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Europa global - Hunger egal

Warum die Agrarpolitik der EU Nahrungskrisen verschärft

von Armin Paasch

Die Hungerproteste in über 40 Ländern vermochten es nicht, den Glauben der Europäischen Union (EU) an eine heilsame Wirkung der Handelsliberalisierung zu erschüttern. Ganz im Gegenteil: "Jetzt erst recht", lautet die Devise. "Wenn wir es schaffen, mit einer grundlegenden Reform die Märkte zu liberalisieren und auszuweiten (...), die Exportsubventionen in den entwickelten Ländern abschaffen und die handelsverzerrenden Subventionen für die Bauern in entwickelten Ländern stark reduzieren, würde das neue Möglichkeiten für Entwicklungsländer schaffen, in ihre landwirtschaftliche Produktion zu investieren", so der damalige EU-Handelskommissar Peter Mandelson in einem Fernsehinterview vom Mai 2008.

Problematisch ist das aus mindestens zwei Gründen: Erstens pickt sich die EU aus dem Freihandelsmenü nur die Rosinen heraus. Eine definitive Abschaffung der Exportsubventionen ist in dem Beschluss des Agrarministerrats der EU vom 20. November zum "Gesundheitscheck" der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) nicht vorgesehen. Wenn der Markt dies notwendig erscheinen lässt, soll die Wiedereinführung ohne weiteres möglich sein. Für Butter wurde dies in einem Kommissionspapier bereits explizit erwogen. Zweitens hat gerade die Marktöffnungspolitik im globalen Süden, und insbesondere in Afrika, immer wieder zu Verletzungen des Rechts auf Nahrung von Kleinbauerngemeinschaften und mittelfristig zu einer wachsenden Importabhängigkeit geführt.

Damit hat die EU wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Preissteigerungen auf den internationalen Rohstoffmärkten fast unmittelbar in Preissteigerungen für Lebensmittel gerade in den ärmsten Ländern widerspiegelten. Auch für die klammen Staatskassen dieser Länder bedeuten die Preissteigerungen eine gewaltige Bürde. Laut Welternährungsorganisation FAO haben sich die Kosten für Nahrungsmittelimporte in den Least Developed Countries (LDC) zwischen 2000 und 2007 verdoppelt. Die Preisexplosion von 2008 ist in dieser Rechnung noch nicht berücksichtigt.

Krise durch Importe

Ghana gehört zu jenen Ländern, in denen die Ernährung der Bevölkerung keineswegs sichergestellt ist und der Hunger in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen hat. Dabei erhielt das westafrikanische Land seit der Öffnung seiner Märkte 1992 immer wieder umfangreiche Importe von Tomatenpaste und Geflügel. Doch wurde die Ernährungskrise nicht, wie vielleicht der erste Gedanke sein mag, durch die Einfuhr dieser Nahrungsmittel abgewendet, sondern teilweise erst durch diese erzeugt.

Ein großer Teil der importierten Paste und Geflügelteile stammt aus der EU. Für die ghanaischen Tomaten- und Hühnerzüchter haben die EU-Agrarexporte nachweislich negative Folgen.[1] Die Geflügelhalter in Ashaiman nahe der Hafenstadt Tema hatten beispielsweise zuvor ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Eiern und Schlachthühnern bestreiten können. Das letztere Standbein ist aufgrund der konkurrenzlos billigen, importierten Ware innerhalb weniger Jahre komplett weggefallen. Während Ghanaer 2004 ihr Geflügelfleisch für etwa 2,60 Euro pro Kilo feilboten, wurde das europäische Fleisch für nur 1,50 Euro pro Kilo verramscht.

Im Falle der Tomatenbauern und -bäuerinnen stellt sich dieser Verdrängungsprozess komplexer dar: Die importierte Tomatenpaste hat im letzten Jahrzehnt Eingang in die Koch- und Essgewohnheiten vor allem der Städter gefunden und macht damit zunehmend den heimischen Frischtomaten Konkurrenz. Darüber hinaus verhindern die Billigimporte, dass in Ghana eine eigene weiterverarbeitende Tomatenindustrie entstehen kann. Diese ist für einen stabilen Absatz von Tomaten aus dem lokalen Anbau unverzichtbar. Die Folge ist, dass gerade diejenigen von Hunger bedroht sind, die in der Landwirtschaft arbeiten: viele Familien, die vom Tomatenanbau und der Geflügelhaltung leben, mussten über mehrere Monate hinweg ihre Mahlzeiten in der Anzahl, Menge und Qualität reduzieren, viele haben sich zunehmend verschuldet und sind damit noch anfälliger für externe Widrigkeiten geworden. Das Recht auf Nahrung ist für sie nicht mehr erfüllt.

Tomatenpolitik

Schlüsselfaktoren für diese Entwicklung waren die Öffnung der Märkte und der Abbau staatlicher Unterstützung, welche durch die ghanaische Regierung im Zuge der Strukturanpassungsprogramme (SAP) durchgesetzt wurden. Von Seiten des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte es entsprechende Auflagen für die Vergabe von Krediten gegeben. Zudem erzwang der IWF 2003 durch Verhandlungen über Entwicklungsgelder und einen Schuldenerlass von der ghanaischen Regierung die Stornierung einer bereits beschlossenen Zollanhebung für Geflügelimporte von 20 auf 40 Prozent.

In Zukunft wird eine Zollanhebung gegenüber der EU für Ghana generell nicht mehr möglich sein. Denn nach dem EPA-Interimsabkommen[2] mit der EU, das die Regierung am 13. Dezember 2007 paraphiert hat, ist Ghana verpflichtet, die Zölle für über 80 Prozent der Importe bis zum Jahr 2023 auf Null zu senken. Bisher ist noch unklar, ob Tomaten und Geflügel zu diesen 80 Prozent gehören, oder ob sie als "sensible Produkte" von der Zollsenkung ausgenommen werden dürfen. Doch selbst im letzteren Fall sind die ghanaischen Tomatenproduzenten noch nicht aus dem Schneider. Denn eine Standstill Clause in dem Abkommen verbietet Ghana selbst für diese Produkte, den Zoll über das derzeit angewandte Niveau hinaus anzuheben. Konkret heißt das: Während Ghana nach den Regeln der WTO bisher das Recht hatte, seine Zölle auf Tomaten- oder Geflügelimporte von 20 auf 99 Prozent anzuheben, ist dies ab sofort für europäische Importe verboten. Damit verliert Ghana jeglichen handelspolitischen Spielraum, der zum Schutz des Rechts auf Nahrung der betroffenen Tomaten- und Geflügelbäuerinnen und -bauern notwendig wäre.

Dass die europäische Tomatenpaste so billig auf den ghanaischen Markt gelangen kann, liegt nicht zuletzt an den üppigen Agrarsubventionen der EU. Für die Unterstützung europäischer Tomatenproduzenten, insbesondere in Italien, Spanien und Portugal, sieht die EU jährlich ein üppiges Budget von 300 Millionen Euro und mehr vor. Darüber hinaus wurden die Exporte der Tomatenpaste zeitweise durch Exportsubventionen erheblich gefördert. Im Falle der exportierten Geflügelteile waren Exporterstattungen gar nicht notwendig, da es sich dabei um Restprodukte handelt, welche die europäischen Unternehmen anderenfalls als Abfall kostspielig entsorgen müssten.[3] Aus einem Kostenfaktor wird auf diese Weise für die Unternehmen ein lukratives Geschäft.

Eine aktive Exportförderung durch die EU hat in diesem Falle zwar nicht stattgefunden. Allerdings war die EU durch zahlreiche Berichte von Bäuerinnen und Bauern sowie Nichtregierungsorganisationen über die verheerende Wirkung der Billigexporte bestens im Bilde. Trotzdem hat sie nichts unternommen, um den für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlichen Exportpraktiken europäischer Unternehmen entgegenzuwirken.

Kein Limit für Milchpulver

Vergleichbare Verdrängungsprozesse wie in den dargestellten Fällen konnten bei Milchbäuerinnen und -bauern in Uganda und Sambia bislang nicht festgestellt werden. Zu Importfluten oder erheblichen Importsteigerungen von Milchpulver aus der EU ist es in Uganda und Sambia bislang nicht gekommen. Allerdings gibt es in beiden Ländern ernsthafte Befürchtungen, dass sich dies in Zukunft ändern könnte. Bislang lag die Milchquote in der EU, also die Produktionsobergrenze, bereits mehr als zehn Prozent über dem europäischen Verbrauch. Im April 2008 hat die EU diese Quote um zwei Prozent erhöht, und am 21. November nahm der Agrarministerrat eine weitere jährliche Erhöhung um je einen Prozentpunkt vor. 2015 soll die Quote dann ganz abgeschafft werden. "Allgemein wird erwartet", so die Kommission, "dass das Auslaufen der Milchquote zu einem Anstieg der Produktion, zu sinkenden Preisen und zu mehr Wettbewerbsfähigkeit für den Milchsektor führen wird".

Offensichtlich ist die Milchpolitik auf Exporte ausgerichtet. Eine Exportsteigerung verspricht sich die EU auch für Magermilchpulver, das in der Vergangenheit immer wieder in größeren Mengen auf afrikanischen Märkten abgesetzt wurde. Für die Milchbäuerinnen und -bauern in Sambia und Uganda ist das eine Hiobsbotschaft. Schon die letzte Quotenanhebung vom April wird die Milchmenge auf dem Weltmarkt schätzungsweise um 0,5 Prozent erhöhen. Einer Schätzung der niederländischen Rabobank zufolge liegt die kritische Menge bereits bei 0,3 Prozent, die über einen ruinösen oder erträglichen Weltmarktpreis entscheiden.[4] Für die in Sambia angesiedelte Magoye-Milchbauerngenossenschaft, deren Produzentenpreise sich wegen der engen Anbindung an den formellen Sektor eng am Weltmarktpreis orientieren, wäre dann mit erheblichen negativen Auswirkungen zu rechnen.

Wenn die Produktion steigt, so das Kalkül der Kommission, sinkt der europäische Milchpreis und europäische Milchprodukte werden auch ohne Exportsubventionen ihren Weg auf den Weltmarkt finden. Exportsubventionen auf Milchprodukte sind seit Mitte 2006 zwar erstmals seit 40 Jahren ausgesetzt worden, weil sie aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise derzeit nicht notwendig sind. Gemäß dem Kommissionsvorschlag soll es der EU in Zukunft dennoch freistehen, auf dieses ungeliebte Instrument wieder zurückzugreifen, wenn die Weltmarktpreise wieder unter die EU-internen Preise fallen. Und dies, obwohl die EU im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) bereits ein definitives Ende der Exportsubventionen bis 2013 zugesagt hatte. Doch jetzt, wo die WTO-Verhandlungen in Genf stocken, will die EU davon erst einmal nichts mehr wissen.

Vor dem Hintergrund der EU-Beschlüsse zur Milchmarktordnung könnte die Einschränkung handelspolitischer Spielräume zum Schutz der Bäuerinnen und Bauern in Uganda und Sambia durch die EPAs langfristig fatale Auswirkungen haben. Klar ist, dass die in den Abkommen enthaltene Standstill Clause, genau wie in Ghana, ein Anheben von Zöllen über das derzeitige Niveau hinaus selbst für solche Produkte verbietet, die als "sensibel" eingestuft werden. Sollten die Exporte der EU tatsächlich erheblich ansteigen und die Weltmarktpreise sinken, wären Uganda und Sambia also nicht mehr in der Lage, den Marktzugang, die Einkommen und mithin das Recht auf Nahrung heimischer Milchbauern und -bäuerinnen angemessen zu schützen.

Going global

Das Problem beschränkt sich nicht auf Milchbäuerinnen und -bauern und nicht auf Afrika. Denn die Wirtschaftspartnerschaften mit den AKP-Staaten sind nur der Auftakt. "Global Europe - Competing in the World" heißt die EU-Handelsstrategie, die im Oktober 2006 ohne öffentliche Diskussion vom EU-Ministerrat durchgewunken wurde. Eine Entscheidung mit großer Tragweite. Denn in allen Regionen der Welt plant die EU demnach den Abschluss neuer Freihandels- und Investitionsabkommen. Radikale Zollsenkungen beim Handel mit industriellen und landwirtschaftlichen Gütern sind nur ein Bestandteil. Nach Auffassung der Internationalen Menschenrechtsliga (FIDH) bedroht die Liberalisierungsagenda der EU nicht nur das Recht auf Nahrung, sondern auch die Rechte auf Gesundheit, einen angemessenen Lebensstandard, Bildung, Arbeit und Entwicklung.[5]

"Ich bin völlig überwältigt von den vielen Milchbauern, die heute zu dieser Demonstration zusammen gekommen sind", eröffnete John Mwemba aus Sambia seine Rede vor dem Brandenburger Tor am 16. Oktober 2008 in Berlin. Rund 10.000 deutsche und ein sambischer Milchbauer hatten sich dort just am Welternährungstag zu einer "Milchparade" zusammen gefunden. "Auch wenn es uns Milchbauern in Sambia noch schlechter geht als euch, im Grunde sitzen wir im selben Boot", so Mwembas Rede. Vor dem Hintergrund, dass in der Öffentlichkeit der Interessenskonflikt der deutschen und afrikanischen Bäuerinnen und Bauern als ausgemacht gilt, lässt sein Statement aufhorchen.

Ebenso beachtlich ist, dass diese Sicht von seinen deutschen Kollegen vom Bundesverband deutscher Milchviehhalter (BDM) unterstützt wird: Durch die Erhöhung der EU-Milchquote drohen nicht nur Dumpingexporte, sondern auch ein Preissturz für die Milcherzeuger in Deutschland. Schon jetzt droht der Preis, den die Bauern von deutschen Molkereien erhalten, auf ruinöse 26 Cent abzurutschen. Zur Deckung der Kosten wären aber 43 Cent notwendig. Was der BDM fordert, ist daher eine an der europäischen Nachfrage orientierte "flexible Mengenregulierung" der EU-Milchproduktion.

Exportsubventionen lehnt der Verband strikt ab, weil dies den afrikanischen Milchbäuerinnen und -bauern schadet und zudem nicht den deutschen Bäuerinnen und Bauern hilft, sondern nur den exportorientierten Molkereiketten. Ihrem Ärger über die Forderungen des Milchindustrie-Verbands (MIV) nach Exportsubventionen haben die Teilnehmer auf der Milchparade deutlich Luft gemacht. Ein eindeutiges Signal: Die Konfliktlinie verläuft nicht zwischen europäischen und afrikanischen Bäuerinnen und Bauern, sondern vor allem zwischen den kleinen Produzenten und den großen Akteuren wie Molkereiketten und Supermärkten.

Anmerkungen:

[1] Paasch, Armin: Verheerende Fluten - politisch gemacht. EU-Handelspolitik verletzt Recht auf Nahrung in Ghana - Die Beispiele Hühnchen und Tomaten, Germanwatch, FIAN, Both Ends und UK Food Group, Bonn 2008.

[2] Ursprünglich hatte die EU auf "umfassende" EPAs gepocht, die auch Bereiche wie Dienstleistungen, Investitionen, geistige Eigentumsrechte und das Beschaffungswesen einschließen. Ein solches EPA konnte politisch aber nur mit den karibischen Staaten durchgesetzt werden. Andere Staaten wie Ghana, Uganda und Sambia ließen sich nur zu Abkommen über den Güterhandel bewegen. Diese Abkommen heißen Interimsabkommen, da sie nur als Vorstufe zu umfassenden EPAs gelten. Allerdings sind selbst diese Abkommen bisher nur paraphiert, also weder unterzeichnet noch ratifiziert worden. 43 der 78 AKP-Staaten haben trotz des großen politischen Drucks nicht einmal den Interimsabkommen zugestimmt.

[3] Marí F. & Buntzel R.: Das Globale Huhn. Hühnerbrust und Chicken Wings - Wer isst den Rest? Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.

[4] Reichert, Tobias: Chancen zur ländlichen Entwicklung in Sambia: Wirkungen von Fördermaßnahmen am Beispiel des Milchsektors, AbL und Germanwatch (Hg.), Berlin, Hamm 2007.

[5] FIDH: Position Paper. Human Rights Impact Assessment of Trade and Investment Agreements concluded by the European Union, Brüssel 2008.

Armin Paasch ist Mitarbeiter von FIAN Deutschland.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 310.

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sopos 3/2009