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Von Prekariat, Unterschicht, Subproletariat und dem Wunsch nach neuem Biedermeier

von Sven O. Cavalcanti (sopos)

Heikel und schwierig, Erlangung nur auf Bitten: Dies meint das Wort prekär seinem etymologischen Ursprung nach. Doch heikel und schwierig sind nicht endgültig – im Gegensatz zu bitter und unmöglich. Bei der Entdeckung des Wortes Prekariat wurde großen Wert auf die Durchlässigkeit des sozialen Status gelegt. Suggeriert werden soll, was in der Wirklichkeit nicht möglich ist: Der Aufstieg im System. Als wäre er die Regel gewesen und die Verfestigung der Klassen heute nur ein historisches Zeitfenster, in dem heikle und schwierige Situationen zu meistern sind – so geriert sich die sozialdemokratische Forschung in Form des Institut "TNS Infratest Sozialforschung" beim Blick auf Gesellschaft. Unfreiwillig wahr sprechen sie, wenn ihre Studie den Titel trägt: "der deutschen Gesellschaft im Reformprozess". Unter Reform war einmal – auch unter Sozialdemokraten – politische Aktion zur Hebung des Lebensstandards der Unteren unter Beibehaltung des ökonomischen und politischen Systems verstanden. [1] Die Reformen der letzten zehn Jahre haben das Gegenteil bewirkt: Verelendung und Ausweitung der Unterschicht zugunsten der Oberen.

Der Wahrheit des Titels vom "Reformprozeß" steht eine Gleichsetzung von Reform und Verelendung gleich – er rekurriert unbewußt auf die herrschende Umdeutung des Reformbegriffes. Was einst noch Progressives in sich barg, sei es auch noch im Ehrhardschen Sinne vom "Wohlstand für alle", bezeichnet heute die Verfestigung der Gegensätze innerhalb dessen, was Marx einst als Proletariat bezeichnete. Auch er benutze bereits die Unterscheidung zwischen Proletariat und Lumpenproletariat – doch im marxschen Werk differierte die Zugehörigkeit zum einen oder andern Milieu gewaltig. Dennoch hielt er die Unterscheidung grundsätzlich aufrecht. Pasolini versuchte später mit dem Begriff des Subproletariats ähnliches zu fassen, indem er mit diesem Begriff jene, die in der italienischen Peripherie ohne Aussicht auf Arbeit und besseres Leben vegetierten, bezeichnete. Seine "vita violenta" gibt davon Zeugnis, auch von der Gewalt aus Mangel, die diese kleinen Leben erfüllte und denen er schließlich selbst zum Opfer fiel.

Kurz: Der Begriff der Reform hat seinen ursprünglichen, sozialdemokratischen Inhalt verloren und ist umgedeutet. Gleich Orwellschem Neusprach hält sich im politischen Milieu das Münchhausenmärchen der Reform vom gleichzeitigen Wohlergehen der Wirtschaft und dem Wohlergehen aller. Banaler und historisch wahrer gesprochen, wäre es zu sagen: "Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es der Wirtschaft gut." In diesem bewußt unausgesprochen Sinne werden die "Lebenswelten" des " TNS Infratest Sozialforschung" denn auch konform bezei chnet, um ihnen die Spannung von Klassenkonflikten zu nehmen: "Leistungsindividualisten" (11 Prozent der Bevölkerung), "etablierte Leistungsträger" (15%), "kritische Bildungseliten" (9%), "engagiertes Bürgertum" (10%), "zufriedene Aufsteiger" (13%), "bedrohte Arbeitnehmermitte" (16%), "selbstgenügsame Traditionalisten" (11%), "autoritätsorientierte Geringqualifizierte" (7%) "abgehängtes Prekariat" (8%) [2]. Der Verzicht auf die großen Trennlinien in der Gesellschaft – aufgehoben im Klassenbegriff – steht symbolisch für die gegenwärtige Sozialforschung: Was falsch benannt ist, läßt sich schlecht beim Namen nennen.

Im Prekariat steckt precarium , "ein bittweises, auf Widerruf gewährtes Besitzverhältnis" [3]. Anders gesagt: Aus Recht wird Gnade. Vom Menschenrecht auf erfülltes Leben, auf Glück, bleibt die Gnade des Dankes nicht an Hunger leiden zu müssen – immerhin mehr als ein großer Teil der Afrikaner heute von sich sagen kann – dennoch haftet dieser Gnade unerträgliches in einer Gesellschaft an, die, gemessen am Stand der Technik, so viel mehr könnte. So wie "Lebenswelten" euphemistisch für Klassenantagonismen steht, so "abgehängtes Prekariat" für Unterschicht, Lumpenproletariat oder besser: Subproletariat. Beleidigend ist es, jemanden Lumpen-, Subproletarier oder Unterschichtler zu schimpfen – kein gutes Label unter dem zu organisieren ist, doch gleichermaßen kann es nicht nur um die Befindlichkeit der Bennennung, sondern um die des realen Elends gehen. Jemanden aufgrund seiner Befindlichkeit nicht diskriminiert zu nennen, sondern mit Euphemismen zu schmücken, kaschiert das Elend mehr, als das es aufklärt: Benannt muß etwas sein, damit man es beim Namen nennen kann. Der Skandal ist nicht das Wort von der Unterschicht oder des Subproletariats, sondern deren Existenz.

Die Debatte, was benannt werden soll und was benannt werden darf, korrespondiert mit einem Phänomen, was als Neobiedermeier bezeichnet werden kann. "Neo", weil der Humor des alten Biedermeiers fehlt. Im alten "Buch Biedermeier" von Ludwig Eichrodt und Adolf Kußmaul sowie von ihrem Vorbild, dem "alten Dorfschulmeister" Samuel Friedrich Sauter steckt verborgene, bissige Ironie und ein sichtbarer Sinn nach organisierter Triebabfuhr des Kleinbürgers. Im Gedicht "Bürgersinn" heißt es:

"Die Nacht ist für den Schlaf bestimmt, / Es hat mich oft schon umgekrümmt, / Wenn immer noch nach zehn / Leut' auf den Straßen gehn. / Mein Spitzlein bellt schon froh voraus, / Ja Spitz, nun gehen wir nach haus. / Die Zeche ist bezahlt / Und mein Laternlein strahlt." [4]

Das Licht des kleinen Lebens korrespondierte mit dem Mißtrauen gegenüber freiem Denken und freier Existenz, jedoch von feiner Ironie untermalt: Die Angst vor den Leuten "nach zehn" ist gepeinigte Angst, der "Spitz" liefert das Motiv doch noch zu schauen, was die Anderen denn so treiben: Die Tugend bedarf der Sünde für ihr eigenes Glück. Im "Buch Biedermeier" ist fein herauszulesen, mit welcher unglaublicher Triebsublimierung der Spießer sein Dasein fristet und von welchen Fantasien er lebt und sich nährt. Oft hat's den Schlaf gekrümmt, all die Phantasien über die Anderen, doch nun – dem Hund sei Dank! – gibt es einen Grund herauszugehen, zu überwachen, zu spitzeln und zu phantasieren – die eigene Zech ist ja bezahlt und das "Laternlein" (was immer sich psychoanalytisch dahinter verbergen mag) strahlt voll der Wonne, teil zu haben, am Draußen und der Möglichkeit das eigene kleine Leben zu überschreiten. Soviel zum alten Biedermeier, der auch existierte, bevor er benannt wurde. Die Gedichtsammlung des "Biedermeier" stellt ein Sammelsurium feinster Ironie bereit, die nicht verhehlte: "Das Verhängnis scheint den Untergang des Geschlechtes der Biedermeier unabwendbar beschlossen zu haben." Sie gehörte "zu den fossilen Überresten jener vormärzsündflutigen Zeiten, wo Deutschland noch im Schatten kühler Sauerkrauttöpfe gemütlich aß, trank, dichtete und verbaute und das Übrige Gott und dem Bundestag anheim stellte”.

Anders gesagt: Die schlechte Wirklichkeit wurde als eine dargestellt, die im Beiwerk auf den Verfehlungen des Subjektes beruhte, jedoch hauptsächlich als Karikatur des Spießers angelegt war: der unbewußten Karikatur des Subproletariats – dieselbe Taktik wie in der Gegenwart, jedoch mit unterschiedlicher Ausprägung. Dem Idealbild des Biedermeiers stand in realitas eine zu große Masse an Armen, Verelendeten und aus der Gesellschaft ausgestoßenen entgegen, als daß sich ihre Wirklichkeit verleugnen ließe. Der Geist des "Biedermeiers" war subtile Ironie gegen eine politische Strategie, die danach ausgerichtet war, die Schuld am gesellschaftlichen Elend dem Einzelnen aufzubürden. Sein Verdienst liegt in der ironischen Dokumentation des Zeitgeists jener Werte, sie einzufangen und zu malen, um daraufhin ein Sittengemälde des sich der Autorität anpassenden Spießers zu entwerfen – er sollte literarisch transparent und politisch transpirierend gezeigt werden.

Heutiger Unterschicht ist kein "Biedermeier" mehr beschienen – ihr fehlt heute wie damals die materielle Substanz, um sich dem kleinen Glück hinzugeben und der Mut, das große Unglück politisch zu machen und sich zu organisieren. Nicht zu letzt steht ihr eine unironische Kulturindustrie entgegen, deren mütterliche Antwort auf "Ich will!", "Du Darfst – Leberwurst, Butter, Marmelade, etc." ist und deren Mantra denn da lautet: "Papi, wenn ich mal groß bin, werde ich auch Spießer" – ohne Ironie, nur mit Mitleid gegenüber jenen, die sich nicht in "Fickzellen mit Fernwärme" (Heiner Müller) einsperren lassen wollen. In diese Zeit paßt auch das selbstreferenzielle Buch der Nachrichtenvorleserin Hermann "Das Eva-Prinzip" – letztlich Ausdruck des Personals der herrschenden Journaille. Dieses zumindest wird sich in zwei Monaten auf den Grabbeltischen der Antiquariate, dann für einen Euro auch für die Unterschicht zu haben, einfinden. Das hätte fast etwas vom alten Biedermeierhumor – wenn es nicht für zu viele ein Stundenlohn wäre.

Die Unterschicht ist nicht prekär, prekär ist die Existenz der Unterschicht. Die Reden von "Fördern und Fordern", mit denen die finale Enteignung des Subproletariats eingeläutet wurde, stehen für politisches Alibi: Die Praxis des westlichen Welt besteht längst in der Verewigung des Abhängens jener, die von Abgehängten abstammen. Die Durchlässigkeit der Klassen ist zur Ideologie verkommen: Bereits Bourdieu hat nachgewiesen, wie es um die Durchlässigkeit des Systems bestellt ist.

Die gegenwärtige Beachtung des Subproletariats wird im herrschenden Diskurs so schnell vorbeiziehen, wie die Journaille ihre Kameras packt, um zum nächsten Schlachtplatz der herrschenden Meinung zu ziehen. Für sie gilt das Wort Dürrenmatts: "Niemand köpft leichter als jene, die keine Köpfe haben." Das Subproletariat bleibt. Aber es wird weiter all jene großen Tragödien des kleinen und alltäglichen Lebens produzieren, deren Tragik eben darin schmort und selten brodelt. Und wenn es einmal brodelt, gärt und ihre kulturindustriell genährten repressiven Träume überkochen, weil sie eigentlich weich gekocht werden sollten und der Topf überquillt, dann so geistlos und klein, wie sie von den herrschenden Eliten von jeher gemacht wurden. Sicher ist, daß ihnen das Feuer unterm Arsch brennt: Welches Gericht serviert wird – braune Sauce ist schnell gemacht –, hängt nicht zuletzt davon ab, wem überhaupt das Kochen beigebracht wurde.

Fußnoten

[1] Es fand sich allerdings auch Elementareres als jenes, was heute unter Reform verstanden wird, darunter: Ausweitung der politischen Partizipation, Abschaffung des Klassenwahlrechts, Frauenwahlrecht, Mitbestimmung, etc.

[2] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,447643,00.html

[3] Lateinisch-deutsches Handwörterbuch: precarius, S. 1. Digitale Bibliothek Band 69: Georges: Lateinisch-deutsches Wörterbuch, S. 44771 (vgl. Georges-LDHW Bd. 2, S. 1909)

[4] http://www.giorgioproductions.com/biedermeier/bied0001.html

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https://sopos.org/aufsaetze/45b39acf8cadb/1.phtml

sopos 1/2007