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[Naher Osten]


Die Möglichkeit des Schlimmsten

Interview mit Gerhard Scheit über Israel-Solidarität, islamistische Rackets und Antisemitismus

von Thomas Binger


Einfach so von einer Lösung zu sprechen, heißt immer auch übersehen, daß der Antisemitismus in einer Welt, in der Kapital und Staat herrschen, nicht abgeschafft werden kann.

Im Rahmen der Konferenz »Es geht um Israel« riefen Anfang Mai in Berlin »antideutsche Gruppen« zur bedingungslosen Solidarität mit Israel auf. Gibt es für die Linke keine andere Option, als das Vorgehen der aktuellen israelischen Regierung kritiklos zu unterstützen?

Gerhard Scheit: Es ist sehr beklemmend, daß es nicht mehr solcher Veranstaltungen gibt, bei denen – durchaus kontrovers – über den wachsenden Antisemitismus diskutiert wird und in denen nach Möglichkeiten gesucht wird, die Solidarität mit Israel konkreter zu machen. Insbesondere angesichts einer Linken, die die palästinensischen Selbstmordattentate als Verzweiflungstaten darstellt und den sich in ihnen ausdrückenden antisemitischen Vernichtungswahn ausblendet, war diese Veranstaltung sehr wichtig und hat die richtigen Fragen gestellt.

Was die Formulierung von der unbedingten Solidarität mit Israel betrifft, so erscheint sie zwar als positives politisches Programm. Dennoch geht es dabei vor allen Dingen um eine »negative« Aufgabe, nämlich die kritische Analyse und den Kampf gegen Erscheinungen, die den Antisemitismus befördern oder verharmlosen. Was darüber hinaus an wirklich positiver Parteinahme möglich ist, ist natürlich sehr oft nicht mehr als eine gewisse Provokation – ist gerade darin aber so wichtig. Man darf außerdem nicht vergessen, daß wir uns nicht in einer Position befinden, in der Entscheidungen darüber getroffen werden, was gegen die Selbstmordattentate politisch getan werden kann.

Wenn von »unbedingter Solidarität« die Rede ist, schließt das für mich die Solidarität mit dem militärischen Vorgehen der israelischen Regierung ein. Begründen Sie das damit, daß Israel trotz seiner militärischen Stärke aktuell in seiner Existenz bedroht ist?

Israel ist unmittelbar bedroht durch die wachsende Anzahl der Selbstmordattentate sowie durch die technischen Möglichkeiten bei den modernen Massenvernichtungswaffen in den arabischen Staaten. Israel ist der Zufluchtsort der vom Antisemitismus Bedrohten: daraus begründet sich die unbedingte Solidarität.

Die Gründung eines palästinensischen Staates wurde auf der Konferenz als autoritäres und antisemitisches Projekt verurteilt. Was aber wäre im Hinblick auf eine politische Lösung des Konfliktes die Alternative zum Zweistaatenmodell?

Die Einschätzung der palästinensischen Staatsgründung als antisemitisches Projekt reflektiert natürlich die Erfahrungen, die seit den 90er Jahren gemacht werden konnten – der Aufbau der Infrastruktur des Suicide Bombing in den Autonomiegebieten. Hier wurden ja die Grundlagen dafür gelegt, daß die vielen Selbstmordanschläge stattfinden können. Die Forderung nach einer Lösung des Nahost-Konflikts erscheint mir mehr als verkürzt. Zum einen entspricht die Annahme einer unmittelbar gegebenen Lösungsmöglichkeit nicht dem, was dort real im Augenblick geschieht. Zum anderen wird Israel immer ein gefährdeter Staat sein, so daß es für Israel keine Lösung im eigentlichen Sinn gibt. Einfach so von einer Lösung zu sprechen, heißt nämlich immer auch übersehen, nicht wahrhaben wollen oder verleugnen, daß der Antisemitismus in einer Welt, in der Kapital und Staat herrschen, nicht abgeschafft werden kann.

Aber die Frage ist doch, wie man aus der militärischen wieder in eine politische Logik kommen kann.

Natürlich ist irgendwann der Ausstieg aus der militärischen Strategie und der Einstieg ins Politische nötig. Die Frage ist nur, wann und unter welchen Bedingungen. Mit den Fragestellungen und mit der Kritik, die wir formulieren können, scheint es mir im Augenblick allerdings nicht möglich zu sein, auf so etwas wie eine relative Lösung – und das kann also nur heißen: eine möglichst dauerhafte Beruhigung – hinzuwirken. Es geht vor allem darum, die Möglichkeit des Schlimmsten aufzuzeigen.

Die antideutsche Linke spricht vom »islamischen Faschismus«. Ist diese Gleichsetzung von Islamismus und Faschismus/Nationalsozialismus berechtigt?

Die Diskussion um den Begriff des islamischen Faschismus erweist erneut die Problematik des Faschismusbegriffs. In der Geschichte der Linken zeigt sich, daß er immer auch dazu gedient hat, die Besonderheit des Nationalsozialismus, die Bedeutung des Antisemitismus und die Ausrichtung des Nationalsozialismus auf die totale Vernichtung zu verdecken. Die Gleichsetzung der verschiedenen faschistischen Systeme in Europa hat zu einer beträchtlichen Unschärfe beigetragen. Der Faschismusbegriff hatte quasi die Funktion der Totalitarismustheorie für die Linke, eben weil er die Shoah ausgeblendet hat. Insofern ist der Faschismusbegriff auch problematisch, wenn man ihn unmittelbar auf den politischen Islamismus der Gegenwart anwendet. In der Betrachtung dieses Phänomens kommt es ja gerade darauf an, die Bedeutung des Antisemitismus darin näher zu bestimmen. Gerade der Faschismusbegriff ist also weniger geeignet, die Kontinuitäten zu bestimmen, die vom Nationalsozialismus zum politischen Islamismus führen.

Gibt es denn eine direkte Linie vom Nationalsozialismus zum Islamismus? Der Nationalsozialismus war ja auch Ausdruck des Strebens einer Großmacht nach Weltherrschaft. Bei den islamistischen Gruppen handelt es sich aber eher um eine Warlordisierung bestimmter Regionen, um ein Bandenwesen, für das Sie den Begriff des Rackets benutzen.

Die Verbindungslinien kann man in der Analyse der Ideologien herausarbeiten. Ich denke da etwa an diesen Opfermythos, der sowohl im Faschismus und im Nationalsozialismus als auch im Islamismus kultiviert wird – also das eigene Leben einem Staat zum Opfer bringen, ob es den schon gibt oder noch nicht. Im Vollzug des Opfers ist er jedenfalls schon verinnerlicht. Das ist natürlich etwas, das im Faschismus ganz allgemein und im Nationalsozialismus im Besonderen von einer im Vergleich zu anderen Gesellschaftsformen außerordentlichen Bedeutung ist und jetzt eben im politischen Islamismus wiederkehrt, allerdings mit stark religiösen Konnotationen.

Andererseits zeigt sich hier die Grenze eines Ideologiebegriffs, der sich auf die Analyse der Propaganda beschränkt und davon abstrahiert, in welcher Form diese Ideologie produziert wird und welche Handlungen aus ihr folgen. In diesem Zusammenhang hat der Begriff des Rackets – nicht unbedingt etwas Neues – eine Schlüsselstellung. Er läßt sich im Sinne Max Horkheimers verwenden, um ein monolithisches Bild des Nationalsozialismus zu konterkarieren, um darauf hinzuweisen, daß dieser Staat eigentlich aus verschiedenen konkurrierenden »Banden« bestand, die im Konkurrenzkampf gegeneinander die Vernichtung vorantrieben und auch die Ideologie dazu produzierten. In diesem fortwährenden Gegeneinander der verschiedenen Gruppierungen hat sich eigentlich erst der nationalsozialistische Vernichtungswahn entfaltet. Der ständige innere Konkurrenzkampf war immer nur die andere Seite der totalen Integration zur Volksgemeinschaft und ihrer Ausrichtung auf das allen gemeinsame Feindbild des Judentums. Das Ganze blieb dabei in das Gewaltmonopol des Staates eingebunden und konnte so nach außen hin diese totale Vernichtungsanstrengung realisieren.

Hier ist aber auch der Unterschied zum Suicide Bombing der verschiedenen Rackets zu sehen, ob die jetzt Hamas, Hisbollah, PFLP oder Al-Qa´ida heißen. Sie stehen offensichtlich in einem anderen Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates als die NS-Gruppierungen. Sie bleiben sozusagen eine privatisierte Form der Vernichtung. Sie realisieren sie nicht mit denselben Mitteln, mit demselben ökonomischen Potenzial, das dem Nationalsozialismus zur Verfügung stand. Und hier zeigt sich auch, daß man nicht abstrahieren kann von den sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnissen in den Heimatländern des politischen Islamismus.

Die Analogie zwischen Nationalsozialismus und politischem Islamismus greift zu kurz, wenn sie davon absieht, daß es sich hier um völlig unterschiedliche Gesellschaften handelt, auch wenn von ihnen durchaus ideologisch verwandte Phänomene ausgehen können. Die einzelnen Rackets in den armen, in sich zerfallenen Regionen können sich nicht im selben Maß zu einem einheitlichen Staat verallgemeinern; die Staaten selbst haben nicht die Kraft, einen Vernichtungskrieg durchzuziehen, sondern unterstützen wiederum Rackets im Ausland. Wenn etwas diese zersplitterten Bewegungen und Rackets, diese voneinander erheblich differierenden und einander befehdenden Staatengebilde einen kann, dann ist es allerdings das Feindbild Israel. In dieser ideologischen Funktion besteht letztlich auch die permanente Gefahr, die Israel droht.

Der Streit in der Linken in Deutschland und Österreich drehte sich in den vergangenen Monaten ganz zentral um das Thema Antisemitismus. Wird der Antisemitismus zum neuen Hauptwiderspruch antideutscher Gesellschaftskritik?

Die Einteilung gesellschaftlicher Probleme in Haupt- und Nebenwidersprüche führt immer dazu, das Ganze aus dem Blick zu verlieren. Aber der Antisemitismus ist etwas, an dem die Einheit des Ganzen – also zugleich: was falsch ist am Ganzen – auf den Begriff gebracht werden kann. Dieser Antisemitismus kann die verschiedensten Formen annehmen, z.B. die in der Linken sehr verbreitete Vorstellung, daß es neben dem produktiven, bodenständigen Kapital ein internationales Finanzkapital gäbe, das alles dominiere und das produktive Kapital negativ beeinflusse. Der Antisemitismus läuft immer darauf hinaus, das Geld in der phantasierten Figur des Juden zu verkörpern und somit Vorstellungen des falschen Bewußtseins zu personifizieren. Der Endpunkt ist erreicht, wenn es gelingt, in der physischen Vernichtung dieser Personifizierung das Heil zu sehen. Das ist der antisemitische Vernichtungswahn.

Läßt sich diese Rede vom antisemitischen Vernichtungswahn noch mit einer materialistischen Analyse von internationalen Herrschaftsverhältnissen und ökonomischen Interessen vermitteln?

Diese Verbindung ist nicht nur möglich, sondern notwendig. Ich denke an den Begriff der pathischen Projektion aus der ‘Dialektik der Aufklärung’ von Horkheimer und Adorno: Er bringt ja die Entstehung solcher falschen Vorstellungen in den Zusammenhang mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, mit den verschiedenen Anforderungen, die die repressiven Formen dieser Gesellschaft an das Individuum stellen. Weil man gegen das Judentum kämpft, glaubt man sich im Widerspruch zu dieser Gesellschaft, während man in Wahrheit in tiefstem Einverständnis mit ihr steht. Sobald man Antisemitismus in diesem umfassenden gesellschaftlichen Sinn versteht, ist es auch nicht möglich, in der Kritik des falschen Bewußtseins und dessen antisemitischer Zuspitzung von realen sozialen Entwicklungen und politökonomischen Prozessen zu abstrahieren. Da muß die Ideologiekritik erkennen, daß sie nur dann Kritik bleibt, wenn sie ihre eigenen Grenzen kennt. Ideologiekritik gibt es nur, weil nicht alles Ideologie sein kann. Aber gerade Antisemitismus kann darum nicht aus einem einzigen solcher Prozesse – etwa der Entstehung des zinstragenden, »wuchernden« Kapitals – abgeleitet oder kausal erklärt werden, sondern ist immer nur im Bezug aufs Ganze zu durchleuchten. In diesem Sinne ist er so wenig zu »erklären«, wie erklärt werden kann, warum das Ganze als das Unwahre überhaupt existiert.


Gerhard Scheit ist Kulturwissenschaftler und lebt in Wien. Zuletzt erschien von ihm: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001. Mit ihm sprach Thomas Binger.

Der Artikel erschien zuerst in der Nr. 263 der iz3w - blätter des informationszentrums 3. welt.

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sopos 9/2002