Zur normalen Fassung

Zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel

Versuch, uns und anderen Israel von "außen" zu erklären

Am 14. Mai 2008 jährt sich der Jahrestag der Gründung des Staates Israel zum 60. Mal.

von Marcus Hawel (sopos)

"Der Jude als Individuum ist heute nirgends auf der Welt stärker bedroht in seinem Leben als in dem Land, das ihm die endgültige Sicherheit versprochen hat." - Moshe Zuckermann

1. Erstarken des Antisemitismus

Seit einigen Jahren gibt es ein offensichtliches Aufleben des Antisemitismus in Europa[1] - und auch in der islamischen Welt. "Gekoppelt werden dabei neu-alte Erscheinungen des Antisemitismus mit den Kategorien des Antizionismus und der politischen Israelkritik und dies sowohl von Trägern der antisemitischen Rhetorik als auch von deren Kritikern"[2], schreibt Moshe Zuckermann. Dabei vermengen viele antisemitische "Kritiker" wie auch Kritiker des Antisemitismus oft Dinge, die begrifflich-theoretisch auseinanderzuhalten sind. Die Dinge werden "im ressentimentgeladenen Affekt durcheinandergebracht."[3]

Der Zionismus apostrophiert den Staat Israel als "Judenstaat", der mit der Shoah des europäischen Judentums historisch und kausal verkettet ist, denn die Staatsgründung ist zumindest durch den Massenmord an den europäischen Juden beschleunigt worden, wenn nicht überhaupt erst dadurch zustande gekommen. Die Shoah ist gleichsam zur "raison d'être der nationalen jüdischen Heimstätte"[4] geworden. Aber es gilt dennoch Judentum, Zionismus und Israel begrifflich, praktisch und lebensweltlich zu unterscheiden. Der Antisemitismus in seiner gegenwärtigen Form macht solche Unterscheidungen nicht; er äußert sich "meist im Sinne der Gleichsetzung von Juden, Zionismus und Israelis"[5]. Zuckermann sagt: "Diese Gleichsetzung ist nicht erst in dem Moment entstanden, als der Zionismus im Nahen Osten auftrat und dort zu einem antiarabischen Moment nicht nur hochstilisiert, sondern auch verdinglicht, fetischisiert und ideologisiert wurde."[6] Vielmehr sei der Antisemitismus ein christliches und abendländisches Phänomen.

Warum gilt es zwischen Judentum, Zionismus und Israel zu unterscheiden? Weil nicht alle Juden Zionisten, nicht alle Zionisten Israelis und nicht alle Israelis Juden sind. Diese Differenzierung ist notwendig, wenn man zu einer fundierten Analyse des Nahost-Konflikts kommen möchte. "Denn man kann Israel sehr wohl kritisieren, ohne gleich gegen Juden zu sein", schreibt Zuckermann, "(man kann sogar Israels Politik und gesellschaftliche Entwicklung als Jude - gerade als Jude - kritisieren). Man kann ›Juden‹ nicht mögen und den Judenstaat Israel dennoch hoch schätzen (weil man zum Beispiel Araber noch mehr haßt als sie [oder weil man froh darüber ist, daß die Juden ihren eigenen Staat haben, statt in Deutschland zu sein - man kann also auch als Antisemit durchaus ›Zionist‹ sein, etwa weil man sich darüber freut, daß die Juden in Israel in ihrem individuellen Leben bedroht werden; MH]). Man kann auch den Zionismus hinterfragen, ohne gleich antisemitisch und sogar ohne antiisraelisch zu sein; denn es ist eine Sache, die geschichtlich realen Entwicklungsstrukturen des Zionismus zu beäugen, eine ganz andere - nach der Shoah zumal -, das nun mal in der zionistischen Ideologie eingebettete Existenzrecht Israels in Frage zu stellen."[7]

Um das Existenzrecht Israels geht es hier nicht; es kann nicht und darf nicht zur Disposition stehen. Es geht hier um die Problematik des Zionismus. Zionismus in seinem heutigen Geltungsanspruch als "raison d'être der nationalen jüdischen Heimstätte" zu hinterfragen, scheint geboten zu sein aus einem ganz bestimmten Grund. Zuckermann schreibt: "Der Jude als Individuum ist heute nirgends auf der Welt stärker bedroht in seinem Leben als in dem Land, das ihm die endgültige Sicherheit versprochen hat. Die Frage ist, ob dieses individuelle Moment nicht auch fürs Kollektive gilt: daß nämlich die innere Logik der Politik, wie der Zionismus sie heute betreibt, zu einem regionalen Krieg führen könnte, der nicht nur Damaskus, Amman und Kairo, sondern auch Israel in Schutt und Asche legen würde."[8]

Nicht jede Zionismuskritik beruht auf dieser Erwägung. Antizionismus geht oft einher mit Antisemitismus. Antizionistische Israelkritik erweist sich oft als verdeckter Antisemitismus. - Man darf jedoch nicht grundsätzlich davon ausgehen, daß Israelkritik oder Kritik am Zionismus per se antisemitisch seien.

2. Deutsche Befindlichkeiten

Es gibt traditionelle, antiimperialistische Linke, die in der Intifada immer noch eine Befreiungsbewegung sehen, die man im Kampf gegen das israelische Besatzungsregime unterstützen müsse.[9] Sie vertreten einen antizionistischen Standpunkt, und manche sind dann mitunter sehr schnell dabei, Israel das Existenzrecht abzusprechen.[10] Wer das Existenzrecht in Frage stellt, stellt sich außerhalb des Kreises der ernstzunehmenden Diskussionspartner.

Auf der anderen Seite gibt es den antideutschen Standpunkt einer unbedingten, gleichsam mechanischen Solidarität mit Israel, weil die zionistische Staatsgründung von Israel vor dem Hintergrund des Massenmords an den europäischen Juden zustande gekommen ist. Die Gründung eines palästinensischen Staates begreifen Antideutsche als ein antisemitisches und autoritäres Projekt, sowie überhaupt den Islamismus als Faschismus. Die antideutsche Zeitschrift Bahamas bezeichnet die Palästinenser als ein "sich im Vernichtungswahn gerierendes völkisch islamistisches Judenhasserkollektiv"[11]. Antideutsche sagen auch, Israels Militarismus sei ein notwendiger Schutz vor der weltweiten Bedrohung der Juden durch Nation und Kapital, die den Antisemitismus immer wieder hervorrufen.[12] Es gebe gleichsam einen "ewigen Antisemitismus" und diesen auch in der arabischen Welt, der Israel als das Fremde verteufle.[13]

Mit diesen einseitigen Positionen tut man der israelischen Gesellschaft aber keinen Gefallen. Die diametral entgegengesetzten Positionen zwischen Antideutschen und bestimmten Traditionslinken haben Zuckermann zufolge etwas mit "deutschen Befindlichkeiten"[14] zu tun, in die sich - zumal wenn es um den Nahost-Konflikt geht - allzuoft Antisemitisches einschleicht - und auch Philosemitisches, das man als Invertierung des Antisemitismus begreifen kann. Und beide Standpunkte polarisierten sich in Deutschland in den letzten Jahren zunehmend. Diese Befindlichkeiten verweisen auf eine Ambivalenz des Kollektivgedächtnisses im Umgang mit der Vergangenheit, der der Dialektik von Schuld und Abwehr unterliegt. Die Polarisierung der Standpunkte ist dabei das Resultat einer sekundären Verarbeitung, das heißt Entsorgung oder Verdrängung der Ambivalenz. Im Resultat ergibt sich ein striktes Freund-Feind-Denken, gleichsam eine manichäische Struktur der Wahrnehmung.

Hierzu bemerkt Zuckermann: "Die nur schwer zu fassende ›Vergangenheit‹ (...) öffnet sich (...) immer konträren Interpretationen. Im Gegensatz zu seinem fundamentalen Streben nach klarer Entscheidung sieht sich (...) das gequälte Gedächtnis des Kollektivs dem Bann der Ambivalenz ausgesetzt. Weil es aber die Koexistenz widersprüchlicher Bestandteile seines Gedächtnisses nicht auszuhalten vermag, trifft das Kollektiv eine gleichsam manichäische, ihrem Wesen nach tendenziöse Wahl: Je nach ›Bedürfnis‹, ›neutralisiert‹ es gleichsam die Ambivalenz, indem es die infolge immanenter Widersprüche des Gedächtnisses entstandene kognitive Dissonanz durch ›Auslöschung‹ bestimmter Erinnerungsteile und pointierter ›Hervorhebung‹ anderer auflöst. Hierbei durchlaufen die positiv bewahrten Erinnerungsteile einen langwierigen Prozeß der vereinfachenden Kodifizierung. Mit anderen Worten: Da die akkumulative Kristallisierung des Kollektivgedächtnisses (einschließlich seiner historiographischen Manifestationen) als Erzeugnis, zugleich aber auch als wirkender Bestandteil einer historisch gewachsenen gesellschaftlichen Praxis fungiert, sortiert, wählt und verdrängt das Gedächtnis ›unliebsame‹ - zuweilen höchst bedeutsame - Teile des Vergangenen aus dem vorherrschenden Bewußtsein des Kollektivs. Es besteht, so besehen, immer eine notwendige Diskrepanz zwischen der eigentlichen Vergangenheit des Kollektivs und deren bestimmten Gestaltungen im Kollektivgedächtnis. Dieser Umstand hängt zwar immer mit den wirklichen Geschehnissen dieser Vergangenheit zusammen, mag aber auch die latente, wesentlich ideologische - somit heteronome - Funktion des Selektionsaktes erfüllen und sogar entfalten. Daraus wiederum erklärt sich das Phänomen, daß das im Kollektivgedächtnis registrierte Geschehen nicht in seiner vollen Komplexität bewahrt wird, bis es sich schließlich in komfortabel zugängliche Motive der Bewußtseinsmatrix bzw. in Kodes verwandelt hat."[15]

Die vereinseitigten Solidarisierungsaufforderungen (für Israel und gegen Palästina / gegen Israel und für Palästina) sind solche Kodes oder Tickets[16]. Mit Kodes und Ticketdenken, mit projizierten und petrifizierten, das heißt verdinglichten Befindlichkeiten trägt man zur Lösung des Nahost-Konflikt nichts Konstruktives bei. Dazu muß man sich schon auf die Realität im Nahen Osten einlassen, das heißt eine Realanalyse betreiben. Alles dies setzt die Reflexion dessen voraus, durch welche Befindlichkeiten im Blick unter Umständen von Beginn an die eigene Wahrnehmung beeinflußt ist.

Zuckermann bemerkt diesbezüglich: "Dies ist an sich nicht allzu schwer nachzuvollziehen. Denn wenn Israels raison d'être unweigerlich an die Shoah-Erfahrung gekettet ist, dann ist das Verhältnis von Deutschen Israel gegenüber von der durch Deutsche an Juden verbrochenen Monstrosität zwangsläufig affiziert, und zwar in einer Weise, die zum einen in eine moralisierende Überidentifikation mit ›Juden‹ und ›Israel‹ umschlagen, zum anderen sich aber auch im latenten wie offenen Ressentiment gegen die ›Dauerpräsentation der Schande‹, welche sich durch die schiere Existenz Israels zudem staatspolitisch institutionalisiert hat, verbohren und verfestigen kann. Tabus und damit einhergehende Denkverbote auf der einen Seite und der Drang nach ›Normalisierung‹ und daraus resultierende Tabubrüche auf der anderen tun ein übriges, um das seit 1945 von vornherein belastete Verhältnis von Deutschen und Juden und mutatis mutandis zu Israel vollends in die Abgründe heteronomer Ideologie und ideologischer Instrumentalisierung zu stürzen."[17] Auch in Israel werde instrumentalisiert; der politischen Klasse kommen, so Zuckermann, antisemitische Ausbrüche in Europa, insbesondere in Deutschland, zu paß, um "von den eigenen repressiven Entscheidungen und Taten ideologisch abzulenken".[18]

Fazit: Weil sich Israel als zionistischer "Judenstaat" versteht und die Gründung mit Auschwitz kausal zusammenhängt, wird der Nahost-Konflikt damit vermengt, obwohl die beiden Dinge getrennt voneinander zu betrachten wären.

3. "Unbedingte Solidarität" mit wem?

Der Blick von "außen" hat Vorteile für die Sicht, aber auch entscheidende Schwächen. Das "Außen" impliziert, man habe es mit einem neutralen, jedenfalls nicht involvierten Betrachter zu tun. Aber ein solches "Außen" gibt es gar nicht, kann es in Bezug auf den Massenmord an den Juden in zweierlei Hinsicht nicht geben. Zum einen nicht für einen Deutschen, der mithin aus der Gesellschaft der Täter kommt, auch wenn er aus einer anderen, später geborenen Generation stammt. Zum anderen nicht für irgend jemanden, weil Auschwitz die gesamte Zivilisation in Frage stellt und insofern einen universellen Charakter hat. Dennoch hat das "Außen" seine Berechtigung, denn Israel ist einerseits in der Folge von Auschwitz entstanden, andererseits muß man fähig sein, unabhängig von dieser Kausalität auf Israel schauen zu können. Aber mit welcher Befindlichkeit schauen wir von außen und neigen zu Projektionen, die die Klärung eines politischen Problems zumindest erschweren?

In der Wahrnehmungsweise eines Staates von außen neigt man dazu, oberflächlich geschlossene Entitäten als monolithische Blöcke zu konstruieren. Die Widersprüche zwischen handelnden Akteuren (zum Beispiel zwischen der Regierungspartei und der Opposition, zwischen Fundamentalisten und Gemäßigten, zwischen den subalternen Klassen und den herrschenden Eliten, zwischen religiösen und säkularen Gruppen) werden nicht gesehen, sondern zu "Israel", "Palästina", "Deutschland", "USA" usw. zusammengefaßt. Nicht einmal die wichtigste Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft gelingt häufig. Statt dessen eine Inhaftnahme des heterogenen Kollektivs Gesellschaft und seine holzschnittartige Identifizierung als Staat, Pauschalisierungen des Juden, des Israeli, des Zionisten und Gleichsetzungen mit Judentum, Israel und Zionismus. Wie aber setzt sich eine Gesellschaft zusammen, die kollektiv für ein staatliches Handeln in Haft genommen wird? Dazu muß man den Blick differenzierend auf die Gesellschaft richten. Der Blick von "außen" bedarf differenzierender Werkzeuge und Methodik. Ansonsten läuft er Gefahr, seinen Befindlichkeiten freien Lauf zu lassen und Vorurteile, das heißt Freund-Feind-Dichotomien zu reproduzieren. Das führt zu entpolitisierten, moralischen Ansichten, das heißt zur Entpolitisierung von Konflikten, die nur noch moralisch bewertet werden, mit einem Wort: zu verdinglichten Positionen, die für die reale Politik keine konstruktiven Lösungsansätze zu bieten haben.

Nun zu der von Antideutschen erhobenen Forderung nach einer "unbedingten", gleichsam mechanischen Solidarität mit Israel. Solidarität mit wem? Von wem ist überhaupt die Rede? Welches Israel ist gemeint? Der differenzierte Blick auf die israelische Gesellschaft offenbart eine zutiefst heterogene Gesellschaft voller innerer Spannungen. Die Heterogenität hängt mit den verschiedenen Einwanderungswellen aus unterschiedlichen Regionen der Welt zusammen. Die israelische Gesellschaft setzt sich zusammen aus aschkenasischen (aus der westlichen Welt, vor allem aus dem osteuropäischen Raum sowie aus der angelsächsischen Welt: aus den USA, Kanada und Australien), sephardischen (aus den romanischen Ländern, vor allem aus Spanien und Italien sowie Südamerika) und orientalischen Juden sowie aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Einwanderern (von denen nach halachischem Gesetz ca. 40 Prozent nicht als Juden gelten, heute aber dazugezählt werden) und Arabern mit israelischer Staatsbürgerschaft (ca. 1,3 Mio.). Unter den Juden der unterschiedlichen Herkunft muß man noch einmal unterscheiden bezüglich des Stellenwertes ihrer Religion: Die Spannbreite bewegt sich zwischen säkularen, traditionellen, nationalreligiösen und orthodoxen bis ultraorthodoxen Juden.[19] Das Problem dabei ist nicht die "ethnische" Heterogenität als solche. Die entscheidenden Fragen sind: Welche Interessen und Orientierungen haben die einzelnen Gruppen in der israelischen Gesellschaft sowie am Staat, wie gehen sie miteinander und wie gehen sie mit der Erinnerung an die Shoah um?

4. Rezeption des Holocaust - Erinnerungsweisen

Die Erinnerung an den Holocaust ist weder in Deutschland noch in Israel monolithisch. Zuckermann konstatiert mindestens fünf bis sieben Holocaust-Diskurse in Israel - sie sind den einzelnen Gruppen zuzuordnen, die in Israel leben und ganz unterschiedliche Interessen haben:

4.1. Die orientalische Juden

Die orientalischen Juden waren Einwanderer etwa aus dem Irak, aus Marokko und Ägypten. Zuckermann zufolge, bezeugen viele, daß es einen traditionellen islamischen Antisemitismus nicht gegeben hat. "Die meisten der orientalischen Juden betonen, sie hätten die besten Beziehungen zur islamischen Welt gehabt. Sie betrachten sich bis heute als arabische Juden."[20] Bestimmte orientalische Juden - nicht alle - fühlen sich der arabischen Welt zugehörig; sie orientieren sich denn auch nicht nach Westen, nicht einmal nach dem modernen Tel Aviv, sondern nach Kairo, jedenfalls hinsichtlich der Radiosender. Sie haben eine arabische Kultur. Viele aber hassen auch die arabische Welt und verbitten sich, als arabische Juden apostrophiert zu werden.

Man muß wissen, so Zuckermann, "daß sich in Israel die Klassen- und die ethnische Frage überlappen, d.h. die unteren sozioökonomischen Klassen sind von orientalischen Juden bevölkert. (...) Viele der nach Israel eingewanderten [orientalischen] Juden haben in Israel eine größere Deklassierung erfahren als in ihren Ursprungsländern."[21]

Ich wiederhole noch einmal, viele orientalische Juden begreifen sich als arabische Juden! - Hier wird wieder relevant, wie wichtig Unterscheidungen sind. Haben wir es mit einem islamischen oder arabischen Antisemitismus oder mit einem Antisemitismus in der arabischen Welt zu tun? Die orientalischen Juden haben anders als die aschkenasischen und sephardischen Juden keine unmittelbare Beziehung zur Shoah; ebenso wenig die ca. 1,3 Millionen Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft sowie die aus Rußland Eingewanderten.

4.2. Die säkularen zionistischen Juden

4.2.1 Zionismus vor der Staatsgründung

Man muß wissen, daß der Zionismus ursprünglich keine Reaktion auf den Holocaust gewesen ist, sondern seinen Ursprung in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext des weit verbreiteten, aber noch nicht eliminatorischen Antisemitismus fand. Das Programm der Aufklärung hatte es nicht vermocht, die Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft zu gewährleisten, ohne daß die Juden ihre Religion hätten verleugnen müssen.

Jacob Katz - in den Jahren 1969-72 Professor für Jüdische Sozialgeschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem - beschreibt in seinem Buch "Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft" den Versuch der jüdischen Emanzipation zwischen 1770-1870 in den europäischen Staaten, die ganz unterschiedliche Erfolge zeitigte und dort am geringsten oder am zögerlichsten vorankam, wo die Identität von Subjekt und Objekt der Befreiung stärker auseinanderging - etwa in den deutschen Ländern. Seit dem Mittelalter fristeten die Juden in Europa am Rande der Gesellschaft, in Ghettos, ein Ausnahmedasein. Zwischen 1770 und 1870, also der Zeit, in der sich der Ständestaat auflöste und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche lockerte und durch die Aufklärung sich ein geringes Maß von religiöser Toleranz verbreitete, wurde versucht, die Juden in die bürgerliche Gesellschaft als gleichberechtigte Staatsbürger zu integrieren. Die Integration wurde allerdings an die Bedingung der kulturellen Anpassung an die Dominanzgesellschaft geknüpft. Die Juden mußten mit anderen Worten zum Christentum konvertieren, wollten sie nicht mehr Bürger zweiter Klasse sein, - was tatsächlich auch viele taten, zum Beispiel Karl Marx, Heinrich Heine und Ludwig Börne. Antijüdische Vorurteile gegenüber konvertierten genauso wie gegenüber nicht-konvertierten Juden lebten ebenso fort wie ein Unbehagen konvertierter Juden, in der bürgerlichen Gesellschaft nicht wirklich integriert und angekommen zu sein. "Die Juden waren Bürger auf Probe. Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage war der Köder, denen man ihnen vor die Nase hielt, für den Fall, daß sie die Erwartungen erfüllen würden. Den Anpassungsprozeß bezeichnete man passend als bürgerliche Verbesserung, ein Ausdruck, den Christian Wilhelm Dohm in seinem Buch Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781) geprägt hatte, in dem er eine Reform jüdischer Gewohnheiten, Sitten und vielleicht auch der Religion sowie eine gleichzeitige Verbesserung ihres politischen Status befürwortete."[22]

In den deutschen Ländern war es selbst innerhalb der liberalen Bewegung keineswegs selbstverständlich, den Juden volle Bürgerrechte zuzusprechen. Wenn die Juden ihre Integration voranbringen wollten, mußten sie sich selbst organisieren, um ihrem Anliegen eine Stimme zu geben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Ausdruck "Emanzipation" erst 1828 zu einer gebräuchlichen Vokabel für die Bestrebungen nach Integration der Juden wurde.[23] Jacob Katz zeigt in seinem Buch auf, daß das Wort "Emanzipation", das dem Lateinischen emancipacio entstammt und die Freilassung eines Sklaven bedeutet, Einzug in den politischen Sprachgebrauch erhielt, als irische Katholiken Ende des 18. Jahrhunderts für ihre politische und religiöse Freiheit kämpften und ihr Anliegen "katholische Emanzipation" nannten. Im Jahre 1828 führte der Kampf der irischen Katholiken um Gleichberechtigung gegenüber dem Anglikanismus zum Erfolg. Die Juden in England nahmen sich dies zum Vorbild und forderten nun ihrerseits "jüdische Emanzipation". Von England aus verbreitete sich die Bezeichnung bis in die deutschen Länder,[24] wo der Widerstand trotz aufkommenden Liberalismus' gegen die volle Integration der Juden auf viel stärkere Vorbehalte stieß. Die Lage der Juden verbesserte sich erst wesentlich in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts, weil sich die öffentliche Gesinnung zugunsten der Juden gewandelt hatte, wenngleich von da an neue antisemitische Bewegungen aufkamen und der Antisemitismus innerhalb weniger Generationen im Massenmord an den Juden kulminierte.

Es waren aber vor diesem Massenmord unter anderem Pogrome in Rußland am Ende des 19. Jahrhunderts, die Ritualmordprozesse in Mitteleuropa, die Dreyfuß-Affaire in Frankreich und antisemitische Grundstimmungen allgemein, die der zionistischen Bewegung als eine Form des romantischen Nationalismus schon Wirkmacht verliehen. Weitere Wirkmacht erhielt der Zionismus nach dem Ersten Weltkrieg durch Wilsons Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker, wodurch eine Welle neuer Nationalstaatsgründungen und eine Entkolonialisierungswelle in Gang kamen. Die zionistische Bewegung konnte nunmehr ihrer Forderung nach einem eigenen jüdischen Staat einigermaßen real entgegensehen.

Warum wurde ein israelischer Staat mitten in einer arabischen Region angesiedelt? Dazu ist zunächst zu sagen, daß Judentum und arabische Kultur in gewisser Hinsicht identisch und nicht-identisch sind. Die jüdische Bevölkerung, jüdische Kultur hatte ihre Heimat bis 600 v. Chr. im Nahen Osten. Im Kampf gegen die Großmacht Babylonien verloren sie ihr Königreich und gingen in die babylonische Gefangenschaft; es war der Anfang einer zweieinhalbtausendjährigen Diaspora. In diesem Exil hat sich die jüdische Religion und Kultur verändert, um sich bewahren zu können. Es entstand ein politisches System der Sakralisierung zur Sicherung des Fortlebens der Religion im Exildasein. Es mußte Ersatz geschaffen werden für die verlorenen Attribute staatlicher Macht. "Die Regierung hienieden wurde sublimiert, einer überirdischen Macht übertragen, die gegen jeden Angriff gefeit ist. Das nunmehr in Religionsgemeinden organisierte Volk unterwarf sich mit eiserner Disziplin unsichtbaren Gewalten."[25] Religiöse Alltagsregeln entstanden, die eine explizit jüdische Identität ausmachten und eine Assimilation erschwerten, durch die die jüdische Identität verloren gegangen wäre. "Alles, was nationale Existenz bedingt, wurde der Religion einverleibt. Sprache, Tracht, Speisesitten erhielten göttliche Weihe. Selbst geringfügige Einzelheiten des Alltags, die nichts mit Religion zu tun haben, wurden mit der Glorie des Heiligenscheins umgeben. Der Gott der Juden hatte nun sämtliche Aufgaben eines weltlichen Herrschers auszuüben. Die staatliche Souveränität wurde sakralisiert: Regierung und Gerichtsbarkeit in den Himmel verlegt, dem eine allzu irdische Wirklichkeit zugeschrieben wurde."[26]

Die jüdische Religion transformierte sich in der Diaspora gleichsam zu einem Kitt für den Zusammenhalt. Wenn sich heute zionistische Juden in Israel über die religiösen Sitten und Bräuche der orthodoxen Juden aufregen, dann vermutlich auch deshalb, weil aus der Sicht eines zionistischen Juden diese Bräuche und Sitten nicht mehr nötig sind, weil das Exildasein durch die Gründung des Staates Israel negiert, das heißt aufgehoben ist. Eine weitere Absonderung käme mit einer Verweigerungshaltung und Nicht-Anerkennung der staatlichen Autorität gleich. - Und so ist es auch: Orthodoxe Juden begreifen sich gleichsam immer noch in der Diaspora und sehen die Staatsgründung Israels als eine Blasphemie an, da der Staat gegründet wurde, bevor der Messias erschienen ist.

In der europäischen Diaspora nahm das Judentum den westlichen, christlichen Geist in sich auf und transformierte sich zu einem "aristotelischen System von Gesetzen und Bräuchen"[27]. Die Vertreibung aus Asien führte eben auch dazu, daß sich das Judentum von den geistigen Grundlagen Asiens entfernte. "Das Judentum in der christlichen Welt weiß vom asiatischen Kulturkreis, in dem seine Prophetie entstand, kaum noch etwas, es ist eine von der griechischen Philosophie geformte Gesetzesreligion, geistesgeschichtlich ein Teil des christlichen Kulturkreises, an dessen Wiege der sokratische Rationalismus stand."[28]

Der Zionismus ist das politische Programm, die über zweieinhalbtausend Jahre fortwährende jüdische Diaspora zu beenden und einen jüdischen Staat zu gründen. Zunächst war der Zionismus eine territorial bestimmte Sehnsucht ohne Territorium. Der jüdische Staat sollte erst in der Gegend um Jerusalem herum gegründet werden.

Der Begriff "Zionismus" entstammt dem Wort "Zion". Mit Zion ist ursprünglich eine im Alten Testament erwähnte vorisraelische Stadt der Jebusiter bezeichnet, die auf dem südöstlichen Hügel Jerusalems gelegen haben soll.[29] Zion war auch der Begriff für die Heiligtümer Jerusalems[30] und bezog sich auch auf den nordöstlichen Hügel Jerusalems, der von König David und Salomo bebaut wurde, das heißt auf den Palast- und Tempelberg. Später umfaßte Zion die gesamte Stadt Jerusalem. Zion gilt seitdem als die auserwählte Stadt Gottes und seines Volkes - Mittelpunkt des jüdischen Glaubens und des "Gelobten Landes". - Das Gebiet aber heißt Palästina, die Einwanderung findet auf dem Rücken der Palästinenser statt. Bis zu 800.000 Palästinenser werden in der Folge vertrieben.

Aber noch 1925 wurde auf dem 14. Zionistenkongreß in Wien das programmatische Ziel "Palästina als Zweinationalitätenstaat [erklärt], in dem beide Völker ohne Vorherrschaft des einen und ohne Unterdrückung des anderen, in voller Gleichberechtigung zum Wohle des Landes arbeiten."[31]

4.2.2. Zionismus als israelische Staatsideologie

Mit dem Holocaust wurde der Zionismus zu einer Massenbewegung von ganz besonderer Tragkraft. Das Zustandekommen der Staatsgründung am 14. Mai 1948 verdankt Israel einem Augenblick von Reue und Scham. Sechs Millionen Juden, darunter eineinhalb Millionen Kinder, sind dem antisemitischen Rassenwahn der Nationalsozialisten und zum Teil unter Duldung, passiver Hinnahme oder sogar Kollaboration westlicher Staaten zum Opfer gefallen.

Mit der Rückkehr des israelischen Staates in den Nahen Osten, wird dieser von der arabischen Welt als ein westlicher Staat, gleichsam als ein Fremdkörper, das heißt als ein Vermächtnis der Kolonialmächte empfunden. Israel wird mit der christlich-westlichen Welt identifiziert. "Die Juden, die an der Nahtstelle von Europa, Asien und Afrika einen Staat erhielten, erscheinen in den Augen der asiatischen Völker als Agenten und Platzhalter der christlichen Welt."[32] - Die Feindseligkeit, die sich in drei Kriegen der arabischen Welt gegen Israel ausdrückte (1948, 1956 und 1967), ist demnach nicht einfach mit "arabischem Antisemitismus" zu erklären, wenn das Judentum in der arabischen Welt dem christlichen Kulturkreis zugeordnet wird; es wäre vielmehr eine antiwestliche und antichristliche Haltung.

Israel wurde ursprünglich als sozialistischer Staat gegründet. Davon war schnell nichts mehr zu spüren. Im Kalten Krieg wurden die Gewerkschaften zerschlagen, und es erfolgte eine Orientierung zum Westen; der Staat wurde schnell kapitalistisch, das heißt eine Klassengesellschaft, die zugleich "ethnisch" heterogen überlappt ist. Die politischen Eliten rekrutierten sich aus osteuropäischen Einwanderern, die intellektuellen Eliten aus Deutschland und Frankreich stammenden Juden. Orientalische Juden kamen aus dem Jemen, Marokko und dem Irak; sie gehören bis heute keiner Elite an und bilden in Israel die Unterschicht. Ethnizität überlappt sich hier mit der Klassenzugehörigkeit.

Die Herkunft der jüdischen Einwanderer und ihr "diasporischer Habitus" waren für den Zionismus bis zum Zeitpunkt der Einwanderung der entscheidende Bezugspunkt und gleich danach eine Herausforderung: "Für den Zionismus galt es, das diasporische Dasein, das Exilleben der Juden zu negieren. Komplementär dazu sollte ›der neue Jude‹ geschaffen werden. Er sollte wehrfähig und produktiv im Sinne eines neuen Bauerntums werden, er sollte eine aufrechte Haltung an den Tag legen können und eben nicht der Gejagte, Geplagte, sich in der Zirkulationsphäre seinen Lebensunterhalt Verdienende und vor allem nicht mehr der Wehrlose sein."[33]

Vom Exiljuden wurde erwartet, daß er sein "Exil-Habitus" und sein "Opferdasein" ablegt, wenn er nach Israel kommt und die israelische Staatsbürgerschaft annimmt. Es gab in den 1950er Jahren die Tabuisierung des Holocausts eben auch in Israel - nicht nur in Deutschland. Man machte Hebräisch zur offiziellen Sprache - nicht etwa Jiddisch, die Sprache des aschkenasischen Exils. "In keinem Land wurde Jiddisch (...) so verfolgt wie in der vorstaatlichen jüdischen Gemeinschaft in Palästina und im Israel der frühen Jahre nach der Staatsgründung."[34]

Die geschundenen Überlebenden aus den Vernichtungslagern hat man zwar aufgenommen, aber von ihnen wurde erwartet, daß sie ihre seelischen und körperlichen Blessuren nicht zeigen - also auch kein Jiddisch sprechen. - So etwas entsprach nicht dem Bild des vom Zionismus proklamierten "neuen Juden". "Und so blieben die Opfer immer nur ein Argument für Kriege, wurden aber nie Gegenstand einer Reflexion über diesen Zustand, der Menschen zu ohnmächtigen Opfern von Gewalt und Repression macht."[35]

Der Zionismus hat, Zuckermann zufolge, den Holocaust in ein Narrativ eingebunden: "Hier kulminieren zweitausend Jahre Verfolgungs- und Opfergeschichte im Holocaust, was durch den Zionismus mit der Gründung des israelischen Staates beantwortet wird. Die Staatsgründung ist somit - ich verwende jetzt die aus dem hebräischen übersetzte Wendung - "die Erlösung", die Wiedererrichtung des jüdischen Volkes aus seiner Katastrophe."[36]

4.3. Die orthodoxen Juden

Das Problem ergibt sich für den israelischen Staat aber nun insofern, als es große Gruppen von Juden gibt, die sich dem zionistischen Selbstverständnis des Staates verweigern. Die orthodoxen und ultraorthodoxen Juden halten das Diasporische innerhalb Israels aufrecht.

"Für die orthodoxen Juden oder bestimmte ultraorthodoxe Strömungen bedeutet der Holocaust (...) etwas ganz anderes [als für die zionistischen Juden]: Sie gehen von der klassischen Frage aus, wie Gott eine solche Katastrophe zulassen konnte und haben folgende Erklärung gefunden: Gott hat das jüdische Volk für zweierlei bestraft. Erstens dafür, daß es den Weg des halachischen, mithin authentischen Judentums verlassen hat und den Weg der jüdischen Aufklärung gegangen ist. Zweitens dafür, daß es den Staat Israel als eine Neugründung des alten Königreichs Israel errichtet hat, bevor der jüdische Messias angekommen ist. Der politische Zionismus und die Errichtung des Staates Israel waren demnach die schlimmstmögliche Hybris gegen Gottes Willen."[37]

Mit anderen Worten: Für den orthodoxen Juden ist der Zionismus der Grund des Holocaust, während für den zionistischen Juden der Holocaust der Grund ist für die israelische Staatsgründung. - Beide Diskurse sind miteinander inkompatibel, werden aber in Israel ausgetragen. Es wird deshalb schwierig, von "einem" Israel zu sprechen, wenn man "allgemein" ohne weitere Differenzierung von Israel spricht. Von welchem der vielen Israels wird also gesprochen, wenn sich mit ihm "unbedingt" solidarisiert wird?

Wenn man nun in die israelische Gesellschaft schaut und differenziert - also klar ist, daß man besser nicht in einer abstrakten Weise von "dem Israel" sprechen sollte, dann haben wir es mit unterschiedlichen Diskursen in der Erinnerung an den Holocaust, im Umgang mit der Religion, mit der zionistischen Staatsideologie und mit dem Nahostkonflikt, das heißt mit den Palästinensern zu tun. Man kann nun Kritik betreiben, indem man die jeweiligen Standpunkte auf Interessen zurückführt und als "notwendig falsches Bewußtsein" angeht.

Geschichte wird immer instrumentalisiert. Das kann nicht die Frage sein, mit der wir uns auseinandersetzen. Die Frage ist: Wie wird instrumentalisiert, das heißt, was ist die Absicht der Instrumentalisierung? Es ist ein gewaltiger Unterschied ob der Holocaust vereinnahmt wird, um zu schlußfolgern, daß es niemals wieder Opfer geben darf - oder zur Schaffung neuer Opfer. Zuckermann schreibt: "Für eine emanzipatorische Perspektive bedeutet Erinnerung für mich folgendes: Ich will erst einmal dem Gedenkverständnis eines Walter Benjamin das Wort reden, also die Vergangenheit als katastrophische Vergangenheit begreifen und die Gründe für diese Katastrophe reflektieren sowie an die in dieser Vergangenheit untergegangenen Menschen erinnern. Aber nur wenn diese Erinnerung sich politisch in die emanzipative Richtung eines "Nie mehr wieder soll dies passieren!" wendet, wenn sie sich für die Schaffung gesellschaftlicher, politischer, kultureller und ökonomischer Strukturen stark macht, die das Opfersein überflüssig machen - nur dann gedenkt man der Katastrophe im Stande ihres Katastrophischen. Für mich bedeutet Erinnerung also auch immer eine Ausrichtung auf Gegenwart und Zukunft. Erinnerung nur um der Erinnerung willen hat immer schon den affirmativen Charakter des Regressiven und des Reaktionären."[38]

5. Der Nahost-Konflikt

Die Nahostproblematik weist eine komplizierte "konkret-reale, politisch-militärisch wirkmächtige Konstellation"[39] auf (Grundmatrix): "Israel betreibt seit Jahrzehnten ein Okkupationsregime und unterdrückt die Palästinenser, verhindert (...) deren nationale Selbstbestimmung."[40]

"Mögen also die einen das geschichtliche Problem darin erblicken, daß die arabische Welt sich nie mit der Gründung eines zionistischen Staates in ihrer Region abzufinden vermochte, die anderen wieder darin, daß die Staatsgründung unweigerlich mit bestimmten kolonialen Tendenzen, vor allem aber mit der Katastrophe des palästinensischen Kollektivs im prästaatlichen Palästina einhergehen mußte - fest steht allemal, daß die konkreten Auswirkungen dieser geschichtlichen Prädisposition den Dauerzustand von Repression und perennierender Leiderfahrung zeitigten, bei dem Israel macht-, gewalt- und herrschaftspolitisch objektiv die Rolle des Unterdrückers zukommt."[41]

Niemand sei gezwungen sich mit Israel/Palästina auseinanderzusetzen. Aber wer es tut, so Zuckermann, "ist berechtigt, diese historisch unabweisbare Realität zu verurteilen. Wer es nicht tut, muß sich Rechenschaft darüber ablegen, von welchen heteronomen Motivationen er angetrieben wird".[42] - Man kann sich mit Israel solidarisieren, auch wenn man zunächst feststellt, daß Israel ein historisches Unrecht an den Palästinensern begangen hat. Dieses historische Unrecht resultierte aus der Shoah, was dem ganzen eine besondere Tragweite gibt - aber es bleibt dennoch ein Unrecht, dessen Auswirkungen bis heute sehr lebhaft und tödlich zu spüren sind - und die nicht einfach mit "arabischem Antisemitismus" abzufertigen sind.

Es darf allerdings nicht daraus geschlußfolgert werden, das Unrecht müsse beseitigt werden, indem die Staatsgründung rückgängig gemacht wird. Aber in diplomatischen Verhandlungen gebietet sich für Israel und die westliche Welt eine Position der Nachgiebigkeit. Für die andere Seite (die Palästinenser) muß klar sein, und das ist mehrheitlich klar, daß das Existenzrecht Israels nicht zur Disposition steht; es ist eine unhintergehbare Prämisse für jede mögliche Lösung des Konflikts.

6. Lösungsansätze für den Nahost-Konflikt

Die Gründe, warum es bislang nicht zu einer Lösung gekommen ist, sind kompliziert - mit einseitigen Schuldzuweisungen kommt man nicht weiter. Für Zuckermann betreibt Israel ganz objektiv, eine "brutale Okkupation", und mit "objektiv" verweist er zugleich auf real Gegebenes und auf eine heteronome Struktur des Handelns, die sich zum einen - psychoanalytisch gesprochen - aus einer "Wiederkehr des Verdrängten", zum anderen aber auch aus der Wechselwirkung von Aktion und Reaktion, das heißt aus Bedrohung und Vergeltung ergibt, in der immer wieder unschuldige Menschen zu neuen Opfer gemacht werden. Solange diese Kette aus Bedrohung und Vergeltung nicht unterbrochen wird, werden immer wieder neue Opfer geschaffen.

Die Bedrohung durch den islamistischen Fundamentalismus wird bei einer solchen Bewertung nicht aus dem Auge verloren: "In der aktuellen Situation muß man sich selbstverständlich mit dem Haß auf und mit der Gewalt gegen Israel auseinandersetzen. Man muß sich fragen, wie die Leute zu einem solchen notwendig falschen Bewußtsein kommen und zur Zerstörung Israels auffordern."[43] - "[Eine Zerstörung Israels] würde - und das dürfte auch diesen Hardlinern klar sein - nichts anderes bedeuten, als daß der gesamte Nahe Osten in Schutt und Asche gelegt wird. Wir reden hier ja von einem bis zum Hals bewaffneten Land. Es ist der Aufschrei der Geknechteten und Erniedrigten und der Beleidigten, die zu nichts anderem fähig sind als ›die Zerstörung des Landes Israels‹ rauszukotzen. Rache ist für sie ein Lustgewinn - auch wenn im Gegenzug Ramallah, Nablus oder Jenin in Schutt und Asche gelegt werden."[44]

Und: "Wenn man im Flüchtlingslager 14-jährige sieht, die bereit sind, ihre aufblühende pubertäre Energie mittels eines Sprengsatzes umzusetzen, dann ist das doch nicht von Natur aus oder von einer Kultur aus gegeben. Leute werden in den Tod getrieben, indem sie auf den Tod getrimmt werden."[45] Menschen werden weder als Fundamentalisten noch mit ausgeprägtem Realitätssinn geboren. Realitätssinn ist eine Frage der Erziehung und des Aufwachsens, der Sozialisierung in gesellschaftlichen Verhältnissen.

Haben Fundamentalisten keinen Realitätssinn mehr,[46] so ist doch die große Mehrheit der Palästinenser bisher nicht dem Fundamentalismus anheimgefallen - auch wenn bei demokratischen Wahlen eine fundamentalistische Partei die politische Macht erringen konnte. Die Hamas ist eine islamistische Partei. "Sie pfleg[t] eine Ideologie, die sie als fundamentale Gegner jedes Kompromisses mit Israel [bisher] aus[ge]weist [hat], und kultivier[t] dieses Image ganz bewußt. Das hindert sie aber nicht daran, pragmatisch und machtorientiert zu agieren, wenn [ihr] das passend erscheint."[47] Ihr bewaffneter Kampf schließt Selbstmordattentate ausdrücklich mit ein. Aufgrund ihrer Sozialarbeit - und nicht zuletzt wegen Korruption und Unfähigkeit der Fatah - aber wuchs in den letzten Jahren ihre Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung, obwohl es dort einen breiten Konsens gegen Selbstmordattentate gibt.

Mehr noch: Die Ergebnisse von zwei Meinungsumfragen von Al-Jazeera und einem palästinensischen Institut unmittelbar nach dem Wahlsieg der Hamas sowie Ende Februar 2006 verdeutlichen, daß die Hamas nicht wegen, sondern trotz ihres islamistischen Fundamentalismus und ihrer Radikalfeindschaft zu Israel gewählt wurde. "Demnach erwarte[te]n 94 Prozent der Palästinenser von der Hamas, daß sie die wirtschaftliche Situation verbessert und die Arbeitslosenquote senkt. 90 Prozent woll[t]en die Korruption wirksam bekämpft sehen, 85 Prozent erwarte[te]n die Bekämpfung der Gesetzlosigkeit, das Einsammeln illegaler Waffen sowie Reformen innerhalb der PA. ›Außenpoltisch‹ würden immerhin 51 Prozent den Staat Israel anerkennen, 54 Prozent plädier[t]en für ein gewaltsames Vorgehen gegen Gruppen, welche die Waffenruhe brechen und 62 Prozent dafür, daß die Raketenangriffe gestoppt werden. 70 Prozent woll[t]en, daß der Friedensprozeß mit Israel wieder aufgenommen wird, 75 Prozent, daß die Hamas ihr Ziel aufgibt, Israel zu vernichten, und 80 Prozent plädier[t]en dafür, die Waffenruhe weiter einzuhalten."[48] Das waren sehr eindeutige Zahlen, die klar die Behauptung der Bahamas widerlegen, bei den Palästinensern handle es sich um ein "sich im Vernichtungswahn gerierendes völkisch islamistisches Judenhasserkollektiv".

Der Leiter des Büros von MEMRI (The Middle East Media Research Institute), Jochen Müller, war der Ansicht, die Hamas werde sich mäßigen müssen, will sie die Regierungsgewalt nicht wieder verlieren, weil die Mehrheit der Palästinenser in ihren Erwartungen enttäuscht wird.[49] Die Frage lautete also, ob sich die Hamas mäßigen würde, nachdem sie zur Regierungspartei geworden war. Inzwischen hat sich die Lage abermals dramatisch verändert. Die palästinensischen Autonomiegebiete sind nach dem innerpalästinensischen Bürgerkrieg zwischen Hamas und Fatah faktisch in zwei Teile zerfallen. Während die Hamas den Gazastreifen kontrolliert und sich wieder radikalisiert, entfernen sie sich ideologisch und territorial vom Westjordanland, in dem die Fatah die Macht ausübt.

Die übergroße Mehrheit der Palästinenser hat aber genauso wie in andere Bevölkerungen auch einen Realitätssinn; sie wollen sicher nicht, daß ihre Städte und Häuser zerstört und ihre Familien getötet werden (wenn auch in diesen Reihen das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird, dann ist das von anderer Qualität, als bei einem Antisemiten in Europa, der sein Hab und Gut nicht zu verlieren hat und um sein Leben nicht bangen muß).

Im Jahre 1988 wurde Israel von den Palästinensern anerkannt. Die Hamas allerdings ignorierte bisher diese bereits geleistete Anerkennung. Aus diesem Grund - und weil sie seit ihrem Wahlsieg im März 2006 auch als Regierung von der Gewalt nicht abließ - kam es zu einem internationalen Finanzboykott gegen die Autonomiebehörde, an dem sich auch die Arabische Liga beteiligte. Imail Hanija verzichtete auf das Amt des Ministerpräsidenten und war zu Neuwahlen bereit. Es zeichnete sich ab, daß einiges in Bewegung kommen könnte, nachdem eine Einigung zwischen Hamas und Fatah in Mekka erzielt wurde, die den innerpalästinensischen "Bruderkrieg" zwischenzeitlich beendete. Zwar wäre nicht unbedingt eine direkte Anerkennung Israels seitens der Hamas zu erwarten gewesen, aber eine indirekte war erfolgt,[50] jedenfalls konnte man es so deuten, daß die Arabische Liga beschlossen hatte, die Finanzhilfen für Palästina wieder fließen zu lassen und Hamas bereit war, auf einer Friedenskonferenz auch mit Israel zu verhandeln.[51] Darüber hinaus wurde im Abkommen von Mekka seitens der Hamas versichert, sie werde sämtliche von der PLO unterzeichneten Abkommen mit Israel zwar nicht anerkennen, aber respektieren. In der Praxis wäre der Unterschied zwischen Anerkennung und Respektierung nicht allzu groß gewesen und auf dasselbe hinausgelaufen. Die Koalitionäre der Hamas beherrschten jedenfalls vorübergehend eine diplomatische Sprache, die sie gegenüber ihrem eigenen Lager das Gesicht wahren ließ und zugleich positive Anknüpfungspunkte für die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen mit Israel bot. Es war jedenfalls nicht völlig abwegig, danach zu fragen, inwieweit sich hier eine gemäßigte Fraktion in der Hamas herausbildete.

Mit der Anerkennung Israels im Jahre 1988 hatten die Palästinenser 75 Prozent ihres ursprünglichen Heimatlandes aufgegeben. "Die Mindestforderungen der Palästinenser [waren]: Wir wollen die anderen 25 Prozent haben, also 98 Prozent der besetzten Gebiete, so wurde es in Camp David ausgehandelt. Und für das, was wir aufgegeben haben, bekommen wir Ersatz im Kernland Israel. Alle Siedlungen werden abgebaut und die nicht abgebauten gehen in die Hoheit der Palästinenser über. Jerusalem wird im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung zur Hauptstadt beider Staaten. Es muß eine zumindest symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts geben, was de facto heißt, daß man zwischen 250.000 und 400.000 Palästinenser im Zuge der Vereinigung von Familien ins Kernland von Israel zurückkehren läßt. Die anderen werden im neuen palästinensischen Staat oder in den Ländern, in denen sie sich heute befinden, repatriiert."[52]

Für Zuckermann wäre das nur eine Zwischenlösung; er ist der Ansicht, "daß Israel und der palästinensische Staat langfristig nur in konföderativen Strukturen existenzfähig sind (...). Israel, Palästina und [seines Erachtens] auch Jordanien müssen zusammenkommen, um die Kernprobleme des infrastrukturellen Aufbaus der palästinensischen Gesellschaft lösen zu können."[53] Israel und Palästina sind ineinander verschränkt; es existiert zum Beispiel eine Arbeits-Interdependenz, die vor allem die palästinensische Mittelschicht betrifft.

Auch aus anderer Warte sei einem "multiethnischen", konföderativen Staat das Wort geredet: Lebt es sich denn wirklich besser, wenn man sich nicht mehr von den Eliten eines anderen, sondern nur von den eigenen Eliten fortan beherrschen läßt? Weisen denn nicht etwa dieselben subalternen Klassen der israelischen und palästinensischen Gesellschaft größere Gemeinsamkeiten auf als die national zusammengefaßten Klassen eines Landes? Müßten nicht überall die subalternen Klassen zueinander über nationale Grenzen hinweg größere Solidarität empfinden als gegenüber den nationalen Ausbeutern? Steht in diesem Sinne nicht für jede subalterne Klasse der Hauptfeind im eigenen Land? Der Staat mit national homogener Bevölkerung ist jedenfalls immer eine Fiktion geblieben.[54]

Vernünftig wäre es, wenn sich Israelis und Palästinenser auf lange Sicht in einem "multiethnischen", säkularen Staat zusammenfinden, gleichberechtigt, und ihr Staatsangehörigkeitsprinzip nach dem modernen ius soli ausrichten. Dies ist zunächst noch utopisch, geht nur über den Zwischenschritt der Gründung eines souveränen palästinensischen Nationalstaates. Eine Föderation wäre für die Palästinenser völlig unannehmbar, solange sie nicht als gleichberechtigte Partner anerkannt werden.

Inwieweit ein souveräner palästinensischer Staat das Problem des Fundamentalismus in seiner Gesellschaft in den Griff bekommt, wird man erst beurteilen können, wenn es einen souveränen palästinensischen Staat gibt. Aber vieles spricht dafür, daß der Fundamentalismus marginalisiert werden kann. Fundamentalismus ist kein wesenhaftes Problem einer Religion; er bedient sich lediglich der Religion als Legitimationsideologie. Aber nicht mal die Religion ist erforderlich; Fundamentalismus kann sich auch anderer, nichtreligiöser Geisteshaltungen bedienen und sie als Legitimationsideologien mißbrauchen. "Fundamentalismus kann nur dort erblühen, wo die Hegemonie die Leute deklassiert. Von daher ist er nur zu bekämpfen, indem man die Infrastruktur stellt, die ihn objektiv überflüssig macht."[55] Demzufolge sind Jihad und Hamas "eine Geburt der Art und Weise, wie die Israelis den Palästinensern die Errichtung ihrer eigenen Gesellschaft ermöglichen".

Eine Lösung im Nahen Osten kann es nicht geben, wenn den Palästinensern ihr eigener Staat verweigert wird, "und ein palästinensischer Staat mit einer Hauptstadt Ostjerusalem würde die israelische Existenz mitnichten in Frage stellen. Dagegen würde eine solche pragmatische Auflösung des Konflikts endlich Raum geben für die hüben wie drüben schwelende innergesellschaftliche Kritik, würde den Blick weg von Staatsgebieten hin auf die gesellschaftliche Verfaßtheit richten helfen. Nur auf diesem Gebiet kann den religiösen und nationalistischen Eiferern auf beiden Seiten wirkungsvoll entgegengetreten werden."[56]

Aber mit der Gründung eines palästinensischen Staates wäre die Voraussetzung für das Verschwinden des Fundamentalismus von der politischen Bühne noch nicht erbracht, wenn dieser Staat nicht zugleich mit Unterstützung im ökonomischen Sinne überlebensfähig gemacht würde. So verhindert man, daß in einem Staat, dem die ökonomische Basis fehlt und der zwangsläufig in Krisen stürzt, die Menschen auf diese fundamentalistischen Ideologien zurückgreifen.

Der Stärkere muß nachgeben und beginnen, etwas anzubieten. Diese Aufgabe kommt Israel zu. - So auch die Ansicht des israelischen Reserveoffizier Dan Tamir von Yesh-Gvul (Es gibt eine Grenze), einer Organisation israelischer Soldaten, die den Kriegsdienst in den besetzten palästinensischen Gebieten verweigern.[57] Dan Tamir ist im Sommer 2001 wegen seiner Verweigerung zu 26 Tagen Gefängnis verurteilt worden. Er sagt: "Als Mensch bin ich nicht bereit, Gewalt gegen unschuldige Menschen auszuüben. Zudem weiß ich, daß ich in diesem Konflikt zur stärkeren Seite gehöre. Und weil ich zur stärkeren Seite gehöre, mußte ich als erster aufhören."[58]

Seit 1982 gab es drei größere Wellen von Kriegsdienstverweigerungen in Israel. Im Krieg gegen den Libanon 1982-1984 waren es einige Hunderte. Die zweite Welle fiel in die Phase der ersten Intifada (1987-1993). Im September 2000 folgte schließlich die dritte Welle von Massenverweigerungen, die bis heute anhält und auf über 1.100 Kriegsdienstverweigerer angeschwollen ist - darunter Soldaten bis zum Rang eines Majors und Oberstleutnant. Offiziell wird dieses Phänomen, Dan Tamir zufolge, in Israel verschwiegen oder die Verweigerer als Verrückte, Feiglinge, Fanatiker, Linke, Extremisten und Kommunisten denunziert.

Warum ist es dem israelischen Staat bisher nicht möglich gewesen, als der Stärkere in diesem Konflikt nachzugeben? Warum reagieren israelische Regierung und Militär mit so unnachgiebiger Härte? Zuckermann hat diesbezüglich einen Erklärungsansatz, der sich psychoanalytischer Begrifflichkeiten bedient. Er wendet die Kategorie der Verdrängung des Unbewußten, der Rationalisierung und der "Wiederkehr des Verdrängten" auf die politische Kultur Israels an und kommt zu dem Ergebnis, daß den herrschenden Eliten im Kontext des staatlichen Zionismus zweierlei Schuldgefühle zueigen sind. "Zum einen das Gefühl einer mit der auf dem Rücken der Palästinenser ausgetragenen Staatsgründung einhergehenden Schuld; zum anderen das Gefühl einer eher vor- oder gar unbewußten Schuld, die mit der kulturellen bzw. psychologischen Negation des Diaspora-Juden im allgemeinen und der Shoah-Überlebenden im besonderen zusammenhängt."[59]

Zuckermann schreibt, es bedurfte mehrerer Jahrzehnte politischer Aufklärungsarbeit, "ehe die palästinensische Erfahrung und Wahrnehmung der zionistischen Staatsgründung als Katastrophe (nakbah) des palästinensischen Volkes einen ersten bescheidenen Eingang in Israels politischen Diskurs finden konnte. Über Jahre wurden die zentralen Ideologeme des zionistischen Narrativs - die Araber hätten sich dem UN-Teilungsplan von 1947 verweigert; es gebe kein palästinensisches Volk; die Palästinenser wären bloß auf die Vernichtung des zionistischen Staates aus etc. - unentwegt perpetuiert, ohne dabei auch nur die Erwägung zuzulassen, daß trotz des möglichen, wie immer auslegbaren Wahrheitskern dieser Ideologeme, es sich real auch um die historische Katastrophe und das leidvolle Exil des anderen Kollektivs, um die unsägliche Zerstörung ganzer Lebenswelten und den Ruin einzelmenschlicher Lebensschicksale handle."[60] Die palästinensische Leidensgeschichte sei "nahezu völlig aus der gängigen israelischen Alltagserfahrung, mehr noch aus der Sphäre des offiziellen Diskurses ausgeblendet". Nun müsse man nicht unbedingt, wenn von gegenseitigen Feinderklärungen die Rede ist, allzu viel Verständnis für seine Feinde haben, "so scheint es, als handle es sich hier [aber] um etwas übers Feindbild, über die normale Konfliktrhetorik weit Hinausgehendes: um die totale Dämonisierung dessen, an dem man sich fundamental schuldig gemacht hat, mithin um die Abwendung der eigenen kaum erträglichen Schuld und ihre Projektion auf die Quelle des Schuldgefühls, die Opfer"[61]. Das Verdrängte kehrt wieder im Symptom der Brutalität und Härte gegen die Palästinenser.

Trifft der oben erwähnte Zusammenhang von der "Wiederkehr des Verdrängten" zu, dann müßte die israelische Gesellschaft damit beginnen, das stetig Verdrängte und Wiederkehrende, das heißt ihre eigene schuldhafte Verstrickung in der Öffentlichkeit aufzuarbeiten.

Dan Tamir sagt: "Die Verletzung der Menschenrechte muß aufhören."[62] Israel müsse ein demokratischer Staat werden. "Es muß die Logik aufgegeben werden, einen jüdischen Staat zu errichten. In den Grenzen von 1967 gibt es ein System der Apartheid für die Nichtjuden, das aufgehoben werden muß."[63] Nach seiner Ansicht haben sich sowohl der Zionismus als auch der Panarabismus längst überholt; sie sind nicht mehr zeitgemäß. Er sagt: "Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Logik, nicht auf der Basis ›Zionismus gegen Panarabismus‹, nicht auf der Basis der nationalen oder religiösen Teilung der israelischen Gesellschaft. Im Gegenteil, wir brauchen eine Logik des friedlichen Zusammenlebens aller Bewohner Israels - Moslems, Christen, Juden, aller, die hebräisch oder arabisch sprechen, eine Logik der Koexistenz aller dieser Gemeinschaften, langfristig zusammen in einem Gemeinwesen. Früher oder später wird mehr und mehr Menschen bewußt werden, daß die Teilung und Trennung in national ›reine‹ Gruppen Konflikte und Kriege mit sich bringt."[64]

Anmerkungen:

[1] Siehe dazu Helga Elmbacher: "Neuer Antisemitismus in Europa - Historisch vergleichende Überlegungen", in: Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2005, S. 50-69; Juliane Wetzel: "Der schwierige Umgang mit einem Phänomen - Die EU und der Antisemitismus", ebd., S. 90-109.

[2] Moshe Zuckermann: "Editorial", in: Antisemitismus - Antizionismus - Israelkritik, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2005, S. 9-13; S. 9.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] "Die Logik der Okkupation. Eine Diskussion mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann", in: iz3w, Nr. 261 und in: sopos 5/2002.

[6] Ebd.

[7] Moshe Zuckermann: "Editorial", a.a.O., S. 9.

[8] "Logik der Okkupation", a.a.O.

[9] Siehe z.B. Linksruck: "Der Terror kommt aus Israel.", in: Linksruck, Nr. 221 vom 19. Juli 2006: "Hamas und Hisbollah sind Teil dieses rechtmäßigen palästinensischen Widerstands. Wer Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Nahen Osten will, muß den Widerstand der Palästinenser unterstützen." [Linksruck hat sich inzwischen aufgelöst.]; vgl. auch: Israel und die palästinensische Befreiungsbewegung. Ursachen des Nahost-Konfliktes und Perspektiven für den Frieden, hrsg. v. Werner Halbauer, Verein für Geschichte und Zeitgeschichte der Arbeiterbewegung e. V., Frankfurt am Main 2002; siehe auch Margarethe Berger: "Palästina im Umbruch. Die palästinensische Befreiungsbewegung nach Arafat", in: Intifada - Zeitschrift für den arabischen Widerstand, Januar 2005.

[10] Vgl. "Stellungnahme in eigener Sache", in: Linksruck, Nr. 128 vom 16.04.2002: "Es ist eine historische Tatsache, daß Juden in der Region leben. Wir wollen das nicht rückgängig machen. Aber Israel ist ein Unterdrückerstaat. Deshalb bedeutet Anerkennung Israels zugleich Aufrechterhaltung der permanenten Kriegssituation und damit verbundener Notstandsgesetze, die eine Million israelische Palästinenser zu Bürgern zweiter Klasse herabstufen."

[11] Horst Pankow: "›Kindermörder‹. Noch einmal über Antisemitismus, Zionismus, Deutsche und Palästinenser", in: Bahamas 33/2000.

[12] Vgl. "Die Möglichkeit des Schlimmsten. Interview mit Gerhard Scheit über Israel-Solidarität, islamistische Rackets und Antisemitismus", in: iz3w, Nr. 263 und in: sopos 9/2002.

[13] Vgl. Thomas Käpernick: "Keine Stigmatisierung Israels", in: iz3w, Nr. 250 und in: sopos 1/2001.

[14] Moshe Zuckermann: "Editorial", a.a.O., S. 11.

[15] Moshe Zuckermann: Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands, Göttingen 1998, S. 9f.

[16] Zum Begriff des Ticketdenkens siehe Max Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1969.

[17] Moshe Zuckermann: "Editorial", a.a.O., S. 10f.

[18] Ebd., S.11.

[19] Das in der angelsächsischen Welt dominierende Reformjudentum spielt in Israel keine Rolle.

[20] "Die Logik der Okkupation", a.a.O.

[21] Ebd.

[22] Jacob Katz: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt am Main 1986, S. 212.

[23] Zuvor waren andere Ausdrücke im Gebrauch, die ihrer Bedeutung nach darauf verweisen, daß es um erzwungene Assimilation, nicht um Befreiung ging, jedenfalls Subjekt und Objekt der Integration nicht zusammenfielen: "Naturalisierung", "Régenération" (frz.), "Bürgerliche Verbesserung" (dt.). -Vgl. ebd., S. 211.

[24] Vgl. ebd. S. 215f.

[25] J. Bartikwa: Das unheilige Land. Sozialgeschichte des Staates Israel, Darmstadt 1970, S. 34.

[26] Ebd.

[27] Ebd., S. 35.

[28] Ebd.

[29] Vgl. Altes Testament, 2. Samuel 5,7.

[30] Vgl. Jesaja 10,12.

[31] Jüdisches Lexikon, Stichwort: "Araberfrage in Palästina".

[32] Bartikwa, a.a.O., S. 38.

[33] "Vielerlei Holocaust? Teil II einer Diskussion mit dem israelischen Historiker Moshe Zuckermann", in: iz3w, Nr. 262 und in: sopos 7/2002.

[34] Moshe Zuckermann: "Psychoanalyse und Politik. Ein Beitrag zur Analyse der israelischen politischen Kultur", noch unveröffentlichtes Manuskript (?).

[35] "Vielerlei Holocaust?", a.a.O.

[36] Ebd.

[37] Ebd. - Folglich verweigern sie dem Staate Israel seine Autorität. Die orthodoxen Juden beziehen sich statt dessen auf das Halakhah, das Gesetzessystem des traditionellen Judaismus; es wurde vom 9. bis 18. Jahrhundert praktiziert und wird bis heute vom orthodoxen Judentum aufrechterhalten; es basiert maßgeblich auf dem Babylonischen Talmud.

[38] Ebd.

[39] Zuckermann: "Editorial", a.a.O., S. 9.

[40] Ebd.

[41] Ebd., S. 10.

[42] Ebd.

[43] "Die Logik der Okkupation", a.a.O.

[44] Ebd.

[45] Ebd.

[46] Vgl. Lorenz Graitl: "Massen, Mörder, Märtyrer. Zur Sozialpsychologie von Selbstmordattentaten", in: iz3w, Nr. 293 und in: sopos 6/2006.

[47] Alexander Flores: "Eine schwache One-Man-Show. Hintergründe der jüngsten inner-palästinensischen Auseinandersetzungen", in: iz3w, Nr. 280 und in: sopos 11/2004.

[48] Jochen Müller: "Wird sich die Hamas mäßigen? Sie wird es müssen!", in: iz3w, Nr. 292 und in: sopos 4/2006.

[49] Anderer Ansicht ist Ilka Schröder von der Washingtoner Georgetown University. Sie meint, daß die Hamas sich nicht mäßigen können wird. - Vgl. Ilka Schröder: "Wird sich die Hamas mäßigen? Sie wird es nicht wollen!", in: iz3w, Nr. 292 und in: sopos 4/2002.

[50] Vgl. Uri Avnery: "Ein stark riechender Fisch. Außenministerin Rice und die ›neuen Horizonte‹ in Palästina", in: Freitag, Nr. 9 vom 02.03.2007: "Seitdem die Hamas an der Macht ist, haben ihre Führer verstanden, daß sie flexibler werden müssen, denn die palästinensische Bevölkerung sehnt sich nach einem Ende der Besatzung und einem Leben in Frieden. Daher hat sich die Organisation Schritt für Schritt einer Anerkennung Israels angenähert. Ihre religiöse Doktrin erlaubt ihnen nicht, dies öffentlich zu deklarieren (jüdische Fundamentalisten lassen auch nicht von dem Wort: ›Deinen Nachfahren gebe ich dieses Land!‹), aber sie hat dies sehr wohl indirekt getan. Ein kleiner Schritt, aber eine große Revolution. Hamas hat sich zu einem palästinensischen Staat in den Grenze von 1967 bekannt - wohlgemerkt: nicht anstelle, sondern an der Seite Israels."

[51] Vgl. Financial Times Deutschland (online) vom 13.11.2006.

[52] "Logik der Okkupation", a.a.O.

[53] Ebd.

[54] Vgl. Jürgen Habermas: Die Moderne als unvollendetes Projekt, Frankfurt am Main 1994, S. 165.

[55] "Logik der Okkupation", a.a.O.

[56] Christoph Seidler: "Palästinenser sind keine Unmenschen", in: iz3w, Nr. 250 und in: sopos 1/2001.

[57] Yesh-Gvul gehört zur israelischen Friedensbewegung, um die es seit einigen Jahren sehr still geworden ist. Zuckermann stellt eine "Ohnmachtslethargie" fest. "Die etablierte kritische Intelligenz ist zum großen Teil verstummt, bzw. überwintert in bemerkenswerter Unreflektiertheit die sich um sie herum zutragende Katastrophe. Nur der Aufschrei einer kleinen Minorität von israelkritischen Linken ertönt in regelmäßiger Insistenz, wird aber vom Umfeld mit um so größerem Unverständnis (im besten Falle) und mit unverhohlener Feindseligkeit (im weit häufigerem) quittiert." - Moshe Zuckermann: "Von israelischer Melancholie", unveröffentlichtes Manuskript (?).

[58] "Es gibt eine Grenze", Interview mit Dan Tamir, in: Prin vom 1.9.2002, ins Deutsche übersetzt von Gregor Kritidis, in: sopos 9/2002.

[59] Moshe Zuckermann: "Psychoanalyse und Politik", a.a.O.

[60] Ebd.

[61] Ebd.

[62] "Es gibt eine Grenze", a.a.O.

[63] Ebd., (Hervorhebung von mir).

[64] Ebd.

Marcus Hawel ist Mitherausgeber der Sopos und lehrt zur Zeit an den Instituten für Politikwissenschaft sowie für Soziologie und Sozialpsychologie der Leibniz Universität Hannover.
Dieser leicht überarbeitete Beitrag erschien zuerst unter dem Titel "Befindlichkeit im Blick" in der Zeitschrift utopie kreativ, Nr. 199, Mai 2007, S. 432-448.
Es existiert auch eine Audio-Version der ursprünglichen Fassung.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/4821de0ba7cb1/1.phtml

sopos 5/2008