Zur normalen Fassung

Freiheitssinn und Widerstandsrecht

Zur Aktualität von Artikel zwanzig, Absatz vier, Grundgesetz

von Marcus Hawel (sopos)

»Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, daß sie nicht zur Hölle wird.«
Fritz Bauer

Als was ist jemand zu bezeichnen, der die Grundfesten des Rechtsstaates zu erhalten versucht, indem er Widerstand leistet und z.B. mit Straßenblockaden und zivilen Ungehorsam die freiheitlich-demokratische Grundordnung verteidigt? Ein Terrorist kann er nicht sein.

G8-Gegner werden im Vorfeld des Gipfeltreffens in Heiligendamm in die Nähe des Terrorismus gerückt, ohne daß von öffentlich agierenden Gruppen gewaltsame Aktionen propagiert werden. Am Terrorismus-Begriff läßt sich dagegen erkennen, in welcher Schieflage sich die Diskussion um legitimen Widerstand befindet.

Die Bundesregierung legte vor einigen Monaten auf Anfrage im Bundestag eine Definition von Terrorismus vor: Terror sei die rechtswidrige Anwendung von Gewalt. Nimmt man diese Definition zur Grundlage, um die Beteiligung der Bundeswehr an den militärischen Interventionen im Kosovo, Afghanistan und Irak zu bewerten, dann muß man zwangsläufig wie der Linksfraktionsvorsitzende Oskar Lafontaine zu dem Resultat kommen, daß die Bundeswehr in Terrorismus verstrickt ist. Man kann darüber streiten, ob die Beteiligung der Bundeswehr out of area noch grundgesetzwidrig ist, nach dem das Bundesverfassungsgericht 1994 die Rechtmäßigkeit von out of area-Einsätzen als rechtmäßig bestätigt hat. Rechtmäßig aber wären solche Einsätze der Bundeswehr out of area nur dann, wenn sie nicht zugleich völkerrechtswidrig[1] und damit grundgesetzwidrig[2] sind.[3] Ein solcher Einsatz wäre also von einem UNO-Mandat abhängig. Nun gibt es aber kein Uno-Mandat, weder für das Kosovo, noch für Afghanistan oder den Irak. Folglich sind die Kriege der USA, NATO mit und ohne Bundeswehrbeteiligung völkerrechtswidrig, d.h. rechtswidrige Anwendung von Gewalt – ergo terroristisch.

Das Bundesverwaltungsgericht hat (aufgrund der Klage eines Soldaten, der wegen Gehorsamsverweigerung angeklagt worden war) bestätigt, daß Deutschland durch seine indirekte Unterstützung – u.a. wegen der Gewährung der Nutzung und Bereitstellungen von US-Militärbasen auf deutschem Boden, Überflugrechte, sowie der Bewachung dieser Basen durch Bundeswehrsoldaten, an völkerrechtswidrigen Aktionen beteiligt ist.[4] Das wußte man zwar schon vorher,[5] aber nun ist der Fall eingetreten, daß ein oberstes Gericht zumindest symbolisch der Wahrheit zur Geltung verhilft.

Die verantwortlichen herrschenden Eliten in der Bundesrepublik ignorieren das. Kein Wunder: Sie wollen ihre außenpolitischen Interessen weiter verfolgen, ohne daß diese in Frage gestellt oder strafrechtlich belangt werden. In der Öffentlichkeit wird sich deshalb lauthals entrüstet, Lafontaine habe der Bundeswehr, die doch vorbildlich beim Wiederaufbau Afghanistans behilflich sei, Terrorismus vorgeworfen. Man findet das einigermaßen absurd – aber man unterschlägt die Vermittlungsschritte und verdrängt, daß Lafontaine in seiner Begründung die Terrorismus-Definition der Bundesregierung zur Grundlage genommen hat. Die Verdrängung hat nicht immer etwas mit Dummheit zu tun, sondern – das ist zu befürchten – im wesentlich damit, daß man sich vollkommen gleichgültig zu der Frage verhält, ob man sich auf dem Boden von Grundgesetz und Völkerrecht befindet – oder eben nicht.

Was für die Außenpolitik gilt, trifft auch für die Innenpolitik zu. Die Generalbundesanwältin Monika Harms erklärt in einem Interview im Spiegel vom 26. Mai 2007, was sie (und damit die Staatsanwaltschaft des Bundes) unter Terrorismus versteht. Sie sagt: »Ein Terrorist ist jemand, der die Grundfesten des Staates berührt, indem er mit Gewalt unsere demokratische Grundordnung angreifen will.«

Nach dieser Definition ließe sich der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble als Terrorist einstufen und müßte von der Bundesanwaltschaft in seinem Tatendrang behindert, ja sogar strafrechtlich belangt werden. Denn er berührt die Grundfesten des Staates (z.B. durch faktische Einschränkungen des Demonstrationsrechts, Aufhebung der Institutionentrennung zwischen Polizei, Geheimdiensten, Armee und Feuerwehr oder durch präventive Verhaftungen etc.), indem er mit Hilfe der Staatsgewalt unsere freiheitliche und rechtsstaatliche Grundordnung angreift und mit jedem seiner Schritte beseitigt. Schäuble offenbart eine Gesinnung, die den Boden der freiheitlichen und rechtstaatlichen Ordnung längst verlassen hat. Das zeigt an, daß die Legitimation der herrschenden Eliten schwindet; gegen demokratische und rechtstaatliche Ansprüche wird verfassungswidrige Gewalt in Anschlag gebracht.

Die Gerichte sehen das anders. Das Problem ist auch zu radikal. Wie heikel diese Frage ist, liegt angesichts der politischen Konsequenzen auf der Hand. Aber die Strategie des Vogel-Strauß hilft nicht weiter. Darum frage ich nach der Aktualität von Artikel 20 des Grundgesetzes. Konkreter: Als was ist jemand zu bezeichnen, der die Grundfesten des Rechtsstaates zu erhalten versucht, indem er Widerstand leistet und z.B. mit Straßenblockaden und zivilen Ungehorsam die freiheitlich-demokratische Grundordnung gegen die Bundesregierung und die herrschenden Eliten verteidigt? Ein Terrorist kann er nicht sein.

In Artikel 20 des Grundgesetzes ist die Fundamentalnorm festgehalten, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat zu sein hat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Die Gesetzgebung ist wiederum an die Verfassung gebunden, wie auch alle Gewalten des Staates an Gesetz und Recht gebunden sind. Der vierte Absatz des 20er Artikels ist außerordentlich bemerkenswert: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Widerstand gegen den Versuch, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen – und zwar präventiv, noch bevor die Ordnung abhanden kommt – ist durch das Grundgesetz rechtlich abgesichert, sofern alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden (ultima ratio). Dieses Widerstandsrecht wurde im Zusammenhang der Notstandsgesetzgebung 1968 in das Grundgesetz aufgenommen und bezieht sich auf die Erfahrung, daß sich im Faschismus Unrecht in ein rechtliches Gewand gekleidet hatte. Wenn Unrecht sich im niedergeschriebenen Recht niederschlägt und zur Anwendung kommt, ist der Bürger alles andere als gezwungen, Gehorsam zu leisten.

Freiheitssinn gegen Ordnungssinn

Der hannoversche Politikwissenschaftler Joachim Perels, dessen Gedankengänge ich im Folgenden zunächst sehr nah an seinem Text paraphrasiere, erinnert in seinem Buch »Entsorgung der NS-Herrschaft?« daran, daß der 1968 verstorbene hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer systematisch ein Widerstandsrecht für die Demokratie positiv in Anschlag gebracht hat.[6] Perels schreibt: »Wie kein anderer hat Bauer in der Bundesrepublik [die] Bedeutung [des Widerstandsrechts; MH] für die Demokratie ins Zentrum gerückt. Die Wahrnehmung des Widerstandsrechts gegenüber – wie es in der hessischen Verfassung heißt – rechtswidrig ausgeübter öffentlicher Gewalt ist die Alternative zur Praxis der staatlichen Zerstörung rechtlicher Schutzpositionen.«[7]

Bauers Ausführungen zum Widerstandsrecht standen im Kontext des Remer-Prozesses aus dem Jahre 1952. Otto Ernst Remer war stellvertretender Vorsitzender der rechtsextremistischen Deutschen Reichspartei. Er hatte die Widerstandskämpfer des 20. Juli, an dem ein Attentat auf Adolf Hitler mißlang, als Hoch- und Landesverräter verunglimpft. In einem Scheinverfahren waren kurz vor Befreiung der Konzentrationslager Sachsenhausen und Flossenbürg, in die die Widerständler inhaftiert worden waren, u.a. Wilhelm Canaris, Hans Oster, Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt worden. Das Landgericht München bestätigte nach 1945 dem damaligen terroristischen Scheinverfahren seine Rechtmäßigkeit und verweigerte damit die Anerkennung der Legitimität des Widerstands, insbesondere des versuchten Mordes von Hitler.

Den Prozeß von 1952, in dem Remer wegen übler Nachrede in Tateinheit mit Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt wurde, nahm Bauer zum Anlaß, öffentlich das Recht jedermanns auf den »Tyrannenmord« stichhaltig nachzuweisen. Bauer schreibt: »Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig. Ein Unrechtsstaat, der täglich Zehntausende Morde begeht, berechtigt jedermann zur Notwehr (...). Jedermann war berechtigt, den bedrohten Juden, oder den bedrohten Intelligenzschichten des Auslands Nothilfe zu gewähren.«[8] Bauer ging sogar noch weiter, indem er nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zum Widerstand gegen einen Unrechtstaat postulierte.

Fritz Bauer unterscheidet zwei Typen von Juristen: »Jurist aus Ordnungssinn« und »aus Freiheitssinn«.[9] Diese Unterscheidung geht auf eine Anregung zurück, die Bauer von seinem akademischen Lehrer und Mentor Gustav Radbruch erfahren hat. In dessen »Einführung in die Rechtswissenschaft«heißt es: »Der Neigung zur Reglementierung (...) ein Gegengewicht zu bieten, ist die historische Aufgabe des Juristen aus Freiheitssinn, vom Amtsrichter, der Übergriffe der polizeilichen Verordnungsgewalt als solche kennzeichnet, bis zum Verteidiger, der die Kunst gegen unzüchtige Betrachter schützt. Diese Juristen sind Vorposten des Rechtsstaats gegen unseren angeborenen Hang zum Polizeistaat. Rechtsstaat ist aber für uns nicht nur ein politischer, sondern kultureller Begriff. Er bedeutet, die Wahrung der Freiheit gegen die Ordnung, des Lebens gegen den Verstand, des Zufalls gegen die Regel, der Fülle gegen das Schema.«[10]

Ein »Jurist aus Freiheitssinn«, so faßt es Fritz Bauer mit eigenen Worten zusammen, versteht sich als ein Anwalt des Menschenrechts, des »Rechts der Menschen und ihrer sozialen Existenz gegen private und staatliche Willkür«[11].

Widerstandsrecht bei Martin Luther

Das Widerstandsrecht geht auf Martin Luther zurück und richtet sich gegen eine Staatsgewalt, die »Gottes Geboten« zuwiderhandelt. Perels schreibt: »Es ist Luther selber, der in zwei Schriften (An meine lieben Deutschen und in der Circulardisputation) [sogar] ein gewaltsames Widerstandsrecht gegen das System eines gesetzlosen Menschen, des Anomos im Sinne des zweiten Thessalonikerbriefes, der keine rechtlich gebundene Obrigkeit, sondern ein Un-Staat der vollendeten Willkür und Gewalt ist, ausdrücklich begründet. Wenn anders die Wiederherstellung des Rechts nicht möglich ist, betrachtet Luther die ›Gegenwehr wider die Bluthunde [als] nicht aufrührerisch‹[12] Denn sie zerstört nicht das Recht. Die Gegenwehr wird entsprechend der späteren klassischen demokratischen Funktion des Widerstandsrechts dazu eingesetzt, die Rechtsordnung wiederherzustellen – wie dies auch in der geplanten, von Goerdeler konzipierten Regierungserklärung der Männer des 20. Juli zum Ausdruck kam.«[13]

Martin Luther stellt die Gebote Gottes über den Staat und begründet damit ein Recht auf Gehorsamsverweigerung, wenn der Staat nicht gottgefällig handelt. Luther schreibt: »Wie, wenn ein Fürst unrecht hätte, ist ihm sein Volk dann auch schuldig zu folgen? Antwort: Nein. Denn gegen das Recht gebührt niemand zu tun; sondern man muß Gott (der Recht haben will) mehr gehorchen als den Menschen.«[14] Auch vor einer Antwort auf die Frage, »ob es erlaubt sei, einen Tyrannen zu töten, der gegen Recht und Ordnung willkürlich lauter Böses tut«, schreckt Luther nicht zurück. Er schreibt: »[W]enn [der Tyrann] einem sein Weib, dem anderen die Tochter, dem Dritten sein Feld und Gut und noch einem anderen sein Haus und sein Besitz wegnähme und die Bürger könnten seine Gewalt und das Schreckensregiment nicht länger ertragen und sie verschwören sich untereinander, dann dürften sie ihn umbringen.«[15]

Auf eine wichtige Einschränkung zu Martin Luther muß hingewiesen werden. Als sich die Bauern nicht zu letzt aufgrund Luthers Wirken gegen die Obrigkeit auflehnten und es zu Bauernaufständen kam, wandte sich Luther gegen die Bauern und forderte, daß sie die Waffen niederlegen. Die Obrigkeit sei gottgewollt, sagte er, ein Aufstand gegen die Obrigkeit sei deshalb ein Aufstand gegen Gott. Trotz ausformuliertem Widerstandsrecht hielt Luther im Gegensatz zu Thomas Müntzer an der Erbsündenlehre und der Augustinischen Lehre von der Aufteilung der Welt in zwei Reiche (civitas dei und civitas terrena)[16] fest. Nach diesen Lehren ist das Gute und das Böse im Menschen derart ineinander verschränkt, daß der Mensch nicht imstande ist, gut und böse voneinander zu scheiden. Folglich sei es auch nicht die Angelegenheit des Menschen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten. Dies bleibe einzig und allein göttlichem Eingreifen vorbehalten.[17]

Thomas Müntzer – von der zu dieser Zeit üblichen Endzeitstimmung und der Erwartung des Jüngsten Gerichts angetrieben – sprach dem Menschen genau diese göttliche Macht zu, sich selbst zu erlösen, indem er das Reich Gottes auf Erden errichtet. Er kämpfte auf Seiten der Bauern gegen die Obrigkeit und wurde 1525 gefangengenommen, gefoltert und enthauptet. Für Ernst Bloch ist Müntzer die bessere revolutionäre Tradition als Luther, weshalb er ihn zu einer zentralen Leitfigur seiner Philosophie gemacht hat. Für Helmuth Plessner ist Luther wiederum dafür verantwortlich, daß auf deutschem Boden – im Gegensatz zur calvinistischen Tradition in England und den Niederlanden sowie zur römisch-katholischen Tradition in Frankreich – die Kultur der Aufklärung sich nicht wirkmächtig verankern konnte.[18] Man kann daraus ableiten, daß wenn sich Thomas Müntzer statt Martin Luther als geistige Tradition durchgesetzt hätte, es in Deutschland vermutlich nicht zu einer verspäteten Nationalstaatsbildung und damit zum Weg in die Katastrophe gekommen wäre.

In England und den Niederlanden sowie in Frankreich bewirkte die Aufklärung in ihren Anfängen, d.h. in der Gestalt der Naturrechtsphilosophie von Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau einen moralischen Zerfall der Erbsündenlehre, d.h. ein Ende der theologischen Dialektik: Hobbes geht vom Bösen und Rousseau geht vom Guten im Menschen aus. Für diesen müssen die Verhältnisse ins natürliche Recht gesetzt werden, damit der Mensch seiner Natur gemäß gut sein kann; für jenen muß der Staat den Menschen daran hindern, seiner Natur gemäß böse zu sein. In beiden Fällen tritt der Mensch als Demiurg des Wirklichen in Erscheinung und läßt sich nicht mehr davon abhalten, daß solches Handeln allein dem Göttlichen vorbehalten sei. Die Abkehr von der Augustinischen Lehre war gleichsam Ausdruck oder Voraussetzung für die Entwicklung bürgerlichen Selbstbewußtseins.

Explizit bei Hobbes gibt es ein Recht auf Widerstand, daß gegen den Staat gerichtet ist und zur Anwendung kommt, wenn dieser nicht mehr imstande oder gewillt ist, die Interessen der Allgemeinheit zu wahren und für Sicherheit zu sorgen. In einem solchen Fall werden Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag hinfällig. Wenn die eine Seite ihre vertragliche Verpflichtung nicht mehr einhalten kann (Schutz), muß die andere ihre Verpflichtung auch nicht mehr einhalten (Gehorsam). Der Naturzustand des bellum omnium contra omnes in Gestalt des Bürgerkriegs kehrt zurück.

In Anlehnung an die Naturrechtsphilosophie formuliert Herbert Marcuse in den sechsziger Jahren ein »Naturrecht auf Widerstand« für unterdrückte Minderheiten: »(.) ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein Naturrecht auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen – nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen. Es gibt keinen anderen Richter über ihnen außer den eingesetzten Behörden, der Polizei und ihrem eigenen Gewissen. Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltsamkeit zu predigen.«[19]

Zur Bedeutung des Widerstandsrechts heute

Was sagt uns das Widerstandsrecht und das Recht auf den Tyrannenmord heute? Seine Bedeutung erscheint auf drei Gebieten höchst relevant: 1.) In Bezug auf die Mißachtung des Völkerrechts und des im Grundgesetz niedergeschriebenen Verbots von Angriffskriegen; 2.) in Bezug auf die Aushöhlung des Rechtsstaates und der freiheitlichen Grundordnung, die sukzessive in einen autoritären Überwachungsstaat übergeht; und 3.) in Bezug auf die Zerstörung des Sozialstaates (z.B. Hartz IV als Einstieg in die Zwangsarbeit).

Eines aber ist wichtig zu beachten, um keinen folgenreichen Fehlschluß zu begehen: Deutschland ist kein Unstaat, auch wenn der Rechts- und Sozialstaat in beängstigenden Ausmaßen ausgehöhlt wird und ein Innenminister als Verächter der Verfassung in Erscheinung tritt. Auch wenn Deutschland sich an völkerrechtswidrigen Kriegen beteiligt. Es gibt keinen Tyrannen, kein Chaos, keine Herrschaft der Gesetzlosigkeit, »welche die Rechte und die Würde des Menschen verschlungen hat«, um die Worte von Franz Neumann zu gebrauchen, mit denen er das NS-Unrechtsregime als Behemoth beschreibt.[20]

Ist das alles aber wirklich so eindeutig? Auch wenn es keinen Tyrannen gibt, den man ermorden dürfte, so ist die Frage nach dem Widerstandsrecht damit nicht abgegolten. Was, wenn in Deutschland schrittweise, langsam und allmählich die Verfassungspositionen zurückgenommen werden, sich der Staat von seiner freiheitlichen, demokratischen Grundordnung verabschiedet und sich die Republik schleichend in einen autoritären Staat verwandelt? Für jeden dieser Schritte der sukzessiven Zerstörung unserer freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundordnung könnte man konkrete Personen mit Namen und Adresse nennen. Aber jeder dieser einzelnen Schritte wäre für sich genommen noch keine radikale Abkehr von der freiheitlichen Grundordnung. Ab wann aber ist die Grenze überschritten, der qualitative Sprung in den autoritären Staat erreicht? Ab wann kann man, ab wann darf man und ab wann muß man von seinem Widerstandsrecht Gebrauch machen?

Heiligt der Zweck niemals oder stets die Mittel? Das Widerstandsrecht obliegt immer einer Verhältnismäßigkeitsabwägung: Solange, wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt, rechtfertigt der Zweck die Mittel. Dies um so mehr, wie wir in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft mit einer rechtsstaatlichen Ordnung leben, die eine Voraussetzung für den politischen Kampf ist. Politische Streiks, ziviler Ungehorsam etwa in Form von Blockaden oder des Übertretens von Demonstrationsverboten, selbst offensivere Formen des Widerstandes wie Steuerboykott oder Besetzungen von Arbeitsämtern sind oder wären durch das im Grundgesetz abgesicherte Widerstandsrecht legitimiert und verhältnismäßig.

Eigentlich ist das alles nicht so kompliziert. Das Grundgesetz und das Strafgesetzbuch müßten nur zur Anwendung kommen. Dann wäre Widerstand gemäß Artikel 20, Absatz 4, Grundgesetz nicht nötig.

Etwa für die Vorbereitung und Durchführung von Angriffskriegen oder die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen gibt es im Grundgesetz einen eigenen Artikel, der solches verbietet und unter Strafe stellt. In Artikel 26, Absatz 1 heißt es: »Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« Paragraph 80 des Strafgesetzbuches bestimmt die Art und Höhe der Strafe: »Wer einen Angriffskrieg, an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein soll, vorbereitet und dadurch die Gefahr eines Krieges für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe oder mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren bestraft.« Die Höhe der Freiheitsstrafe ist nicht zufällig mit der Ahndung von Mord auf eine Stufe gestellt.

Anmerkungen:

[1] Vgl. UN-Charta, Artikel 2, Nr. 3: »Alle Mitglieder legen ihre internationalen Streitigkeiten durch friedliche Mittel so bei, daß der Weltfriede, die internationale Sicherheit und die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden.«; Artikel 2, Nr. 4: »Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.« – Charta der Vereinten Nationen, Kapitel I. – Das in Artikel 51 der UN-Charta festgehaltene »Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen«, auf das sich die USA nach dem 11. September 2001 im Kampf gegen den Terrorismus berufen, trifft nicht zu, da weder von Afghanistan noch vom Irak ein bewaffneter Angriff ausging und zum anderen der UN-Sicherheitsrat keine militärischen Maßnahmen zur Beendigung eines Konfliktes beschlossen hatte.

[2] Vgl. GG, Art. 25: »Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.«

[3] Vgl. auch Marcus Hawel: Die normalisierte Nation. Vergangenheitsbewältigung und Außenpolitik in Deutschland. Mit einem Vorwort von Moshe Zuckermann, Hannover: Offizin 2007.

[4] Vgl. BVerwG 2 WD 12.04, siehe auch Internet: www.ngo-online.de.

[5] »Nach der Aggressionsdefinition der Vereinten Nationen (Beschluß der UN-Generalversammlung vom 14. 12. 1974) handelt derjenige Staat völkerrechtswidrig, der auf seinem Hoheitsgebiet kriegsrelevante Aktionen für einen Angriff auf einen anderen Staat duldet. Artikel 25 des Grundgesetzes verbietet somit auch jede indirekte Beteiligung, etwa logistische oder finanzielle Unterstützung eines Aggressors gegen einen Drittstaat.« – isw-spezial, Nr. 18, S. 12.

[6] Vgl. auch Claudia Fröhlich: Wider die Tabuisierung des Ungehorsams. Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 13, Frankfurt am Main: Campus 2006.

[7] Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004, S. 313f.

[8] Fritz Bauer: Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften, Hrsg. v. Joachim Perels und Irmtrud Wojak, Frankfurt am Main 1998, S. 177.

[9] Vgl. Bauer, a.a.O., S. 41.

[10] Gustav Radbruch: Einführung in die Rechtswissenschaft, Leipzig 1929, S. 212f. – Zitiert nach Perels, a.a.O., S. 312.

[11] Bauer, a.a.O., S. 37.

[12] Martin Luther: Warnung an seine lieben Deutschen (1531), in: Luthers Werke, Bd .4, hrsg. v. Otto Clemen, Berlin 1950, S. 201.

[13] Perels, a.a.O., S. 280; vgl. Carl Friedrich Goerdeler: Entwurf einer Regierungserklärung (3. Fassung), in: 20. Juli 1944, hrsg. v. Hans Royce, Erich Zimmermann und Hans-Adolf Jacobsen, Bonn 1952, S. 167ff.

[14] Martin Luther: Von weltlicher Obrigkeit, in: Werke, Bd. 7, hrsg. v. Kurt Aland, Göttingen 1991, S. 48.

[15] Martin Luther: Tischgespräche, in: Werke, Bd. 9, hrsg. v. Kurt Aland, Göttingen 1991, S. 192.

[16] Vgl. Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat, München 1978.

[17] Vgl. Rainer Rotermundt: Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994, S. 27f.

[18] Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Frankfurt am Main 1974, S. 53-73.

[19] Vgl. Vgl. Herbert Marcuse: Repressive Toleranz, in: R.W. Wolff, B. Moore, H. Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a.M. 1965, S .127.

[20] Vgl. Franz L. Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (1942/44), hrsg. v. Gert Schäfer, Köln 1977, S. 16, 541ff.

Zur normalen Fassung


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sopos 5/2007