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Vom großen Globalisierungsbetrug

Oskar Negts neues Buch "Arbeit und menschliche Würde"

von Marcus Hawel (sopos)


Die Ideologie der Globalisierung, die auf den Liberalismus von Adam Smith zwar zurückgeht, ist von allen guten Geisterhänden verlassen.

Das neue Buch von Oskar Negt über "Arbeit und menschliche Würde" ist eine intellektuelle wie politische Herausforderung. Wer seine Reden, Vorlesungen, Zeitschriftenaufsätze und Bücher kennt, wird darin auch viel Bekanntes finden. Seine Überlegungen sind, so schreibt er selbst, keine Schreibtischgeburt, sondern "das Ergebnis einer mehr als zwei Jahrzehnte umfassenden, durch Bruchstellen, Niederlagen und Erfolge in gleicher Weise gekennzeichneten Kampfsituation." Es ist mit seinen fast 750 Seiten etwas dicker ausgefallen als wohl ursprünglich beabsichtigt, aber es ist nicht nur deswegen ein starkes, vielgesichtiges Buch, das mithin auch den Titel "Vom großen Globalisierungsbetrug" hätte tragen können, oder: "Bausteine für eine Ökonomie des Gemeinwesens". Die Bausteine legt Oskar Negt in fünf Kapiteln vor, von denen jedes soviel brisanten Zündstoff enthält, daß es sich die regierenden Sozialdemokraten vermutlich nicht wagen werden, es zu lesen.

Negts behandelt durchgängig die gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Aspekte der Arbeit, Arbeitslosigkeit und des Gemeinwesens. Das steht immer im Vordergrund, wenn er sich der auch noch im sogenannten Zeitalter der Globalisierung "durch Arbeit vermittelten menschlichen Würde", der in der Gemeinwesenarbeit wieder zu ihrem Recht verholfen werden könnte, durch fünf konzentrische Kreise hindurch annähert. Das umfassende Problem der Massenarbeitslosigkeit mache diese Gedankengänge nötig, da es mit den klassischen Lösungsansätzen kaum zu beheben sei. Der Versuch durch gewerkschaftliches Handeln eine radikale Arbeitszeitverkürzung zu erzielen und damit die Fundamente des bestehenden Herrschaftssystems zu erschüttern, habe sich als nicht tragfähig erwiesen. "Den Erfindungsgeist eines Kapitalismus, dem durch den Zusammenbruch der Systemalternativen im Innern und im Weltmaßstab unerwartet hohe Legitimationsprofite zugewachsen sind", habe er (Negt) in früheren Publikationen bei weitem unterschätzt.

Die Konzernherren spielen Schicksal, als wären sie die Feldherren in einem umfassenden Krieg, in dem sie täglich einen Verlust von 50 000 Soldaten zu beklagen haben: es sind Menschen, die der Arbeitslosigkeit und damit der Verelendung überantwortet werden. Die Gesetzmäßigkeiten, nach denen gehandelt wird, sind angeblich durch den Sachzwang der Globalisierung vorgegeben. "Aber wer erläßt eigentlich die Gesetze, nach denen gejagt werden darf", fragt Negt im brechtschen Ton, "und wer hat ein Interesse daran?" Die Frage des cui bono - wem nützt es - zielt auf Ideologiekritik, die seit vielen Jahren als obsolet angesehen wurde - und auch heute ist die Antwort eigentlich transparent. Trotzdem ist der Neoliberalismus als Ideologie wirkmächtig. Beim wem? Nicht nur bei den Konzernherren, die als einzige profitablen Nutzen aus ihr ziehen können, sondern auch in den Gewerkschaften, die einen verzweifelten Abwehrkampf führen. Und bei den nun seit vier Jahren die Regierung bildenden Reformparteien, die "der Bevölkerung den Glauben vermitteln, man könne die friedliche Transformation der Arbeits- und Erwerbsgesellschaft ins Werk setzen, ohne die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse anzutasten". Nicht so sehr bei den Einzelnen, die täglich in die Arbeitslosigkeit geworfen werden und den großen Globalisierungsbetrug unmittelbar am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Nicht so sehr bei den noch in Lohn und Brot Stehenden, die wissen, daß sie die Leistungsethik schlucken und sich verhalten müssen, als habe Würde einen Preis. Denn so zynisch dieser Gedanke auch ist, er hat einen rationalen Gehalt: lieber ausgebeutet als nicht einmal ausgebeutet zu werden. Negt schreibt es so:

"Angstpotentiale entstehen gegenwärtig sowohl bei denen, die noch einen Arbeitsplatz haben und aus Angst, ihn zu verlieren zu vielen Opfergeschenken auf den Hausaltären der Unternehmer bereit sind, als auch bei der Millionenzahl von Menschen, die auf Dauer von gesellschaftlichen Anerkennungsprivileg der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind."

Die Angst, aus dem gesellschaftlichen Ganzen durch Arbeitsplatzverlust verbannt zu werden, vergiftet alle gesellschaftlichen Bereiche, sie macht gefügig und erhöht die Bereitschaft zur Anpassung und zum Ausgebeutetwerden. Angst ist ein schlechter Begleiter - es wäre nicht das erste Mal, wenn eine ganze Gesellschaft durchdreht und ver-rückt wird. Die Grundvoraussetzung für einen innergesellschaftlichen Friedenszustand liegt in der Aufhebung von Angst und Gewalt, die Negt als den Vorkrieg, d.h. als das, was dem richtigen Krieg vorausgeht, ansieht. Die Herrschenden aber führen keinen Kampf gegen den Vorkrieg, sie spekulieren statt dessen mit der Angst, um sich den erschöpften Legitimationsvorrat ihrer Herrschaftspositionen zurückzuholen. Sie gaukeln durch eine autoritäre Politik Sicherheit vor, weil sie wissen, daß Schutz das Urphänomen von Herrschaft ist und Angst das Bedürfnis nach Schutz nährt. In einem früherem Buch von Oskar Negt hieß es treffend: "Wirtschaftsliberalismus und autoritärer Staat schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander."

Die Ideologie der Globalisierung, die auf den Liberalismus von Adam Smith zwar zurückgeht, ist von allen guten Geisterhänden verlassen. Eine Ökonomie des ganzen Hauses findet keinen Anklang; das bloße Wuchern der Ökonomie löst von sich aus keine Probleme der Gesellschaft, im Gegenteil: sie richtet zu.

"Arbeitslosigkeit ist ein Gewaltakt. Sie ist ein Anschlag auf die körperliche und seelisch-geistige Integrität, auf die Unversehrtheit der davon betroffenen Menschen. Sie ist Raub und Enteignung der Fähigkeiten und Eigenschaften, die innerhalb der Familie, der Schule und der Lehre (...) in einem mühsamen und aufwendigen Bildungsprozeß erworben wurden und die (...) in Gefahr sind, zu verrotten und schwere Persönlichkeitsstörungen hervorzurufen."

Würde hat keinen Preis, schrieb Kant. Ihr Wert mißt sich an dem Nutzen für das Allgemeinwohl. Die Konzernherren, die hemmungslos mit dem Schicksal von Menschen spielen, verhalten sich würdelos, weil sie nicht die Menschheit in ihrer eigenen Person achten; sie nehmen damit die Würde eines jeden. Und was macht die Politik? Sie streicht den Sozialstaat zusammen. - Darüber kann man sich schon empören, auch wenn moralische Empörung "kein guter Ratgeber für sozialwissenschaftliche Begründungen" sei.

Der Ökonomie und Politik attestiert Negt also eine politische Verantwortungslosigkeit, wann aber hat sich jemals der Kapitalismus aus wirklicher Überzeugung verantwortlich gezeigt für das soziale Elend in der Welt? Ist nicht der europäische Sozialstaat ein temporäres Phänomen gewesen, daß vielleicht viel eher zu bewerten ist als ein Konkurrenzmodell zum Realsozialismus während der Phase des kalten Krieges? Mit dem Wegfall der bipolaren Weltordnung könnte auch der Sozialstaat seine Funktion verloren haben, und schon deswegen greift die kapitalistische Ökonomie, in das Gewand des Liberalismus gekleidet, wieder hemmungslos zu mit all ihren brutalen Ausbeutungsmechanismen und Verelendungstendenzen. Eine politisch wie sozial verantwortungsbewußte Ökonomie, läßt sich im Kapitalismus, in dem die egoistischen Partikularinteressen per definitionem in einem Konkurrenzkampf auf Leben und Tod zueinander stehen, nur sehr schwer denken. Für eine friedensfertige Welt müßte mehr her, aber um schlimmeres zu verhindern vielleicht nicht.

Bei dem Übermaß an Reichtum erscheint die Gesellschaft nicht reich genug. Es ist nur Schein, der gesellschaftliche Reichtum könnte besser verteilt werden - aber dem stehen die Interessen der Herrschenden entgegen. Das endgültige Ende der Arbeitsgesellschaft sei keineswegs in Sicht; Arbeit bleibt das konstituens dieser Gesellschaft, auch wenn oder gerade weil immer mehr Menschen arbeitslos werden. Aus der Verfügung über fremde Arbeitskraft resultiert Herrschaft, und deshalb ist auch die Massenarbeitslosigkeit alles andere als ein herrschaftsneutrales Problem.

"Wenn wir den gegenwärtigen Krisenzustand unserer Gesellschaft begreifen wollen, müssen wir zuerst einmal die Erkenntnis zulassen, daß die Arbeits- und Erwerbsgesellschaft zu einem gesellschaftspolitischen Kampfplatz geworden ist, auf dem die verfeindeten Positionen Kriegsziele definieren, Grenzen von Herrschaftsgebieten, Einflußsphären, Symbolbesetzungen und Privilegien festlegen."

Negt attestiert den letzten zwei Jahrzehnten eine im Maßstab der europäischen Zivilisationsgeschichte nie zuvor dagewesene grundlegende gesellschaftliche Veränderung. Die Verhältnisse sind objektiv revolutionär bei gleichzeitigem Tiefstand des Bewußtseins dafür - jedenfalls wenn man sich an den klassischen Umwälzungsphantasien des bürgerlichen Revolutionenmodells orientiert.

Aber es gibt jenseits dessen zunehmende Kritik und Widerstand gegen die kapitalistische Globalisierung, und Negt rechnet auch damit, daß der antikapitalistische Protest noch zunehmen wird. Dennoch seien es gegenwärtig vielfach "ohnmächtige Protestgefühle", die "noch keine positiven Ausdrucksformen für organisiertes politisches Handeln" gefunden haben, weil die "Jahrhundertidee des Sozialismus" durch Mißbrauch nahezu vollständig beschädigt worden sei. Die antikapitalistischen Gefühle, die sich hier in noch spontanen und manchmal hilflosen Protestformen ausdrücken, sollen einen "rebellischen Rohstoff einer historisch neuen Qualität" enthalten, weshalb Negt sich sicher ist, "daß sich in den nächsten Jahren organisierte Formen sozialer Bewegung entfalten werden."

Aber steht am Ende ein politisch und sozial funktionierendes Gemeinwesen?

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