommunisten eingeliefert. Es kam zu schweren Misshandlungen von Gefangenen. Nachdem diese Übergriffe publik wurden, schloss die britische Regierung das Lager. Neonazis missbrauchen diese Vorfälle, um die Rolle von Tätern und Opfern während der NS-Zeit ins Gegenteil zu verkehren. Eine jetzt erscheinende Dokumentation ordnet das tatsächliche Geschehen in die historischen Zusammenhänge ein: Anhalt, Utz: Das verbotene Dorf. Das Verhörzentrum Wincklerbad der britischen Besatzungsmacht in Bad Nenndorf 1945 – 1947. ISBN: 9783930345908.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/4c63b236d610c/1.phtml

sopos 8/2010